plädoyer: Martin Schubarth, Sie haben als Bundesrichter sowohl die öffentliche wie die geheime Urteilsberatung erlebt. Waren die Urteile bei öffentlicher Beratung qualitativ besser?
Martin Schubarth: Als junger Anwalt erlebte ich die öffentliche Urteilsberatung in erstinstanzlichen Verfahren im Baselbiet, sogar in Scheidungsverfahren. Am Bundesgericht machte ich mit der öffentlichen Beratung Erfahrungen in der I. Zivilabteilung. Im Kassationshof in Strafsachen war die Beratung geheim. Ich könnte nicht in einer Absolutheit sagen, das eine oder das andere System habe zu besseren Urteilen geführt.
plädoyer: Beeinflusst die Zusammensetzung des Publikums den Ablauf der Beratung?
Schubarth: Ja. Wenn die Urteilsberatung öffentlich und ein grösseres Publikum anwesend ist, besteht die Gefahr, dass die Beratung nicht wie sonst üblich verläuft. Extrem war das in der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts. Studierende haben häufig die Sitzungen besucht. Mancher Bundesrichter hat dann seine Ader als verhinderter Professor nicht mehr verstecken können und zu den Studierenden doziert. Es wurde nicht mehr beraten. Der Charakter der Beratung ändert sich nach meiner Beobachtung, je nachdem, welches Publikum anwesend ist. Das halte ich für schlecht. Als ich Präsident des Kassationshofes in Strafsachen war, hatten wir relativ viele Sitzungen. Wir konnten sie kurzfristig ansetzen, weil sie nicht öffentlich sein mussten. Alle beteiligten Richter kannten bereits den Fall, alte Argumente brauchten nicht wiederholt zu werden. Bei einer öffentlichen Urteilsberatung, die erst einige Zeit nach dem Studium der Akten stattfindet, muss man sich diese Details zuerst wieder erarbeiten.
plädoyer: Herbert Heeb, Sie haben als Anwalt etliche öffentliche Urteilsberatungen erlebt, vor allem am Zürcher Obergericht. Waren diese Beratungen für die Parteien von Vorteil?
Herbert Heeb: Die öffentliche Urteilsberatung ist wesentlich anspruchsvoller als die geheime. Der Richter muss besser vorbereitet sein, sich vor allem die rechtlichen Argumente vorher gut überlegt haben, damit er sich nicht öffentlich blamiert. Dies ist unangenehmer, als sich bei geheimer Urteilsberatung vor den Kollegen zu blamieren. Ich habe die öffentliche Urteilsberatung am Obergericht des Kantons Zürich einige Dutzend Male in Straffällen und etwa ein halbes Dutzend Male in Zivilfällen erlebt.
plädoyer: Weshalb ist die öffentliche Beratung dort inzwischen zur Ausnahme geworden?
Heeb: Das Obergericht lässt die Parteien spüren, dass nichts anderes als ein Verzicht auf die öffentliche Beratung erwartet wird. Ich habe immer wieder gehört und auch selbst erlebt, dass das Obergericht erhebliche Überzeugungsarbeit leistet, um die Parteien zum Verzicht zu bewegen. Nach der Verhandlung gibt das Gericht den Parteien Hinweise, wie es weitergeht. Die öffentliche Urteilsberatung kommt als letzte Variante und wird mit einem späten Beginn, beispielsweise 19 Uhr, zusätzlich vergällt.
plädoyer: Haben die Parteien nicht einen Anspruch auf die öffentliche Beratung?
Heeb: Es gibt keine gesetzliche Grundlage für den Verzicht auf die öffentliche Urteilsberatung. Das Kassationsgericht behandelte einen Fall, in dem das Obergericht nach einem siebenstündigen Plädoyer des Verteidigers nur zwanzig Minuten öffentlich beriet und im Übrigen auf das schriftliche Urteil verwies - es hatte zuvor ein Abwesenheitsurteil gefällt. Diese Aushöhlung der öffentlichen Urteilsberatung hat das Kassationsgericht nicht akzeptiert.
Schubarth: Auch ich frage mich, ob ein Verzicht auf eine öffentliche Urteilsberatung überhaupt rechtens ist. Diese ist ja nicht nur öffentlich für die Parteien, sondern auch für das Publikum. Also müssten nicht nur die Parteien, sondern auch die Öffentlichkeit verzichten. Dies ist aber gar nicht möglich.
plädoyer: Weshalb ist die öffentliche Beratung beim Zürcher Obergericht so unbeliebt?
