Rund 300 Zivilisten wurden in der ukrainischen Kleinstadt Butscha nordwestlich von Kiew getötet. Mehrere Quellen gehen von Kriegsverbrechen der russischen Armee aus, unter anderem die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International sowie eine Untersuchungskommission der OECD. Sie stützen sich auf Berichte von Augenzeugen und Bewohnern sowie Satellitenaufnahmen. Auch aus anderen Teilen der Ukraine dringen seit Wochen gut dokumentierte Schilderungen über Tötungen von Zivilisten, beschossene zivile Einrichtungen und den Einsatz verbotener Waffen wie Streumunition. «Dass Kriegsverbrechen geschehen, scheint eindeutig zu sein», sagte jüngst auch Cuno Tarfusser, ehemaliger Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in der «Süddeutschen Zeitung».
Vor 20 Jahren, am 1. Juli 2002, trat das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in Kraft. Es ist einerseits dessen vertragliche Grundlage, andererseits das Regelwerk, das Organisation, Zuständigkeiten und Abläufe des Gerichts festhält (siehe Kasten). Der Gerichtshof in Den Haag ist das erste ständige Gericht für die Verfolgung von völkerstrafrechtlichen Delikten. Gerichte wie das Jugoslawien- oder Ruandatribunal wurden hingegen vom Uno-Sicherheitsrat ad hoc im Nachgang zu den beiden Konflikten geschaffen. Die Euphorie nach der Gründung des «Weltstrafgerichtshofs» war gross, er wurde als Meilenstein im Kampf gegen Kriegsverbrechen und Straflosigkeit gefeiert. Die Begeisterung wich im Laufe der Jahrzehnte einer Ernüchterung. Der emeritierte Berner Professor Hans Vest formuliert pragmatisch: «Der Gerichtshof ist in seinem aktuellen Zustand sicher nicht das Gelbe vom Ei. Aber er ist auch nicht einfach nur ein Papiertiger.»
USA wollen notfalls in Den Haag einmarschieren
Seit seiner Gründung behandelte der Internationale Strafgerichtshof 31 Fälle. 12 Verfahren wurden abgeschlossen, in 5 Prozessen wurden die Angeklagten für schuldig befunden. Aktuell laufen in 17 Konflikten Strafuntersuchungen der Anklagebehörde. Mehr als die Hälfte davon betrifft Vorfälle auf dem afrikanischen Kontinent. Nicht nur afrikanische Staaten werfen dem Gerichtshof deshalb eine zu starke Fokussierung auf Afrika und einen «Kolonialismus mit neuen Mitteln» vor. Burundi etwa trat 2016 aus dem Römer Statut aus – allerdings auch, weil der Gerichtshof wegen schweren politischen Ausschreitungen im Jahr 2015 Vorermittlungen aufnahm, auch gegen Regierungsvertreter.
Laut Hans Vest wurde der anfänglich zu starke Fokus auf Afrika mittlerweile ein wenig korrigiert. «Der Gerichtshof befasste sich in den letzten Jahren auch mit mehreren Sachverhalten aus anderen Regionen der Welt.» Aktuell zum Beispiel laufen Untersuchungen der Anklagebehörde zu Afghanistan, Georgien, Venezuela, den Philippinen und zum Gazastreifen und Westjordanland.
Der Gerichtshof sieht sich dabei mit Problemen konfrontiert, die ihn seit der Gründung beschäftigen: Einerseits kooperieren die Vertragsstaaten des Römer Statuts keineswegs immer, gerade wenn Verbrechen von Regierungen zur Debatte stehen. Andererseits ist die Unterstellung unter seine Gerichtsbarkeit freiwillig. Den Haag ist nur für Staaten zuständig, die das Römer Statut ratifiziert haben. Mehrere Vetomächte der Vereinten Nationen taten das nicht: China, Russland und die USA. Strafverfahren gegen ihre Staatsangehörigen wären zwar möglich, zum Beispiel wenn sie in Mitgliedstaaten völkerstrafrechtliche Delikte begingen. Dies trifft nicht nur auf russische Soldaten in der Ukraine, sondern auch auf jene der US-Armee in Afghanistan zu.
