«Betrogen? Neue Wohnung? Rosenkrieg? Entlassen? Verhaftet? Geerbt?», fragt der mittlerweile dreissigjährige Verein Rechtsauskunft Anwaltskollektiv auf seiner Homepage www.anwaltskollektiv.ch. Angesprochen sind alle, die juristischen Rat suchen - unabhängig von ihrer Herkunft und sozialen Schicht.
Mit einer tiefschürfenden, umfassenden Antwort auf ihre Fragen ziehen sicher nicht alle Rechtsuchenden aus dem Beratungszimmer an der Kernstrasse 8/10 in Zürich-Aussersihl von dannen. Bei einigen bleibt manches offen, andere suchen weiterhin Gerechtigkeit. Aber immerhin: Nachmittag für Nachmittag bietet die Rechtsauskunft Anwaltskollektiv Sprechstunden an. Zwischen 12.30 und 18.30 Uhr finden täglich durchschnittlich acht bis neun Beratungen statt, mehrheitlich in den Bereichen Familien-, Arbeits-, Straf-, Sozialversicherungs- und Migrationsrecht. Um keine unnötigen Zugangsbarrieren aufzubauen, ist keine Voranmeldung nötig und der Tarif günstig: Eine halbe Stunde kostet sechzig Franken, ein Telefonanruf und ein (kurzer) Brief von Seiten des Beratenden inbegriffen.
Zahlreiche Rechtsuchende kämen ohne dieses niederschwellige Angebot kaum zu einer Rechtsberatung, geschweige denn zu ihrem Recht. Denn viele einfachere Rechtsprobleme können dort gelöst werden; und für Schreibgehemmte oder Fremdsprachige erfüllt die Rechtauskunft Anwaltskollektiv oft die Funktion einer Schreibstube. Aber auch schwierigere Rechtsfragen können teilweise abschliessend geklärt oder zumindest eingeordnet werden; und bei Bedarf wird jedenfalls eine geeignete Fachkraft vermittelt.
36 Jahre Rechts- und Sozialgeschichte
32 Aktivmitglieder, alles qualifizierte Anwältinnen und Anwälte, leisten heute diese Arbeit im Turnus für ein eher symbolisches Honorar, jede Person rund sieben bis zehn Mal pro Jahr. Etwa vierzig ehemals Ratgebende unterstützen den Verein als Passivmitglieder zudem finanziell und moralisch. Und - hinter der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv steht keine gewiefte Geschäftsstrategie; vielmehr steht sie für ein Stück 36-jährige Rechts- und Sozialgeschichte. 36 und nicht bloss dreissig Jahre, weil der heute dreissigjährige Verein aus dem 1975 gegründeten Anwaltskollektiv hervorging.
Juristisches Engagement nur für Arbeitnehmerinnen, gegen Arbeitgeber; Unterstützung für Frauen, gegen das patriarchalische Eherecht mit dem Stichentscheid des Mannes; Rat ausschliesslich für Mieterinnen, gegen Vermieter; in Verteidigung von Angeschuldigten, gegen die staatliche Repressionsmaschinerie. Günstige Tarife für Rechtsuchende, damit sich auch Unterprivilegierte wehren können; Hilfe zur Selbsthilfe durch eine niederschwellige Rechtsauskunft neben der herkömmlichen Advokatur. Gleicher Lohn für Anwältinnen wie kaufmännische Mitarbeiter. Skepsis gegenüber der herkömmlichen juristischen Literatur - die herrschende Meinung ist ohnehin die Meinung der Herrschenden. Diese Grundsätze bildeten - etwas vereinfacht - 1975 das ideelle Fundament des ursprünglichen Anwaltskollektivs in Zürich-Aussersihl, ins Leben gerufen durch die Anwälte Susanne Naef, Edmund Schönenberger, Bernard Rambert und die Sekretärin Claudia Bislin.
