plädoyer: Staatsrechtler kritisieren die Verbindung von zwei unterschiedlichen Inhalten beim Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung. Sehen Sie das auch so?
René Rhinow: Ja. Es wurden zwei absolut unterschiedliche Themen gesetzgeberisch miteinander verknüpft, ohne dass unter ihnen ein klar ersichtlicher Sachzusammenhang besteht. Damit wurde die Einheit der Materie verletzt.
Andreas Kley: Es handelt sich tatsächlich um zwei grundverschiedene Sachen. Das ist aber nicht das erste Mal, dass das Parlament verschiedene Sachgebiete in einem Gesetz miteinander verknüpfte. Ich denke beispielsweise an die Volksabstimmung vom Mai 2017 über die Energievorlage. Dieses Energiegesetz änderte im Anhang elf Bundesgesetze aus allen möglichen Rechtsgebieten. Hier wurde ein riesiges Sammelsurium von Inhalten zusammengepackt, obwohl sie nicht das Geringste miteinander zu tun hatten. Als gemeinsamer Nenner diente die Überschrift: Bauen und Energie. Einen inneren Zusammenhang hatte die Vorlage nicht. Niemand kritisierte, die Einheit der Materie sei verletzt.
plädoyer: Sehen Sie bei der kommenden Abstimmung über die Senkung der Unternehmenssteuern und die Erhöhung der AHV-Prämien einen gemeinsamen Nenner?
Kley: Nein, es gibt hier keinen gemeinsamen Nenner. Links und Rechts schenkten sich im Parlament gegenseitig etwas. Eine Vorlage, die nur die Steuerreform ohne die AHV-Finanzierung enthalten hätte, wäre im Parlament gescheitert.
plädoyer: Sehen Sie Grenzen solcher Kombinationen von Inhalten ohne gemeinsamen Nenner? Was würden Sie sagen, wenn das Parlament einen Waffenexport an Bürgerkriegsländer mit einem Vaterschaftsurlaub kombinieren würde?
Kley: Rein rechtlich würde ich es akzeptieren. Aber politisch gesehen, kann eine solche Vorgehensweise dumm sein. Eine Vorlage, die zwei dermassen unvereinbar und schlecht geschnürte Inhalte miteinander verbindet, ist zum Scheitern verurteilt.
Rhinow: Ich teile die Meinung von Herrn Kley nicht. Für ihn ist es sinnvoll, unterschiedliche Inhalte zu kombinieren. Er begründet das politisch. Mein Ansatzpunkt ist aber ein rechtlicher. Und dieser fragt: Welche Materien können aus der Sicht des Stimmbürgers kombiniert werden, damit er seinen Willen frei äussern kann? Er soll ja nicht in eine Zwangslage kommen, in der er einem Inhalt zustimmen muss, den er gar nicht will.
Kley: Hier unterscheiden sich unsere Ansichten diametral. Die Bundesverfassung erwähnt den Grundsatz der Einheit der Materie explizit als Gültigkeitserfordernis für Volksinitiativen für eine Teilrevision der Bundesverfassung (Artikel 139 Absatz 2) sowie allgemein für jegliche Teilrevisionen der Bundesverfassung (Artikel 194 Absatz 2). Es gibt aber keinen Artikel in der Verfassung, der verlangt, dass Bundesgesetze die Einheit der Materie wahren müssen, damit in der Referendumsabstimmung der Stimmbürger seinen Willen differenziert ausdrücken kann. Er ist gerade nicht ein Parlamentarier, der das tun können muss, sondern er hat diese Aufgabe an seine Vertreter delegiert, die das Gesetz ausarbeiten.
plädoyer: Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung garantiert unter dem Titel «Politische Rechte» die «unverfälschte Stimmabgabe» der Bürger. Ist diese Bestimmung toter Buchstabe?