Doch die USA verweigern die Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof seit Jahren: Unter Präsident George W. Bush verabschiedeten Kongress und Senat ein Gesetz, das es der Regierung verbietet, das Gericht mit Geldern zu unterstützen. Mehr noch: Das Gesetz ermächtigt die Regierung sogar, in den Niederlanden militärisch zu intervenieren, falls US-Bürger in Den Haag vor Gericht gestellt werden sollten. Im September 2020 verhängte die Regierung Trump Sanktionen wie Einreisesperren und die Blockierung von Konten gegen die damalige Chefanklägerin in Den Haag, Fatou Bensouda, und ihre Mitarbeiter. Die Biden-Administration hob diese Sanktionen kürzlich auf.
Auf die Kooperation der Staaten angewiesen
Nina Burri gehörte ab 2018 für zwei Jahre selbst der Anklagekammer in Den Haag an, heute ist sie als selbständige Anwältin in einem völkerstrafrechtlichen Verfahren tätig. Sie bezeichnet die Sanktionen der USA gegen Bensouda als «Tiefpunkt» in der jungen Geschichte des Gerichts. Wie Vest betont auch Burri die Abhängigkeit der Behörde von den Staaten. Der Gerichtshof verfügt über keine eigene Polizeieinheit, die Leute festnehmen und dem Gericht zuführen kann. «Zu Konfliktgebieten wie Myanmar oder Libyen haben Mitarbeiter des Gerichts kaum Zugang», so Burri. «Die Anklagekammer wäre auf die Rechtshilfe und Kooperationsbereitschaft der betroffenen Staaten angewiesen.»
Ein weiteres Problem sind die mangelnden Ressourcen: «Der Chefankläger hat ein sehr grosses Mandat, verfügt aber nur über wenig Mittel», kritisiert die Anwältin. Das Budget der Anklagekammer betrage rund 50 Millionen Franken bei knapp 400 Mitarbeitern. «Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verfügt über doppelt so viel Geld», so Burri.
Die jeweiligen Chefankläger setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Bisher gab es drei: der Argentinier Luis Moreno Ocampo, die Gambierin Fatou Bensouda und seit Juni 2021 der Brite Karim Khan. Hans Vest und Nina Burri beurteilen die Entwicklung im Laufe der Jahre grundsätzlich positiv: «Luis Moreno Ocampo hatte sich vor allem diplomatisch profiliert, seine Nachfolgerin Bensouda war eine Schafferin», so Vest. Khan habe einige Voruntersuchungen abgeschlossen, die seit Jahren vor sich hin dümpelten. Burri sieht den Strafgerichtshof seit Khans Wahl nach eher zähen Jahren wieder «im Aufwind». Dazu trage auch der Krieg in der Ukraine bei, der dem Gericht einen Bedeutungszuwachs beschert habe.
Fortschritte beim Weltrechtsprinzip
Mit der Ukraine befasst sich das Gericht seit 2014, als die Krim von Russland annektiert wurde und im Osten des Landes die von Russland unterstützten Separatisten gegen die ukrainische Armee kämpften. Die Ukraine unterzeichnete das Römer Statut nicht, anerkannte die Zuständigkeit von Den Haag aber für diese Krisensituation. Eine Ermittlung zu den jüngsten Verbrechen könnte in die bereits laufende Untersuchung integriert werden. Hans Vest beurteilt die Ausgangslage für Ermittlungen dabei als besser als bei anderen Konflikten: «Zumindest von ukrainischer Seite besteht eine hohe Kooperationsbereitschaft.» Burri und Vest verweisen aber darauf, dass generell – und auch in der Ukraine – das Konzept der Komplementarität gelte. Heisst: Der Haager Gerichtshof ist erst dann zuständig, wenn die von Kriegsverbrechen betroffenen Staaten die zur Aufklärung notwendigen Untersuchungen und anschliessend die Gerichtsverfahren nicht selbst führen können oder wollen.
Zahlreiche Staaten verankerten in den letzten Jahren Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in ihren nationalen Strafgesetzen. Das sogenannte Weltrechtsprinzip erlaubt ihnen, die Täter in ihrem Land zu verfolgen – unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Ort des Verbrechens.
Der Genfer Verein Trial International setzt sich für die Bekämpfung der Straflosigkeit von schweren internationalen Verbrechen ein. Sein aktueller Jahresreport führt 60 völkerstrafrechtliche Strafverfahren in 16 Ländern auf. 15 Täter wurden 2021 schuldig gesprochen. So verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz (D) im Januar den ehemaligen syrischen Offizier Anwar R. wegen Beteiligung an Folterungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. R. lebt in Deutschland. Das noch nicht rechtskräftige Urteil gilt als Musterbeispiel für die Anwendung des Weltrechtsprinzips.
