plädoyer: Mit dem Rahmenabkommen verpflichtet sich die Schweiz, neues EU-Recht zu übernehmen. Warum soll die Schweiz das tun?
Joëlle de Sépibus: Bei der Übernahme von EU-Recht geht es grundsätzlich darum, dass gewisse Marktzugangsabkommen aus dem Jahr 1999 aktualisiert werden. Damit soll garantiert werden, dass zwischen der Schweiz und der EU ein homogener Rechtsraum besteht. Eine Abnahme dieser Homogenität ist weder im Interesse der Schweiz noch der EU. Das ist der Grund, weshalb die EU diese dynamische Rechtsübernahme will. Es geht auch um die Vereinfachung aufwendiger staatsvertraglicher Anpassungsverfahren.
plädoyer: Funktionierte die Anpassung der Verträge auf freiwilliger Basis bisher nicht gut? Dazu braucht es doch keine automatische Übernahme von EU-Recht.
Stephan Breitenmoser: Durch den autonomen, sprich freiwilligen Nachvollzug im Rahmen der schweizerischen Gesetzgebung sowie im Rahmen der Rechtsprechung durch den vom Bundesgericht angewandten pragmatischen Auslegungsgrundsatz der parallelen Rechtslage können zwar einzelne Lücken und Unterschiede beseitigt werden. Dies reicht jedoch auf Dauer nicht. Mit der dynamischen Übernahme machten wir bisher denn auch gute Erfahrungen in den Bereichen von Schengen und Dublin sowie des Luftverkehrs. Eine solche ständige und institutionalisierte, aber nicht automatische Rechtsübernahme ist in eher technischen Bereichen in der Schweiz kaum umstritten, ganz im Unterschied zu Anpassungen bei einigen politisch heiklen Fragen.
De Sépibus: Es geht nicht um eine automatische Übernahme von EU-Recht. Die Rechtsetzungsautonomie der Schweiz bleibt gewahrt. Das Bundesgericht ermöglicht mit seiner Rechtsprechung eine gewisse Aktualisierung. Dies behebt jedoch nicht grundsätzlich das Problem der zunehmenden Rechtsabweichungen sowie das Entstehen neuer Marktzugangshürden. Der Status quo führt also zu einer zunehmenden Rechtsunsicherheit im Bereich der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.
Breitenmoser: Eine erhöhte Rechtssicherheit im bilateralen Vertragsverhältnis ist sicher wichtig, dürfte aber durch die zahlreichen im Rahmenabkommen offengelassenen Fragen ohne Klarstellungen in Zusatzerklärungen zum Rahmenabkommen gerade nicht erreicht werden. Für Rechtssicherheit im Einzelfall würden dann vielmehr das vorgesehene Schiedsgericht und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sorgen müssen, was für die Schweiz mangels Beteiligung am Rechtsetzungsverfahren im EU-Binnenmarkt und wegen der Abwesenheit im Europäischen Gerichtshof eine Verminderung der demokratischen Legitimation der Entscheide bedeutet.
plädoyer: Stellt das Rahmenabkommen nicht einfach eine Weiterführung der bisherigen bilateralen Verträge dar, wie oft behauptet wird?
Breitenmoser: Nein, es ist zwar eine Weiterentwicklung des bilateralen Wegs. Er erhält dabei aber einen verstärkten Integrationscharakter – bei gleichzeitiger Schwächung des bisherigen völkerrechtlichen und damit auf Konsens beruhenden Rechtscharakters. In einzelnen Bereichen wird dann nicht mehr das Bundesverwaltungsgericht oder das Bundesgericht das letzte Wort haben, sondern der Europäische Gerichtshof.
plädoyer: Das zur Diskussion stehende institutionelle Abkommen wäre nur für die Verträge zur Personenfreizügigkeit, zum Luft-, Güter- und Personenverkehr, zum Agrarhandel sowie zum Abbau technischer Handelshemmnisse zwischen der Schweiz und der EU anwendbar. Würden künftig weitere Bereiche dazukommen?