Heeb: Das kann ich schlecht beurteilen. Es könnte eine Vorwirkung der ab dem 1. Januar 2011 geltenden gesetzlichen Regelung sein. Im Kanton Zürich wird die öffentliche Urteilsberatung auf diesen Zeitpunkt abgeschafft. Früher gab es die erwähnten Umgehungsmechanismen jedenfalls im Strafprozess nicht. Wenn das Gericht zwischen Verhandlung und öffentlicher Urteilsberatung eine Pause einschaltete, spotteten wir Anwälte jeweils, nun finde zuerst die geheime Urteilsberatung statt. Andererseits freute ich mich, weil möglicherweise meine guten Argumente der Grund für den Unterbruch waren. Eine Pause zum Nachschauen und Nachdenken war in diesen Fällen sicher die bessere Lösung als das Nichtbeachten der neuen Argumente.
plädoyer: Bestanden Sie als Anwalt am Obergericht jeweils trotz der Druckversuche auf der öffentlichen Urteilsberatung?
Heeb: Das ist ja der Fluch. Als Anwalt will man es sich mit dem Gericht nicht verderben. Das ist ein Problem. So wie das in den letzten Jahren lief, hatte das Beharren auf der öffentlichen Urteilsberatung fast etwas Querulatorisches.
Schubarth: Sobald es eine öffentliche Urteilsberatung geben müsste, adaptiert das Gericht Strategien zur Vermeidung. Die Vermeidungsstrategien, die ich beim Bundesgericht beobachtete, sind die Antwort darauf, dass der Nutzen der öffentlichen Urteilsberatung manchmal in keinem Verhältnis zum Aufwand steht. Ich bin mir sicher, dass solche internen Vermeidungsstrategien beim Bundesgericht auch heute noch praktiziert werden - was natürlich niemand offen zugäbe -, gerade in den Fällen, wo das Gericht ein solches Missverhältnis erkennt.
plädoyer: Wann ist die öffentliche Urteilsberatung besser?
Heeb: Sie ist spannend, wenn die Richter auf Argumente der Parteien reagieren. Das ist anspruchsvoll, vor allem, wenn man diese Argumente nicht antizipiert und sich nicht darauf vorbereitet hat. Meine Klienten erlebten die öffentliche Urteilsberatung vor allem in Strafsachen oft als etwas Eindrückliches, weil die Richter offen über die verschiedenen Punkte, die meinen Klienten zur Last gelegt wurden, berieten. Das ist auf jeden Fall unmittelbarer als ein dreissigseitiges Urteil, das der Verteidiger per Post ins Gefängnis schickt und dem Klienten später dort erklärt mit der Aufgabe, über einen Weiterzug an die nächste Instanz zu entscheiden. Das Abwägen zwischen verschiedenen Lösungen kommt in einem schriftlichen Urteil in der Regel weniger deutlich zum Ausdruck als in einer öffentlichen Beratung.
plädoyer: In der Literatur wird häufig erwähnt, es sei für einen Angeklagten schwierig mitzuerleben, dass er nur von einer Mehrheit statt einstimmig verurteilt wird. Wie denken Sie darüber?
Heeb: Das mag sein. Aber das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, kann gerade auch nach einer geheimen Urteilsberatung entstehen, wo nicht miterlebt wird, dass die Richter auch die günstigere Variante beachten.
plädoyer: Was spricht für die geheime Urteilsberatung?
Schubarth: Das Durchschnitts-publikum hat schnell den Eindruck, ein Richter habe nachgegeben, wenn er seine Meinung ändert, und sieht dies als eine Art Blamage an. Für den sachkundigen Beobachter dagegen ist klar, dass der Richter sich von einem besseren Argument hat überzeugen lassen. Es gibt Richter, die nur auf die Meinung des Durchschnittspublikums achten und deswegen ihre Position bewusst oder unbewusst nicht aufgeben. Das erschwert es, bei unterschiedlichen Meinungen eine auch für die Minderheit der Richter akzeptable Gesamtlösung zu finden. Ich bin immer mit einer vorläufigen Meinung in die Beratung gegangen. Ziel einer guten Beratung ist es, dass jeder vom anderen lernt. Im Idealfall ist das Urteil als Produkt der Beratung besser als die Einzelbeiträge der beteiligten Richter.
plädoyer: Der Bundesgesetzgeber ist nicht konsequent. In der neuen Strafprozessordnung verbietet er den Kantonen die öffentliche Urteilsberatung, in der neuen Zivilprozessordnung überlässt er den Entscheid den Kantonen. Selbst bei den Gerichten auf Bundesebene gibt es keine einheitliche Lösung. Was halten Sie davon?
