Gerichtsöffentlichkeit, welche diesen Namen verdient, kann von Medienschaffenden nur hergestellt werden, wenn es ihnen möglich ist, professionell zu arbeiten. Das heisst, Medienschaffende brauchen vor allem eines: möglichst vollständige und überprüfbare Fakten. Wird das von der Justiz eingelöst?
Nein. Von vollständigen Fakten können Journalisten nur träumen. Und überprüfen lassen sich die erhaltenen Informationen nur beschränkt und mit grossem Aufwand.
Ohne Zugang zu den Akten keine professionelle Arbeit
Solange vor Gericht kein Unmittelbarkeitsprinzip gilt, solange Gerichtsentscheide zur Effizienzsteigerung auf der Grundlage von Akten gefällt werden, operieren Gerichtsreporter im Blindflug. Denn sie haben keinen Zugriff auf diese Akten.
Die Arbeit als Gerichtsreporter hat mit professionellem Journalismus, wie ich ihn gelernt habe, wenig zu tun. Mein Fazit: Es gibt keine Gerichtsöffentlichkeit, die diesen Namen verdient. Hier drei Beispiele zum besseren Verständnis des Problems.
Beispiel Aktenprozess: Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, mit Hilfe einer fiktiven Stornobuchung mehrmals Geld aus der Firmenkasse genommen zu haben. Er bestreitet dies und untermauert seine Aussage mit dem Hinweis: Er habe das Geld gar nicht aus der Kasse nehmen können, weil man immer zu zweit an der Kasse sein müsse bei einer Storno-Geldentnahme. Trotzdem wird der Mann vom Richter wegen Diebstahls verurteilt.
Viele Fragen bleiben offen: Stimmt es gar nicht, dass man zu zweit sein muss für eine solche Geldentnahme aus der Kasse? Gibt es irgendwelche Beweise? Gibt es allenfalls eine Videoaufnahme, die den Diebstahl beweist? Falls ja, wusste der Beschuldigte, dass der Raum per Video überwacht wird? Oder ist eine allfällige Überwachung widerrechtlich erfolgt?
Fragen über Fragen, die ein professionell arbeitender Journalist klären müsste. Stattdessen muss der Journalist aufgrund des kompetenten professionellen Eindrucks, den der Bezirksrichter hinterlässt, glauben, dass er Beweise hat, die stichhaltig und überzeugend sind sowie rechtmässig erhoben wurden. Doch hätte ich über den Glauben schreiben wollen, hätte ich Theologie studiert.
Ich argumentiere bei meinem aktuellen Fall gegenüber dem Gericht mit Artikel 101 Absatz 3 der Strafprozessordnung. Dieser ermöglicht bei einem schützenswerten Interesse eine Einsicht in die Akten. Allerdings hat der Richter dieses Ansinnen abgelehnt. Nun liegt die Angelegenheit als Beschwerde beim Kantonsgericht Luzern. Von einem einfachen Zugang zu den Fakten kann keine Rede sein.
20 Franken für die Einsicht in einen Strafbefehl
Beispiel Strafbefehl: In einem Strafverfahren waren zwei Beschuldigte involviert: Der erste akzeptierte den Strafbefehl, der zweite nicht. Für den Journalisten wäre es wichtig, den Strafbefehl des inzwischen Verurteilten zu erhalten, insbesondere weil in der Gerichtsverhandlung gegen den andern mehrmals darauf Bezug genommen wird.
Ich frage nach diesem Strafbefehl: Der Staatsanwalt wäre einverstanden, ihn mir zu geben. Aber die Medienstelle der Staatsanwaltschaft stellt sich quer. Ich erhalte Tage später das Angebot, den Strafbefehl im Büro der Staatsanwaltschaft abzuschreiben. Eine Kopie dürfe nicht ausgehändigt werden. Fotografieren oder Scannen gehe auch nicht. Und die Einsichtnahme koste 20 Franken.
Ich weiss, dass es durchaus üblich ist, Journalisten Strafbefehle abschreiben zu lassen. Trotzdem kann ich diesem Vorschlag nichts abgewinnen und reklamiere bei der Chefetage der Staatsanwaltschaft. Freundliche Antwort: Man erlasse mir die 20 Franken Gebühren.
Ich lege mich ins Zeug und versuche, der Staatsanwaltschaft die Errungenschaften moderner Technologie nahezubringen, halte ein feuriges Plädoyer für E-Mails und PDF. Und weil ich an der Uni Luzern durchaus Nützliches im Umgang mit Verwaltungsstellen gelernt habe, verlange ich zu guter Letzt eine anfechtbare Verfügung. Denn das Bundesgericht hat mit dem Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006 entschieden, dass Bestandteil des Rechts, Einsicht in den Strafbefehl nehmen zu können, das Recht sei, eine Kopie davon erstellen zu lassen. Die «Abschreibepraxis» der Staatsanwaltschaften, welche Journalisten daran hindert, effizient zu arbeiten, hält somit vor Bundesgericht nicht stand. Zuletzt erhielt ich den Strafbefehl, ohne dass der Rechtsstaat deswegen kollabiert wäre.
Unheimliche Entscheide über Zwangsmassnahmen
Beispiel Zwangsmassnahmengerichte: Bei Zwangsmassnahmen geht es um staatlichen Zwang, was geradezu nach einer Überprüfung durch die Öffentlichkeit schreit. Aber: Die Verhandlungen vor den Zwangsmassnahmengerichten sind nicht öffentlich. Ich sehe keinen nachvollziehbaren Grund, die Medien generell von einer solchen Verhandlung auszuschliessen. Ich habe mich erfolglos um eine Ausnahmebewilligung bemüht. Da verschwinden Leute teilweise für lange Zeit hinter Gittern, ohne verurteilt zu sein, aus juristischer Sicht zu diesem Zeitpunkt unschuldig. Und was erfahren die Medien im Auftrag der Öffentlichkeit? Nichts! Und was mich daran am meisten stört: Niemanden scheint das zu stören.
Es müsste jedoch gewaltig stören. Dies umso mehr, als unsere Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte von politischen Parteien portiert werden. Sind sie dann gewählt, zahlen sie den Parteien im Gegenzug Geld für die Portierung.
Fazit: Das Prinzip der Justizöffentlichkeit ist ausgehebelt worden. Wir müssen uns einsetzen für eine Justizöffentlichkeit, welche diesen Namen verdient und qualitativ guten Journalismus ermöglicht. Akkreditierten Journalistinnen und Journalisten muss ein direkter Zugriff auf Protokolle, Strafbefehle, Anklagen, Plädoyers, Urteile und Begründungen gewährt werden. Ohne Wenn und Aber.