Das Bundesamt für Justiz befindet sich in einem grauen Verwaltungsgebäude bei der Talstation der Marzilibahn. Oben am Aarehang thront das Bundeshaus mit den Räumlichkeiten der Bundesräte. Dass die Anordnung der Gebäude die Hierarchien abbildet – Bundesrat oben, Bundesamt für Justiz unten –, ist zumindest auf die Person des Amtsdirektors bezogen fraglich: Michael Schöll gilt als einer der einflussreichsten Beamten in Bern und wird auch als «neunter Bundesrat» bezeichnet – der Bundeskanzler ist inoffiziell der achte.
Schöll, der seit drei Jahren im Amt ist, winkt bei dieser Formulierung ab. Die Bedeutung des Bundesamts für Justiz will der 50-Jährige aber nicht kleinreden: «Wir betreuen eine ganze Reihe wichtiger Dossiers und erfüllen Aufgaben, die für den Rechtsstaat Schweiz und seine Institutionen wichtig sind.» Entsprechend hätten die Führungskräfte und die rund 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts eine grosse Verantwortung.
«Einmalige Erfahrung» mit Menschenrechten in Israel
Schöll wuchs mit fünf Geschwistern in Romanshorn TG auf. Er nahm an der Universität St. Gallen ein Jus-Studium auf, wobei es ihn von Anfang an in die Fremde zog. «Die universitäre Mobilität war zu meiner Studienzeit Anfang der 1990er-Jahre aber noch nicht so ausgebaut wie heute», sagt er. Er landete zuerst in Genf, wo er ein Studienjahr absolvierte und nach zweijährigem Praktikum auch das Anwaltspatent erwarb. Seine Dissertation zum Thema Rechtsvergleichung reichte Schöll an der Universität Basel ein.
Die ersehnte Auslanderfahrung sammelte er kurz darauf in den USA. An der Universität Harvard machte er den LL.M., im Bundesstaat New York ein weiteres Anwaltspatent. In Harvard lernte er Aharon Barak kennen, der damals Präsident des Obersten Gerichts in Israel war. Als er von der Möglichkeit erfuhr, am höchsten israelischen Gericht ein halbjähriges Praktikum zu absolvieren, bewarb er sich sofort – mit Erfolg.
Das israelische Rechtssystem funktioniert ohne geschriebene Verfassung, ohne zweite Parlamentskammer, und das Familienrecht ist von mehreren Religionen geprägt. Er habe beobachten können, «wie der Oberste Gerichtshof bei dieser Ausgangslage in einer sehr diversen Gesellschaft Grundrechte und Menschenrechte sicherstellt», sagt Schöll, das sei eine «einmalige Erfahrung» gewesen.
Einblick in unterschiedliche Rechtstraditionen
2009 begann Schöll am Bundesamt für Justiz – zuerst als Chef des Fachbereichs Internationales Privatrecht. 2015 wurde er zum Leiter des Direktionsbereichs Privatrecht ernannt, 2021 folgte der Aufstieg zum Direktor und damit an die Spitze des Bundesamts. Martin Dumermuth, der während rund acht Jahren Schölls Vorgesetzter war, bezeichnet seinen Nachfolger als «integre Persönlichkeit». «Er spielte stets mit offenen Karten», so Dumermuth. Als Führungsperson habe er Schöll als einen «überlegten» Menschen erlebt: «Auch in Drucksituationen verlor er nie die Nerven.»
Schöll selbst bezeichnet seine in der Westschweiz erworbene Zweisprachigkeit und seine Kenntnisse der teilweise unterschiedlichen Rechtstraditionen in der Schweiz als Vorteile im Amt. Über seine Einblicke in ausländische Rechtssysteme habe er zudem eine wichtige Lektion gelernt, die auch für die Schweiz gelte: «Der Rechtsstaat fällt nicht vom Himmel. Sein Funktionieren hängt stark von der politischen Kultur und den institutionellen Bedingungen ab.»
Oberste Verantwortung für den Schutz der Grund- und politischen Rechte sowie für eine funktionierende Justiz tragen jene Bundesrätinnen und Bundesräte, die dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement vorstehen. Alle drei politischen Vorgesetzten, die Schöll bislang als Direktor erlebte, verfügten über keine juristische Ausbildung. Schöll sagt, er habe die unterschiedlichen Perspektiven seiner Vorgesetzten stets als Gewinn empfunden: «Wenn wir Juristen unsere Anliegen Nichtjuristen nicht verständlich erklären können, dann liegt das an uns – nicht am Gegenüber.»
Aufgrund der vielen Wechsel an der Departementsspitze wurde das Eidgenössische Justiz- und Polizeiderpartement (EJPD) in den Medien zuletzt als «Karriere-Dystopie» für Bundesräte oder als «B-Departement» bezeichnet. Schöll kann den Rochaden auch Gutes abgewinnen: «Wenn ein Bundesrat die Erfahrungen im EJPD und die Sensibilität für die Anliegen des Rechtsstaats später in ein anderes Departement mitnimmt, dann ist das positiv.»
Das Bundesamt für Justiz arbeitet im Hintergrund mit den anderen Departementen zusammen: «Wenn diese Gesetze oder Verordnungen erlassen wollen, holen sie unsere Expertise ein», so Schöll. Das Bundesamt prüft dann, ob der Bund in einem bestimmten Sachbereich überhaupt zuständig ist und ob die Vorschläge mit höherem Recht kompatibel sind. In den Parlamentskommissionen erklärt das Bundesamt für Justiz Vorlagen des Bundesrats und stellt seine Expertise zur Verfügung.
«Prototyp eines korrekten Beamten»
Bei wichtigen politischen Geschäften ist Schöll, der keiner Partei angehört, persönlich zugegen. Die Zürcher Nationalrätin Min Li Marti (SP), Mitglied der Rechtskommission und keine Juristin, attestiert Schöll, dass er komplexe Sachverhalte verständlich erkläre. Sie nehme ihn als «Prototyp eines korrekten Beamten» wahr. «Und das meine ich nicht negativ».
Zu den wichtigsten Arbeiten im Bundesamt für Justiz gehören aktuell die Aufarbeitung der Notrechtsanwendungen in jüngster Zeit. Dazu zog das Bundesamt eine Expertengruppe bei. Zuoberst auf dem Tisch liegen zudem diverse Digitalisierungsdossiers wie die elektronische Identität oder das Projekt Justitia 4.0.
Viel Arbeit für Schöll, der mit seiner Frau und drei Söhnen in Bern lebt. Für die Pflege von Hobbys wie dem Klavierspielen bleibt nur wenig Zeit. Dass es Schöll dereinst vom Amtsgebäude an der Marzili-Talstation hinauf ins Bundeshaus zieht, ist unwahrscheinlich. Es ist ohnehin fraglich, ob dies ein beruflicher Aufstieg wäre.