Heeb: Ich habe kein Verständnis dafür. Die unterschiedliche Regelung von Straf- und von Zivilprozessen leuchtet mir überhaupt nicht ein. Wenn man schon auf kantonaler Ebene keine einheitliche Lösung einführen will, müsste es genau umgekehrt sein: Die öffentliche Urteilsberatung müsste in Strafverfahren zum Zug kommen. Es gibt bei Strafverfahren ein legitimes öffentliches Interesse an vollständiger Transparenz, wie die Strafgerichte das Recht handhaben. Damit meine ich nicht ein voyeuristisches Interesse, wie es sich jetzt im Kachelmann-Prozess in Deutschland zeigt.
plädoyer: Sprechen die Argumente gegen die öffentliche Urteilsberatung nicht gegen die öffentliche Verhandlung generell, wo die Sensationshascherei viel grösser ist?
Heeb: Ich glaube nicht, dass man deswegen die öffentliche Verhandlung in Strafsachen wieder abschaffen könnte. Dass diese im Grundsatz öffentlich ist, ist seit Langem Standard. Das Strafrecht ist gesellschaftlich sensibel. Mit einer vollständigen Öffnung der Verfahren - inklusive Urteilsberatung - könnte man unsachlichen, politischen und populistischen Angriffen die Spitze brechen. Jeder Versuch, etwas zu verstecken, führt zu grösserem Misstrauen und zu stärkeren Anfechtungen. Kann ein Journalist einer öffentlichen Urteilsberatung beiwohnen, ist ausserdem das Risiko fehlerhafter Berichterstattung kleiner.
plädoyer: Das einzige Argument, das in der Botschaft zur Strafprozessordnung gegen die öffentliche Urteilsberatung angeführt wird, sind mögliche Repressalien gegen die Strafrichter. Ist dies ein Argument für eine geheime Urteilsberatung?
Heeb: Dieses Risiko steigt meines Erachtens nicht, nur weil man dem Strafrichter auch bei der Beratung zuhören kann. Generell erachte ich die Gefahr von Repressalien als gering. Der Schaden ist wohl grösser, wenn sich das Publikum falsche Vorstellungen macht, was in der Beratung passiert.
plädoyer: Konsequenterweise müsste man die öffentliche Beratung für alle Verfahren aller Instanzen obligatorisch erklären.
Heeb: Man ist halt schon geprägt durch seine Umgebung. Im Kanton Zürich gibt es zum Beispiel keine Öffentlichkeit bei familienrechtlichen Prozessen, und das erschien einem immer irgendwie vernünftig. Früher musste das Verschulden geklärt werden, da waren diese Scheidungsverfahren intimer. Heute reduziert sich der strittige Teil häufig auf die Finanzen. Es ist für mich aber nach wie vor schwer vorstellbar, was das legitime Interesse der Öffentlichkeit an einem Scheidungsprozess sein könnte. Im Unterschied dazu ist beim Strafprozess der Staat Partei, als Ankläger. Zugleich hat er die urteilenden Gerichte institutionalisiert. Damit steht die angeklagte Partei in einem asymmetrischen Verhältnis zum Staat. Im Zivilprozess ist die Kontrolle der staatlichen Macht tendenziell weniger wichtig. Dennoch bin ich der Meinung, dass man im Grundsatz die Urteile in allen Instanzen und Verfahren öffentlich beraten sollte, das heisst, auch im öffentlichen Recht vor den Verwaltungsgerichten. Selbstverständlich bin ich für Ausnahmen von diesem Grundsatz, wo der Persönlichkeitsschutz es verlangt.
Schubarth: Die helvetischen Traditionen sind vielfältig. In den erstinstanzlichen Strafverfahren stand die öffentliche Urteilsberatung nie zur Diskussion. Auch beim Bundesstrafgericht ist die Urteilsberatung geheim, weil es ein erstinstanzliches Gericht ist. Wir haben hier also einen gesamtschweizerischen gemeinsamen Nenner.
plädoyer: Sind Sie für die geheime Urteilsberatung in allen Verfahren und in allen Instanzen?