Kley: Nein, aber für Abstimmungen über Bundesgesetze ist dieser Artikel nicht massgebend. Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit ist zwar ein Grundrecht. Das Bundesgericht hat zu kantonalen Gesetzen eine breite Rechtsprechung entwickelt. Es verlangt die Einheit der Materie für die kantonale Gesetzgebung. Natürlich kann man nun auf Bundesebene sagen: Wenn dieser Grundsatz für die Kantone gilt, dann soll er auch für den Bundesgesetzgeber gelten. Es ist aber so, dass die Verfassung von 1999 nur für Teilrevisionen der Bundesverfassung vorsieht, dass die Einheit der Materie beachtet werden muss. Zu den Bundesgesetzen steht nichts in der Verfassung. Wenn dieser Grundsatz auch für die Bundesgesetzgebung gelten sollte, verstehe ich nicht, warum es der Verfassungsgeber von 1999 in Artikel 164 der Bundesverfassung (Gesetzgebung) unterliess, einen Absatz analog zu Artikel 194 Absatz 2 aufzunehmen. Beispielsweise so: «Die Bundesgesetze müssen die Einheit der Materie wahren.»
plädoyer: Herr Rhinow, Sie waren Ständerat, als 1999 die neue Bundesverfassung beraten wurde. War die Einheit der Materie bei Bundesgesetzen damals ein Thema?
Rhinow: Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung lautet: «Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe.» Daraus haben Lehre und Bundesgericht seit langem abgeleitet, dass darunter auch die Einheit der Materie gehört. Ich war tatsächlich bei der Verfassungsrevision Mitglied des Ständerats und muss betonen: In der Botschaft war die Einheit der Materie als Teilgehalt von Artikel 34 BV ausdrücklich erwähnt. In den Verfassungskommissionen der beiden Räte wusste man also sehr wohl, was man beschliesst. Deshalb kann man rechtlich nicht bestreiten, dass die Einheit der Materie im Grundsatz auch für die Bundesgesetzgebung gilt.
Kley: Die Botschaft erwähnt ausschliesslich die Einheit der Materie im Fall der Teilrevision. Ich kritisiere die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Bei dieser Rechtsprechung zu kantonalen Gesetzen ist bedenklich, dass das Bundesgericht mit dem Grundsatz der Einheit der Materie nicht umgehen kann. Es gibt eine Reihe von Entscheiden, in denen das Bundesgericht eine Verbindung von extrem gegenteiligen Materien akzeptiert, die aus regionalpolitischen Gründen kombiniert wurden. Etwa im Kanton Wallis: Hier wurden in einer Finanzvorlage ein Schul- und ein Spitalprojekt verbunden. Umgekehrt kritisierte das Bundesgericht – völlig zu Recht – das Neuenburger Parlament, weil es einen Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative betreffend Kinderbetreuung mit einer Steuervorlage verknüpfte. Das Bundesgericht hat also grosse Mühe, die Einheit der Materie vernünftig nach klaren Kriterien umzusetzen. Es entscheidet ohne Kriterien, ob verschiedene Inhalte zusammengeführt werden dürfen oder nicht. Grundsätzlich ist es grosszügig. Aber es gibt immer wieder diese Ausreisser.
plädoyer: Würden Sie als Gesetzgeber bei Bundesgesetzen die Einheit der Materie berücksichtigen?
Kley: Ich fände es gut, wenn ein oberstes Gericht – also ein Verfassungsgericht – diesen Grundsatz anwenden würde. Aber die Bundesversammlung ist dafür ungeeignet. Denn auch sie wendet den Grundsatz willkürlich an. Beispielsweise erklärte die Bundesversammlung die Armeehalbierungs-Initiative für ungültig. Das war ein reiner Willkürakt. Hingegen genehmigte sie die Kombination von Spielbanken und AHV-Finanzierung. Bei der Initiative zur Halbierung der Armee war der Sachverhalt exakt der gleiche: Geld sparen bei der Armee, verbunden mit einem Ausbau der Sozialversicherungen. Das Parlament ist ein schlechter Wärter der Volksrechte. Das Parlament entscheidet opportunistisch. Wir brauchen also ein Verfassungsgericht, das den Grundsatz der Einheit der Materie korrekt anwendet. Wenn das die Bundesversammlung macht, ist es das Gleiche, wie wenn Hunde das Wurstlager bewachen.
plädoyer: Herr Rhinow, diese Kritik richtet sich indirekt auch an Sie. Sie waren zwölf Jahre Mitglied des Parlaments. Teilen Sie die Meinung von Herrn Kley?