Das neu gegründete Kollektiv traf offenbar den Nerv der Zeit - jedenfalls wurde es von Rechtsuchenden geradezu überrannt. Hätten die Gründer nicht bald schon weitere junge Anwältinnen und Anwälte beigezogen, wären sie wegen der überwältigenden Resonanz hoffnungslos in ihrer Arbeit ertrunken. Kein Wunder, denn bis weit in die 1970er-Jahre sah sich das Gros der Anwaltschaft in Zivilsachen auf der Seite der wirtschaftlich Potenten und in Strafsachen als «Diener des Rechts». Eintracht mit Behörden war wichtiger als eine pointierte Interessensvertretung der (unterprivilegierten) Klientinnen.
Das Kollektiv war hier und damit der Gegenentwurf dazu; es veränderte dadurch nachhaltig die (Zürcher) Anwaltslandschaft. Auch wenn es finanziell nicht rentabel war, stellte es sich in Zivilsachen auf die Seite der wirtschaftlich Schwachen. Und trotz oder gerade wegen des Risikos, «ungeliebte Diener des Rechts» zu werden, setzte es sich in Strafsachen konsequent für die fragilen Angeschuldigtenrechte ein.
Bussen, Verweise und Entzug des Patentes
Ein Produkt dieser Haltung war 1978 die Broschüre «Strafuntersuchung - was tun?». Sie klärte auf, wie man sich in einer Strafuntersuchung am besten verhält. Die Autorin Barbara Hug wurde dafür disziplinarrechtlich gebüsst, sah man damals die Redaktion eines solchen Leitfadens, der sich konsequent an den Verteidigungsrechten orientierte, als für eine Rechtsanwältin ungebührlich an.
Bussen oder Verweise waren aber nicht die einzigen Massnahmen, mit denen die Justiz Mitgliedern des Anwaltskollektivs und anderen Linksanwältinnen begegnete. So wollte die Berner Justiz vier Zürcher Anwälten lebenslang das Patent entziehen. Dies nicht etwa, weil sie sich schlecht für ihre Klienten eingesetzt hätten; die Vorwürfe lauteten anders und zielten auf ihre politische Haltung: «Sie wurden wegen ihrer ‹fragwürdigen Gesinnung› und wegen ihres ‹unwürdigen› Benehmens mit Berufsverbot belegt - was eine über die Grenzen der Schweiz hinaus wohl einzigartige Sanktion bildet», wie nicht etwa eine linke Zeitung, sondern das liberale deutsche Magazin «Der Spiegel» am 7. Januar 1980 berichtete! Immerhin: Das Bundesgericht hob das Urteil der kantonalen Behörde auf und stellte zudem - erstmals in dieser Deutlichkeit - die Rolle der Anwältin in Strafsachen klar: «Der Anwalt ist aber nicht staatliches Organ und auch nicht ‹Gehilfe des Richters›, sondern Verfechter von Parteiinteressen und als solcher einseitig für seinen jeweiligen Mandanten tätig. Das gilt insbesondere für den Strafverteidiger.» BGE 106 Ia 100 kann daher getrost als Meilenstein der schweizerischen Justiz- und Anwaltsgeschichte bezeichnet werden.
Im Umfeld der drohenden Patententzüge und der Opernhauskrawalle entstand 1981 der Verein Rechtsauskunft Anwaltskollektiv. Das auf elf Anwälte und Anwältinnen angewachsene bisherige Kollektiv lud befreundete Kollegen und Kolleginnen zur Vereinsgründung ein. Durch die Jugendbewegung war es mit Fällen überschwemmt worden. Die vom Kollektiv geführte Rechtsauskunft konnte die Rechtsanfragen nicht mehr bewältigen und die Strukturen mussten dem zunehmend breiteren Bedürfnis der Nachfrage angepasst werden.
Insgesamt 22 Aktivmitglieder gründeten den Verein und gaben von da an im Turnus Rechtsauskunft. Jedes Mitglied gehörte gleichzeitig dem Vereinsvorstand an; damit wollte man die interne Basisdemokratie gegen eine allfällige Elitebildung absichern. Sogar dem «Tages-Anzeiger-Magazin» war die Frage, ob dies eine Auflösung oder Häutung sei, in Heft 42/81 eine mehrseitige Reportage wert. Unter dem Titel «Die Wandlung» berichtete es über die Vereinsgründung und porträtierte das Anwaltskollektiv als eine Art idealistisch-radikale Anwaltsbohème mit geniesserischem Grundkonsens für guten Wein.