Schubarth: Ich bin damit einverstanden, dass beim Bundesgericht kontroverse Grundsatzfragen öffentlich beraten werden. Man kann den Arglistbegriff bei einem Betrugsfall oder das Sanktionensystem, beispielsweise die Verwahrung, auf einer Ebene diskutieren, wo persönlichkeitsrelevante Tatsachen keine grosse Rolle spielen. Sobald es um den Schutz der Persönlichkeit geht, muss die Öffentlichkeit aber ausgeschlossen werden. Für die ersten Instanzen befürworte ich ein durchgehendes Verbot der öffentlichen Beratung, bei den zweiten Instanzen auch eher. Je höher die Instanz, desto eher ist öffentliche Urteilsberatung theoretisch denkbar, aber nur in Grundsatzfragen.
plädoyer: Besteht bei einer öffentlichen Urteilsberatung die Tendenz, dass ein Richter Rücksicht auf die Meinung in gewissen Kreisen nimmt?
Schubarth: Ja. Ich erinnere mich an ein Verfahren in der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts, wo ein Richter nach der öffentlichen Beratung zu hören bekam: «Wie konntest du nur als Mitglied der Partei X so argumentieren?» Beim Kodak-Urteil, bei dem es um die Zulässigkeit von Parallelimporten patentgeschützter Produkte ging, mussten sich die SP-Bundesrichter, die sich gegen solche Parallelimporte ausgesprochen hatten, von ihrer Partei schwere Vorwürfe gefallen lassen. Gewisse Politiker glauben immer noch, dass die Richter auf die Linie ihrer Partei eingeschworen sein müssten. Wird öffentlich beraten, wächst der Erwartungsdruck, dem die Richter ausgesetzt sind.
Heeb: Ich frage mich, ob die Gefahr der politischen Instrumentalisierung grösser ist als der Schaden, wenn im Volk der Eindruck der Geheimjustiz entsteht. Dem Schutz von Persönlichkeitsrechten kann mit einer differenzierten Öffentlichkeit der Verfahren Rechnung getragen werden, indem zur öffentlichen Urteilsberatung nur die Parteien oder zusätzlich die Medien, nicht aber Dritte zugelassen werden.
plädoyer: Müssen mit dem Ausschluss der öffentlichen Urteilsberatung die Laienrichter geschützt werden, die heute vor allem noch in ersten, teilweise aber auch in zweiten kantonalen Instanzen Recht sprechen?
Heeb: Das mag für die kleineren Kantone zutreffen. In den grösseren Kantonen wie in Zürich ist der Laienrichter ein Auslaufmodell. Es besteht die Gefahr der Überforderung.
plädoyer: Der Bundesrat hat in der Botschaft zur neuen Zivilprozessordnung, mit der er die öffentliche Urteilsberatung in allen kantonalen Verfahren vorschreiben wollte, argumentiert, die öffentliche Urteilsberatung erhöhe die Transparenz und die Akzeptanz der Urteile. Das eidgenössische Parlament hat anders entschieden. Ist damit eine Chance verpasst worden?
Schubarth: Die öffentliche Urteilsberatung ist eine schweizerische Besonderheit. Die Geschichte der öffentlichen Urteilsberatung zeigt, dass es in den Diskussionen immer hin und her ging. Dass die Transparenz das Vertrauen in die Justiz stärke, ist eine unbewiesene Behauptung. Eine gute mündliche Begründung im Anschluss an eine geheime Beratung kann genug Transparenz herstellen. In den Medien wird über eine öffentliche Urteilsberatung verkürzt berichtet, nicht zuletzt, weil Bonmots immer besser zu verkaufen sind als gute Argumente. Die öffentliche Urteilsberatung führt zu einer Selbstzensur. Damit gehen Offenheit und Spontaneität in der Diskussion verloren.
Heeb: Es gibt eine politische Komponente der Tätigkeit der Gerichte, und zwar nicht im Sinne der Parteipolitik, sondern des Interesses der Öffentlichkeit. Im Gegensatz vielleicht zum Ausland will in der Schweiz die Öffentlichkeit genau wissen, was die Gerichte tun, so wie man in der Schweiz wissen will, was die Regierung tut. 1976 wurden im Kanton Zürich die ZPO und das Gerichtsverfassungsgesetz revidiert. Es gab im Kantonsrat einen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der öffentlichen Urteilsberatung. Als Lösung unterbreitete man diese Frage dem Volk separat zur restlichen Gesetzesvorlage, und das Volk hat sich mit grosser Mehrheit für die öffentliche Urteilsberatung am Obergericht und am Kassationsgericht ausgesprochen. Das Volk will wissen, was in den Gerichtssälen läuft. Diese Komponente der Kontrolle ist wichtig. Die Gefahr, dass sich die Gerichte immer mehr vom Volk entfernen, in eigenen Kategorien denken, ist nicht von der Hand zu weisen. Ich bedaure es sehr, dass der Gesetzgeber mit den eidgenössischen Prozessordnungen die Chance nicht genutzt hat, die öffentliche Urteilsberatung in den Kantonen obligatorisch zu erklären.