Rhinow: Vorerst: Mein lieber Kollege irrt sich – verfassungsgeschichtlich. In der bundesrätlichen Botschaft zur Verfassungsreform wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass Artikel 34 Absatz 1 der Bundesverfassung auch den Grundsatz der Einheit der Materie enthält. Dies mit Verweis auf einen Entscheid des Bundesgerichts, in dem es heisst: «Der Grundsatz der Einheit der Materie ist bei allen Vorlagen zu beachten, die auf Initiative hin oder aufgrund eines (obligatorischen oder fakultativen) Referendums dem Volk einzeln zur Abstimmung unterbreitet werden.» Ich stimme mit Andreas Kley aber darin überein, dass die Bundesversammlung nicht das geeignete Organ ist, um über den Grundsatz der Einheit der Materie zu entscheiden. Ich würde dafür ebenfalls eine unabhängige Behörde vorsehen. Am besten ein Gericht – das Bundesgericht oder ein Verfassungsgericht. Ich bin mit ihm auch gleicher Meinung, dass die Praxis des Parlaments nicht konsistent ist. Auch in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gibt es Ausreisser. Das Bundesgericht ist ja ein Kollegialgericht. Es ist aber absurd, dem Bundesgericht vorzuwerfen, es entscheide willkürlich. Das Bundesgericht hat sich jahrzehntelang bemüht, den Grundsatz der Materie zu konkretisieren.
plädoyer: Gab es während Ihrer Tätigkeit als Ständerat jemals eine Abstimmungsvorlage zu einem Bundesgesetz, in der zwei derart unterschiedliche Themen vom Parlament zu einem Gesetz kombiniert wurden, wie das beim Steuer-AHV-Deal gemacht wurde?
Rhinow: Nein. Aber Sammelvorlagen kamen immer wieder vor. Beispiel: Es wurde eine Sparvorlage beraten, in der sechs oder sieben verschiedene Gesetze revidiert wurden, bei denen man überall sparen will. Hier kam im Parlament immer wieder die Frage auf, ob man das machen darf. Die Antwort war immer «Ja», weil die Gesetzesänderungen ein gemeinsames Ziel hatten – nämlich Geld zu sparen. Wenn man den Grundsatz der Einheit der Materie als Abstimmungsfreiheit aber ernst nimmt, sollte man Kriterien entwickeln, welche die Grenzen solcher Auflagen aufzeigen. Man kann nicht alles miteinander kombinieren. Das verbietet der Grundsatz der Abstimmungsfreiheit. Wie gesagt: Der Stimmbürger soll nicht in eine Zwangslage kommen, zu etwas Ja zu sagen, das er nicht will.
Kley: Wir reden jetzt vom Stimmbürger. Hier spielt Artikel 34 der Bundesverfassung sicher eine Rolle. Aber der zweite sehr grosse Player, der ins Spiel kommt, ist das Parlament. Das Parlament selbst ist ein demokratisches Organ. Seine Hauptaufgabe ist die Erzeugung des Staatswillens, der in den Gesetzen seinen Ausdruck findet. Zu diesem Zweck braucht es den Kompromiss. Das ist die Essenz der Demokratie. In der Bundesversammlung sitzen demokratisch gewählte Volksvertreter. Sie haben das Recht, eine Vorlage zu spalten – oder zusammenzufügen. Die Vorlage vom 19. Mai ist ein solches Beispiel. Diese Vorlage klappte nur über einen Kompromiss. Dieser ist politischer Natur und kein rechtliches Phänomen.
Rhinow: Wenn sich ein Parlament in einer so wichtigen Materie wie der Steuerpolitik nicht einigen kann, ist das ein Kompromissversagen! Dann hat die Polarisierung dazu geführt, dass das Parlament nicht in der Lage ist, eine Lösung zu finden. Im Hinblick auf Artikel 34 der Bundesverfassung aber ist die Überlegung nicht entscheidend, ob die Materie vor dem Volk eine Chance hat. Die zentrale Frage ist, ob ich als Stimmbürger meinen Willen frei und unverfälscht äussern kann.
plädoyer: Der Stimmbürger kann die Kompromissvorlage ja ablehnen, wenn er mit der Kombination der unterschiedlichen Materien nicht einverstanden ist.
Kley: Genau. Und das Parlament kann dann darauf reagieren, in dem es sich sagt: Diese Vorlage ist gescheitert, weil wir die Inhalte nicht gut kombiniert haben. Und es kann eine neue Vorlage bringen.
Rhinow: Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das Abstimmungsergebnis soll doch klar sein. Es soll klar sein, was das Volk mit seinem Ja oder Nein meint. Das Ja oder Nein zu einer Kombination von zwei grundverschiedenen Materien ist aber völlig unklar. Ist es ein Ja zu beiden verknüpften Vorlagen oder in unserem Beispiel ein zähneknirschendes Ja nur zur Steuervorlage? Wäre es ein Nein zu einer oder zu beiden Vorlagen? Oder ist es ein Nein zur Kombination?