Im Visier des Staatsschutzes
1981: An den Zürcher Hauswänden wurde die freie Sicht aufs Mittelmeer und die Räumung der Knäste statt der Häuser gefordert. In fast allen Beizen gab es vor 23.30 Uhr die letzte Runde. In vielen Kantonen war das Konkubinat immer noch verboten. Und der Künstler Harald Nägeli wurde vom Zürcher Obergericht überaus hart bestraft. Bereits wer nur leicht nach linker Gesinnung roch, wurde fichiert. Das Kollektiv war deshalb schon länger als vermeintliches Zentrum staatsfeindlicher Aktionen im Visier des Staatsschutzes und wurde unter anderem als «die Zentralstelle für Terrorismus in der Schweiz» bezeichnet (Kantonspolizei Zürich, Dienststelle Nachrichtendienst, 12. Januar 1978, Adressat: Schweizerische Bundesanwaltschaft).
Nur scheinbar Schnee von gestern. Denn auch heute noch kämpfen offenbar manche die Kämpfe von damals. Alex Baur etwa ging im Jahr 2008 in der Weltwoche in «Endspiel der ‹Küchliwirtschaft›» und «Diskreter Abschied vom Terror» auf das Anwaltskollektiv der 1980er-Jahre ein. Sein anachronistisches Bild desselben entspricht zwar nicht den Realitäten der Vereinsgeschichte; dafür schafft es eine Art Unterhaltungslektüre, die aus der Gegenwart in den Kalten Krieg zurückfällt.
Rechts-Scharmützel im Geist des Kalten Krieges
Nicht nur der zum Rechtsausleger konvertierte Gerichtsberichterstatter, sogar staatliche Stellen pflegen immer noch ähnliche Klischees: Der Extremismusbericht des Bundesrates vom 24. August 2004 suggerierte wahrheitswidrig, die Rechtsauskunft Anwaltskollektiv sei 1981 aus der sogenannten Roten Hilfe beziehungsweise dem Komitee gegen Isolationshaft entstanden. Mit Verfügung vom 3. November 2005 lehnte das Bundesamt für Polizei das Ersuchen der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv auf Berichtigung des Berichts ab.
Auf Beschwerde des Vereins hin wies die Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitskommission das Bundesamt für Polizei rund ein Jahr später an, die für die beantragten Berichtigungen nötigen Schritte zu veranlassen. Das Bundesamt gab sich aber nicht geschlagen und zog die Sache ans Bundesgericht weiter. Doch das höchste Gericht trat im Urteil vom 26. März 2007 nicht einmal auf die Beschwerde ein, weil das Bundesamt gar nicht beschwerdelegitimiert war. Legitimiert wäre - wenn überhaupt - das Eidgenössische Departement der Justiz und des Inneren gewesen...
Heute sind das eher Intermezzi am Rande, und solche Scharmützel prägen den Vereinsalltag kaum mehr. Spannender scheint daher ein Blick auf die beruflichen Entwicklungen der Anwältinnen der ersten, zweiten und dritten Vereinsgeneration, die teilweise bereits im Pensionsalter sind: Manche begannen neben oder nach dem ersten Berufsleben ein zweites und wurden Bauern und Hochschullehrerinnen, Filmproduzenten und Zeitungsverleger.
Aber nicht alle haben alternative Lebensentwürfe verfolgt. Denn sie wurden auch Bezirks- und Kassationsrichterinnen, Verwaltungs- und Bundesrichterinnen, Gemeinde- und Regierungsräte, National- und Kantonsräte. Viele blieben auch Anwältinnen oder erweiterten ihr anwaltliches Tätigkeitsfeld allenfalls auf Mediationen. Die Mehrheit bewegte sich also mindestens formal im Rahmen konventioneller Juristenlaufbahnen.