De Sépibus: Ja, das institutionelle Abkommen wird auch auf die neu abgeschlossenen Marktzugangsabkommen Anwendung finden. Es ist nicht sinnvoll, sich auf die fünf genannten Marktzugangsabkommen zu beschränken. Eine künftige Anwendung auf das Freihandelsabkommen ist ebenfalls sinnvoll.
plädoyer: Laut dem Rahmenabkommen soll im Streitfall ein Schiedsgericht eingesetzt werden. Die Schweiz und die EU ernennen je einen oder zwei Richter, diese bestimmen dann die dritte respektive fünfte Person, die auch den Vorsitz übernimmt. Wird es häufig zum Einsatz kommen?
De Sépibus: Nein, das zeigt der seit 25 Jahren bestehende Vertrag mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Die Schiedsgerichtsbarkeit kam nie zur Anwendung. Ich denke deshalb, dass auch das Schiedsgericht des Rahmenabkommens nicht oft aktiv werden muss. Die Parteien werden wahrscheinlich weiterhin versuchen, Lösungen auf einvernehmlicher Basis zu finden.
Breitenmoser: Es ist meines Erachtens weniger eine Frage der Anzahl von Fällen, als vielmehr der nun an die Stelle des Gemischten Ausschusses tretenden Gerichtsbarkeit – zunächst durch das Schiedsgericht und danach durch den Europäischen Gerichtshof. Denn im Gemischten Ausschuss setzen Vertreter der Schweiz und der EU die bilateralen Verträge einvernehmlich um. Weil durch diesen erforderlichen Konsens aber mehrere Beschlüsse gerade auch in den Bereichen des Freizügigkeitsabkommens gegenwärtig blockiert sind, sollen das Schiedsgericht und – mit Bezug auf die Auslegung von dabei anwendbarem EU-Recht – der Europäische Gerichtshof eine Klärung herbeiführen. Im EWR gibt es im Übrigen laufend Verfahren gegen Efta-Mitgliedstaaten wegen der Übernahme von neuem EU-Recht. Nur finden diese Verfahren nicht vor einem Schiedsgericht, sondern vor dem Efta-Gerichtshof statt.
plädoyer: Schiedsgerichte sind bei Streitfragen zu völkerrechtlichen Verträgen üblich. Weshalb braucht es den Europäischen Gerichtshof noch?
De Sépibus: Das Schiedsgericht entscheidet per Mehrheitsbeschluss, ob eine Frage dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt wird. Es würde das sehr wahrscheinlich nur tun, wenn eine Frage offen wäre, die der Gerichtshof noch nie behandelt hat. Wenn es um die Interpretation von EU-Recht geht – beispielsweise bezüglich Personenfreizügigkeit –, entscheidet sinnvollerweise der Europäische Gerichtshof. Ich denke, es wird insgesamt wenig Schiedsgerichtsfälle geben, die dann aber mehrheitlich vom Gerichtshof behandelt werden. Denn die meisten Abkommen enthalten nun einmal viel EU-Recht.
Breitenmoser: Ja, wenn es um die Anwendung und Auslegung des von der EU geschaffenen Rechts des EU-Binnenmarkts geht, an dem die Schweiz teilnimmt, ist die Letztentscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs wohl unbestritten. Doch ob es sich in einem Einzelfall um eine solche Frage für den Gerichtshof oder um eine Frage der Anwendung und Auslegung des Rahmenabkommens selber handelt, sollte das Schiedsgericht eigenständig und abschliessend entscheiden.
plädoyer: Im Rahmenvertrag steht nichts von der Unionsbürgerrichtlinie. Könnte die EU gestützt auf das Rahmenabkommen künftig diese Unionsbürgerrichtlinie vor das Schiedsgericht bringen?
De Sépibus: Die EU wird im Bereich der Sozialhilfe sehr wahrscheinlich weitere Zugeständnisse der Schweiz suchen – ganz unabhängig vom Rahmenabkommen, aufgrund der bereits bestehenden Freizügigkeit. Und zumindest verlangen, einen Teil aus der Unionsbürgerrichtlinie zu übernehmen, etwa einen Sozialhilfeanspruch von Stellensuchenden. Wird das Rahmenabkommen angenommen, kann diese Frage durch das Schiedsgericht entschieden werden. Es hat dann zu entscheiden, ob diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden muss.