«Man kann im Zusammenhang mit der Anwendung des Weltrechtsprinzips durchaus von Fortschritten sprechen», sagt Babaka Mputu, Rechtsberaterin bei Trial International. «Länder wie Argentinien, Deutschland und Frankreich sind bei der Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen sehr aktiv.» Auch Hans Vest hebt den Effort der Deutschen in diesem Bereich hervor: «Seit Jahren werden jesidische Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Deutschland nach Kenntnissen von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit befragt.»
Hoffen auf eine Kursänderung der Schweiz
Im März hat die Schweizer Bundesanwaltschaft eine Task-Force ins Leben gerufen, die Ukraine-Flüchtlinge befragen und mögliche Beweismittel sichern soll. Die Bundesanwaltschaft will sich so vorbereiten, falls mutmassliche Kriegsverbrecher einreisen. Deren Anwesenheit in der Schweiz ist nach Artikel 264m StGB Voraussetzung für die Zuständigkeit der Schweizer Strafverfolgungsbehörden bei völkerstrafrechtlichen Delikten. Vorbereitende Ermittlungen sind aber nicht ausgeschlossen.
Fachleute wie Nina Burri und Hans Vest sehen in der Einrichtung der Task-Force ein positives Zeichen für den Strafverfolgungswillen der Bundesanwaltschaft. Sie hoffen auf eine Kursänderung. «Bisher zeichnete sich die Schweiz bei völkerstrafrechtlichen Delikten nicht durch Aktivität aus», sagt Burri. Seit Inkrafttreten der neuen völkerstrafrechtlichen Bestimmungen im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung von 2011 sind der Bundesanwaltschaft über 80 Fälle unterbreitet worden. Zu einer Verurteilung kam es nur in einem Fall: 2021 wurde der Liberianer Alieu Kosiah vom Bundesstrafgericht wegen Verbrechen als Kommandant einer Rebellenmiliz in den 90er-Jahren zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Mputu von Trial sagt, das Urteil zeige, dass auch «grosse Fische» verfolgt würden. Tatsächlich wurden auch gegen den ehemaligen gambischen Innenminister oder den ehemaligen algerischen Verteidigungsminister Untersuchungen aufgenommen.
Bloss: Von 2016 bis 2020 gab es in der Bundesanwaltschaft die Abteilung Rechtshilfe und Völkerstrafrecht mit 1850 Stellenprozenten. Dann wurde sie 2020 der neuen Abteilung internationale Rechtshilfe, Terrorismus, Völkerstrafrecht und Cyberkriminalität angegliedert. Für Völkerstrafrecht sind seither nur noch 400 Stellenprozente vorgesehen. Die Bundesanwaltschaft betont, dass damit bloss die Staatsanwalts- und Assistenzstaatsanwaltsstellen gemeint sind und dass der Bereich Völkerstrafrecht «wenn nötig» auf die juristischen Ressourcen anderer Bereiche zurückgreifen kann.
Babaka Mputu von Trial übt an der Reorganisation dennoch Kritik: «Die Ressourcen innerhalb der Bundesanwaltschaft müssen besser verteilt werden. Es braucht zusätzliches, qualifiziertes Personal, das sich einzig mit völkerstrafrechtlichen Fragestellungen befasst.»
123 Mitglieder, 155 Millionen Euro Budget
Das Römer Statut ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Gerichtshofs im niederländischen Den Haag. Es wurde 1998 in Rom verabschiedet und trat 2002 in Kraft. Der Staatsvertrag enthält einen Katalog völkerstrafrechtlicher Delikte. Dazu gehören Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression (das Vorbereiten und Führen eines Angriffskrieges). Tätig wird das Gericht auf Ersuchen eines Mitgliedstaates, auf Eigeninitiative der Anklagebehörde oder auf Aufforderung des UN-Sicherheitsrats. Auch die Organisation des Gerichtshofs ist im Statut festgelegt. Die wichtigsten Organe sind das Gericht mit 18 Richtern, zu dem eine Vorverfahrens-, eine Hauptverfahrens- sowie eine Berufungsabteilung gehören, sowie die Anklagebehörde unter der Leitung des Chefanklägers und die Gerichtskanzlei. Das Jahresbudget des Gerichtshofs für das Jahr 2022 beträgt rund 155 Millionen Euro. Aktuell haben insgesamt 123 Staaten das Römer Statut unterzeichnet.