Herbert Heeb (63) ist Rechtsanwalt mit eigenem Anwaltsbüro in Zürich. Seit 1995 ist er Mitglied des Kassationsgerichts Zürich, seit 2001 dessen Vizepräsident. Er berät Parteien im Zivil- und Strafrecht und vertritt sie vor Gericht. Unter anderem war er einer der Verteidiger im aufsehenerregenden Swissair-Prozess.
Martin Schubarth (68) ist Rechtskonsulent (Avocat-Conseil) im Lausanner Anwaltsbüro Rusconi & Associés. Von 1983 bis 2004 war er Bundesrichter (1983 bis 1987 in der 1. Zivilabteilung, 1987 bis 2004 im Kassationshof für Strafsachen, 1999/2000 Bundesgerichtspräsident). Er ist Titularprofessor an der Universität Basel.
Unterschiedliche Regelungen bei Bund und Kantonen
- Öffentliche Urteilsberatung auf Bundesebene: Das Bundesgerichtsgesetz (BGG) schreibt in Artikel 59 Absatz 1 für alle Ab-teilungen des Bundesgerichts eine öffentliche Urteilsberatung mit öffentlicher Abstimmung vor. Urteile werden beim Bundesgericht aber nur öffentlich beraten, wenn keine Einstimmigkeit vorliegt, der Abteilungspräsident es anordnet oder ein Richter es verlangt (Art. 58 BGG). In der Praxis sind öffentliche Urteilsberatungen selten.
Im Jahr 2007 waren es 92 Fälle von total 6498 (ohne Einzelrichterfälle), im Jahr 2008 deren 76 von 5393 Fällen und im Jahr 2009 deren 76 von 5098 Fällen. Dies sind lediglich 1,5 bis 2 Prozent aller Fälle.
Das Bundesverwaltungsgericht hat seit 2007 gemäss Gerichtssprecher Andrea Arcidiacono erst drei Fälle öffentlich beraten. Eine öffentliche Urteilsberatung findet nur statt, wenn der Abteilungspräsident oder ein Richter sie verlangt. Dies gilt im Gegensatz zum Bundesgericht auch bei Verfahren, die im Interesse der Rechtsfortbildung oder der Einheit der Rechtsprechung nach Artikel 21 Absatz 2 VGG in Fünferbesetzung entschieden werden und bei denen keine Einstimmigkeit herrscht.
Beim Bundesstrafgericht gibt es laut Generalsekretärin Mascia Gregori Al-Barafi überhaupt keine öffentlichen Urteilsberatungen. Es liegt ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vor.
- Öffentliche Urteilsberatung bei Strafverfahren auf kantonaler Ebene: In den meisten Kantonen sind Urteilsberatungen in Strafverfahren geheim. Die neue Strafprozessordnung schreibt nun sämtlichen kantonalen Instanzen geheime Urteilsberatungen in allen Strafsachen in Artikel 69 und 348 vor.
- Öffentliche Urteilsberatung bei Zivilverfahren auf kantonaler Ebene: Der bundesrätliche Entwurf für eine neue Zivilprozessordnung (ZPO) sah die öffentliche Urteilsberatung noch für alle kantonalen Instanzen als Grundsatz vor. Der Bundesrat argumentierte mit der Transparenz des Verfahrens und der Akzeptanz der Urteile. Ausgenommen wurden Fälle, wo das öffentliche Interesse oder das schutzwürdige Interesse einer beteiligten Person dies erfordert, etwa bei allen familienrechtlichen Verfahren. Auf Antrag der Rechtskommission des Ständerats wurde es schliesslich in Artikel 54 Absatz 2 ZPO im Parlament den Kantonen überlassen zu bestimmen, ob die Urteilsberatung öffentlich ist oder nicht.
Etliche Kantone sehen nach geltendem Recht zumindest für das zweitinstanzliche Verfahren eine öffentliche Urteilsberatung vor. Sehr weit geht der Kanton Basel-Landschaft, der auch für erstinstanzliche Zivilverfahren, bei denen Laienrichter beteiligt sind, die öffentliche Urteilsberatung als Grundsatz kennt.