Breitenmoser: Klarheit darüber könnten insbesondere zweiseitige Erklärungen etwa in einem Briefwechsel oder Notenaustausch bringen. Bei der Anwendung und Auslegung des Freizügigkeitsabkommens in Einzelfällen dürfte der angerufene Europäische Gerichtshof jedoch immer wieder auf seine eigene Rechtsprechung abstellen, die das Freizügigkeitsrecht stets auch unter Berücksichtigung der Unionsbürgerrechte auslegt und entwickelt.
plädoyer: Muss damit gerechnet werden, dass am Ende das Schiedsgericht beschliessen wird, ob die Schweiz Zuzüger aus der EU, die gleich arbeitslos werden und Sozialhilfe beziehen, im Land behalten und finanzieren muss?
De Sépibus: Das ist möglich. Die Schweiz behält aber das Recht, den Entscheid nicht umzusetzen. In diesem Fall muss sie jedoch gewärtigen, dass die EU verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen erlässt.
Breitenmoser: Ich sehe im Rahmenabkommen ebenfalls keine Anhaltspunkte, warum dies ausgeschlossen sein sollte. Genau diese Frage ist gegenwärtig beim Gemischten Ausschuss blockiert. Weil dabei das Schiedsgericht mitunter aber zum Schluss kommen dürfte, dass es selber nicht beurteilen kann, welche Rechte und Ansprüche in einem Einzelfall aus dem Freizügigkeitsrecht und welche aus der Unionsbürgerrichtlinie abzuleiten sind, müsste hierüber letztlich der Europäische Gerichtshof entscheiden.
plädoyer: Das Rahmenabkommen regelt auch staatliche Beihilfen an Unternehmen. Muss die Schweiz Kantonalbanken, Gebäudeversicherungen und Elektrizitätswerke künftig privatisieren, wie teilweise behauptet wird?
De Sépibus: Nein, es geht bei den Beihilferegeln nicht um die Privatisierung von Unternehmen, sondern um die Vermeidung von Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Subventionen. Laut Rahmenvertrag finden die EU-Beihilferegeln nur auf die Abkommen Anwendung, welche sich auf das europäische Beihilferecht beziehen. Dies ist heute einzig beim Luftverkehrsabkommen der Fall. Wenn das Stromabkommen abgeschlossen wird, gelten sie auch dort. Es ist falsch, die EU-Beihilferegeln immer in einem negativen Licht zu sehen. Die EU will den Wettbewerb verbessern – mit gleichen Spiessen für alle. Die Mitgliedstaaten müssen staatliche Beihilfen bekanntgeben und transparent machen. Heute kann jeder auf einer europäischen Website nachschauen, ob ein Unternehmen in der EU Beihilfe von einem Staat oder Gemeinwesen erhält oder nicht. Kleine Beihilfen ohne grosse Auswirkungen auf den Wettbewerb sind kein Problem. Solange die Beihilfen den durch die EU festgelegten Kriterien entsprechen, muss keine vorangehende Erlaubnis bei der Europäischen Kommission eingeholt werden. Die Kantone lehnen die EU-Beihilferegelung ab, weil sie bis heute oft in einer Blackbox agieren können. Dies kann auch ein Einfallstor für Missbrauch darstellen.
Breitenmoser: Wenn die Schweiz das Beihilfenrecht der EU übernimmt, wird ihre Fähigkeit, eine eigenständige Wirtschaftsförderung und Standortpolitik zu betreiben, nachhaltig beeinträchtigt. Die EU möchte ihr Beihilferecht insgesamt in der Schweiz anwenden, und dies nicht nur im Luftverkehr oder im Strombereich. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir dies im Rahmen eines Briefwechsels oder Notenaustauschs mit der EU ausdrücklich ausschliessen. Meines Erachtens sollten wir jetzt auf die EU zugehen und dies verlangen. Um die Kantone geschlossen hinter dem Rahmenabkommen zu wissen, wäre es meines Erachtens sinnvoll, dass die Schweiz ihr eigenes Beihilfenrecht entwickelt, das unseren eigenen wirtschaftlichen Bedürfnissen entspricht und mit unserem Verfassungsrecht und unserer föderalistischen Struktur vereinbar ist.
plädoyer: Die Gewerkschaften bekämpfen das Rahmenabkommen, weil bei den flankierenden Massnahmen die Meldefrist für Arbeitseinsätze in der Schweiz von acht Tagen auf vier reduziert würde. Nach einem EU-Leitfaden sollen für Entsendungen bis zu acht Tagen keinerlei Arbeitskontrollen zulässig sein. Muss die Schweiz damit rechnen, dass die EU Konzessionen später noch aushebelt?