Kley: Das Ergebnis ist immer klar. Das Stimmvolk ist nicht das Parlament, es debattiert nicht, es begründet seinen Mehrheitsentscheid nicht. Wenn wir annehmen, dass die Einheit der Materie auch bei Bundesgesetzen gilt, haben wir bei Abstimmungen über Kodifikationen wie das Zivil- oder das Strafgesetzbuch ein Problem. Das ZGB enthält Hunderte von Artikeln zu extrem unterschiedlichen Materien. Ein Stimmbürger kommt bei einer Abstimmung in eine Zwickmühle. Vielleicht ist jemand gegen die Homo-Ehe. Oder nicht zufrieden, wie die Ehescheidung geregelt ist, will die Haustiere als Personen anerkennen und möchte auch ein völlig anderes Grundbuch-System. Bei einer allfälligen Abstimmung zu einem neuen ZGB kann man die Einheit der Materie nicht berücksichtigen. Man kann den Stimmbürgern zwar jeden Titel einzeln vorlegen. Am Ende hätten wir ein lückenhaftes Gesetz.
Rhinow: Wenn es um die Einheit der Materie geht, sollte man die geschichtlichen Dimensionen nicht ausblenden. Historisch gesehen hat der Bund auf dem Gebiet des Zivilrechts die Kompetenz erhalten, Gesetze zu verabschieden. Damals war klar, dass es ein Zivilgesetzbuch gibt. Es gab Vorläufer in Deutschland, Frankreich oder Österreich. Ein Zivilgesetzbuch ist ein klassisches Beispiel für eine einzige Materie in der damaligen Sicht. Auch Walther Burckhard, der Kommentator der Bundesverfassung von 1874, beschreibt die Einheit der Gesetzgebung und nennt dabei ausdrücklich als Beispiel das Zivilgesetzbuch. Es war also klar, dass auch bei einem Gesetz die Einheit der Materie gilt. Wenn man sich die Frage stellt, was man der Bevölkerung zur Abstimmung unterbreiten soll, gibt es für mich ein wichtiges Kriterium: Ist eine Materie beim Volk stark umstritten? Ist das so, müsste man die Vorlage auftrennen, damit an der Urne eine klare Meinungsäusserung möglich ist.
Kley: Politisch gesehen ist es nicht geschickt, grosse Pakete mit diversen Gesetzesänderungen zusammenzuschnüren. Aber das Parlament darf dem Volk solche Pakete zur Abstimmung vorlegen. Natürlich kann es wünschbar sein, dass die Bürger bei solchen Abstimmungen eine differen-zierte Wahl treffen können. Aber es geht nicht, das damit zu be-gründen, der Stimmbürger habe einen Rechtsanspruch auf diffe-renzierte Meinungskundgabe.
plädoyer: Die Abstimmung über den Steuer-AHV-Deal findet am kommenden 19. Mai statt. Können die Stimmbürger das Ergebnis der Abstimmung wegen Verletzung der Einheit der Materie anfechten?
Kley: Anfechten kann man alles. In diesem Fall mit der Abstimmungsbeschwerde nach Artikel 77 Absatz 1 Buchstabe b des Bundesgesetzes über die politischen Rechte. Aber das Bundesgericht darf den Entscheid der Bundesversammlung zur Vorlage nicht überprüfen. Dieser ist gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung massgebend.
AHV-Steuer-Deal verletzt die Einheit der Materie
Am 19. Mai haben die Stimmberechtigten über ein Bundesgesetz abzustimmen, das Steuerreduktionen für Unternehmen mit der Erhöhung der AHV-Prämien verbindet. Die Vorlage verletzt die Einheit der Materie. Nach diesem Grundsatz dürfen zwei oder mehr Sachfragen nicht miteinander zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden. Sonst können die Stimmberechtigten an der Urne ihren Willen nicht klar äussern. Umstritten ist, ob der Grundsatz der Einheit der Materie nur für die Teilrevisionen der Bundesverfassung gilt oder auch für Bundesgesetze.
René Rhinow, 76, ist emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität Basel. Er war von 1987 bis 1999 Ständerat (FDP).
Andreas Kley, 59, ist Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie
an der Universität Zürich.