Vom Anwaltskollektiv zur Bundesrichterin
Auch die Wege der Gründerinnen des ursprünglichen Kollektivs verliefen unterschiedlich: Susanne Naef heisst heute Susanne Leuzinger-Naef, stieg Mitte der 1990er-Jahre quer in die Justiz ein und wurde in den letzten vier Jahren mit Glanzresultaten zur Vizepräsidentin des Schweizerischen Bundesgerichts gewählt - eine Berufslaufbahn für eine Anwaltskollektivistin, die vor dreissig Jahren wohl niemand für möglich gehalten hätte.
Edmund Schönenberger blieb sich treu: Er gründete 1987 Psychex und setzte sich fortan wuchtig gegen die Zwangspsychiatrie ein. Und sein «Nieder mit der Demokratie» ist nach wie vor online abrufbar und ein Pamphlet, das seinesgleichen sucht. Bernard Rambert war bei der Vereinsgründung 1981 bereits nicht mehr dabei. Der Doyen für politische Verteidigungen praktiziert bis heute und ist sicher kein landläufiger Durchschnittsjurist: Ein kurzer französischer Dokumentarfilm porträtierte ihn unlängst unter dem Titel «L'avocat de la révolution». Claudia Bislin trat ebenfalls mit ihm aus dem Kollektiv aus.
Soziales statt politisches Engagement
Auch in der heute aktiven Generation dürften sich alle oder wenigstens die meisten Aktiv- und Passivmitglieder als links oder zumindest linksliberal bezeichnen. Allerdings geht die Spitze der schönenbergerschen Feder den meisten von ihnen ab. Denn gerade bei den Jüngeren steht das niederschwellige, soziale Engagement für die Rechtsuchenden im Vordergrund; der mitmenschliche Zugang in ihrem Beruf steht für viele mehr im Zentrum als der politische.
Die Kultur, Struktur und Stossrichtung des Vereins hat sich ebenfalls in manchem verändert: Seit 2003 ist die «Rechtsauskunft Anwaltskollektiv®» als Marke eingetragen. Ein Dreiervorstand hat die basisdemokratische Organisationsform abgelöst. An der Vereinsversammlung 2010 wurde sogar über ein mögliches Joint-Venture mit Rechtsschutzversicherungen diskutiert - wenn auch sehr deutlich verworfen. Die zum Buch angewachsene Broschüre «Strafuntersuchung - was tun?» wird im Jubiläumsjahr 2011 in fünfter Auflage neu publiziert werden und ist nach wie vor der einzige umfassende Laienratgeber für das schweizerische Strafrecht. Dessen Tipps dürften für weniger Aufregung sorgen als bei der Erstauflage 1978, auch wenn sie nichts an Aktualität und kämpferischem Gehalt eingebüsst haben.
Von der Klassenkämpferin zur Vorbildinstitution
Heute praktizieren auch längst nicht mehr alle Mitglieder in typisch linken Bürogemeinschaften mit Sozialtarifen. Manche vertreten deutlich mehr Angehörige der Mittel- und Ober- als der Unterschicht. Andere übernehmen Mandate von Vermieterinnen und Arbeitgebern. Indessen setzen sich die beratenden Aktivmitglieder nach wie vor zum Ziel, dass niemand das Beratungszimmer ungetröstet und juristisch unterversorgt verlassen soll. Und die gemeinsame anwaltsethische Grundgrammatik aller ist wohl immer noch, dass von ihren Dienstleistungen prinzipiell niemand aufgrund der Herkunft oder sozialen Schicht ausgeschlossen wird und dass die Interessen der Klienten im Mittelpunkt stehen.
Durch diese leichten Akzentverschiebungen haben sich die Rechtsauskunft Anwaltskollektiv und ihre Mitglieder letztlich klammheimlich in die beste, echt «bürgerliche» Anwaltstradition hinein bewegt - dies jedenfalls dann, wenn sich die Anwältin in ihrem Beruf nicht nur als bourgeoise, sondern auch als citoyenne begreift. Die letzten drei Jahrzehnte waren für die Rechtsauskunft Anwaltskollektiv demnach ein langer Marsch: Es scheint fast, sie sei dabei von der Klassenkämpferin gegen die gutbürgerlichen Institutionen zur Vorbildinstitution für die gute Bürgerin geworden.