De Sépibus: Die Konzessionen im Rahmenvertrag sind verbindlich. Ein Leitfaden ist ein Arbeitsinstrument und innerhalb der EU kein bindendes Recht, sondern eine Anleitung an die Mitgliedstaaten, wie sie die neuen Richtlinien umsetzen sollen. Daraus also irgendwelche Schlüsse für die Schweiz zu ziehen, ist falsch. Ob die Übernahme des EU-Rechts automatisch zu einer Verschlechterung des Lohnschutzes führen würde, bezweifle ich. Die EU hat den Schutz der Angestellten kürzlich gestärkt. Die Schweiz ist in diesem Punkt zudem selbst nicht kohärent: Wir haben ein sehr liberales Arbeitsrecht – und tun jetzt so, als ob wir die grossen Lohnschützer wären. Das stimmt nicht.
Breitenmoser: Rechtlich bilden die von den Gewerkschaften gezogenen roten Linien der Lohnschutzmassnahmen nicht die grössten Hindernisse für ein Rahmenabkommen. Denn ob beispielsweise die Meldefrist vier oder acht Tage beträgt, ist angesichts der heutigen Technologie nicht entscheidend.
plädoyer: Soll die Schweiz das vorliegende Rahmenabkommen unterzeichnen oder weiterverhandeln?
De Sépibus: Ich bin dafür, dass jetzt unterzeichnet wird. Die Vorteile sind offensichtlich. Wir gewinnen Rechtssicherheit. Zudem kann die allmähliche Erosion des bilateralen Wegs, insbesondere die Zunahme von neuen Handelshemmnissen verhindert werden. Ein weiteres Zuwarten wäre zudem mit gewichtigen Nachteilen auch in anderen Bereichen wie beispielsweise der Forschung verbunden.
Breitenmoser: Jetzt das Rahmenabkommen zu unterzeichnen, würde ich als voreilig erachten, weil danach kaum mehr die erforderlichen Klarstellungen und Ergänzungen möglich wären. Das «Ja, aber»-Ergebnis des Konsultationsverfahrens hat denn auch klar gezeigt, dass ein Rahmenabkommen ohne solche Präzisierungen politisch nur schwer die Hürden eines obligatorischen Referendums schaffen würde und dadurch die Fortsetzung des bilateralen Wegs gefährdet wäre. Wegen der sinnvollerweise vorab zur Abstimmung gelangenden Initiative über die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens besteht letztlich auch kein zeitlicher Druck für eine rasche Paraphierung und Unterzeichnung.
Konsultationsverfahren zum Rahmenabkommen
Der Entwurf des Institutionellen Abkommens zwischen der Schweiz und der EU – auch Rahmenabkommen genannt – liegt seit Anfang Jahr in deutscher Übersetzung vor. Aufgrund der Bedeutung konsultierte der Bundesrat Parteien, Experten, Sozialpartner und Wirtschaft zu ihrem Standpunkt. Über die Ergebnisse der Konsultation wird der Bundesrat voraussichtlich vor den Sommerferien berichten. Das Rahmenabkommen wirkt sich aus auf die Verträge zur Personenfreizügigkeit, zum Luft-, Güter- und Personenverkehr, zum Agrarhandel sowie zum Abbau technischer Handelshemmnisse. Diese Bereiche sollen künftig stetig an neues EU-Recht angepasst werden.
Primär suchen Schweizer und EU-Vertreter bei Meinungsverschiedenheiten wie bisher in einem gemischten Ausschuss eine einvernehmliche Lösung. Bei Streitfragen darf jede Partei ein Schiedsgericht aufrufen. Die Schweiz und die EU stellen dann gleich viele Schiedsrichter. Diese wählen einen Vorsitzenden.
Fragen zur Auslegung von EU-Recht legt das Schiedsgericht dem Europäischen Gerichtshof vor und ist an dessen Auslegung gebunden. Das Schiedsgericht entscheidet abschliessend.
Der Link zum Entwurf:
Joëlle de Sépibus ist Privatdozentin für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, Gastprofessorin am Europakolleg in Brügge, Vizepräsidentin der Vereinigung Schweiz in Europa.
Stephan Breitenmoser, 64, seit 2007 Richter am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen (CVP), ist Professor für Europarecht an der Universität Basel und Konsulent der Anwaltskanzlei Lexpartners, Basel.