plädoyer: Vor gut zwei Jahren hat die neue Strafprozessordnung die Möglichkeit des abgekürzten Verfahrens geschaffen. Jetzt verlangt Nationalrat und Professor Daniel Jositsch bereits die Abschaffung. Es fördere Fehlurteile, da ein grosser Druck auf den Beschuldigten laste, eine Straftat zuzugeben. Sind Sie gleicher Meinung?
Felix Bommer: Es stimmt, dass beim abgekürzten Verfahren der Druck auf Beschuldigte gross sein kann. Und dass man ihnen die Chance auf einen Freispruch nimmt. Insofern ist es kein Strafverfahren, in dem ein Freispruch möglich ist. Abschaffen scheint mir nach zwei Jahren Erfahrung eine zu radikale Lösung. Man müsste die Voraussetzungen präzisieren.
Niklaus Ruckstuhl: Daniel Jositsch geht von einem falschen Ansatz aus. Man muss kein Geständnis abgelegt haben, damit ein abgekürztes Verfahren eingeleitet werden kann. Die Verteidigung soll zuerst mit dem Staatsanwalt «dealen», unter welchen Umständen ein abgekürztes Verfahren möglich ist. Erst nach einer Einigung erfolgt das Geständnis – im vollen Wissen des Beschuldigten um die Folgen.
plädoyer: Führt dieses Dealen nicht dazu, dass Fehlurteile gefördert werden? Wenn jemand einen langen und öffentlichen Prozess vermeiden will, ist er vielleicht geneigt, Taten zu gestehen, die er gar nicht begangen hat.
Ruckstuhl: Es gibt eine Untersuchung von Karl Peters aus Deutschland, die auf andere Gründe für Fehlurteile hinweist: Fehlende Verteidigung, ein Beschuldigter will jemanden schützen oder durch ein falsches Geständnis Schlimmeres verdecken. Solche Fehlurteile kommen auch im ordentlichen Verfahren vor.
plädoyer: In einer in der «Süddeutschen Zeitung» publizierten Umfrage aus Deutschland haben mehr als die Hälfte der Anwälte von wahrscheinlichen Falschgeständnissen ihrer Mandanten berichtet, um mit einer niedrigeren Strafe davonzukommen.
Bommer: Für Falschgeständnisse und Fehlurteile gilt: Solange man nicht weiss, was sich in Wirklichkeit abgespielt hat, kann man nichts dazu sagen. Es ist aber plausibel, dass das abgekürzte Verfahren die Tendenz zu falschen Geständnissen in sich trägt.
Ruckstuhl: Bei Vergleichen mit Deutschland muss man aufpassen: Das Verständigungsverfahren ist anders geregelt. In meinen Augen ist die deutsche Regelung unhaltbar, weil das Gericht den Einigungsvorschlag und den Strafrahmen den Parteien unterbreitet. Da denken viele Beschuldigte, dass das Gericht sie sowieso für schuldig hält, sonst würde es diesen Vorschlag nicht machen. Dann geht es nur noch um Schadensbegrenzung, wenigstens eine Strafe innerhalb des in Aussicht gestellten Rahmens zu erhalten. In dieser Situation ist das Gericht befangen.
plädoyer: Wie können Falschgeständnisse im abgekürzten Verfahren vermieden werden?
Bommer: Wichtig ist die notwendige Verteidigung. Das Gesetz schreibt sie für das abgekürzte Verfahren vor. Es lässt offen, ab welchem Zeitpunkt. Dieser ist aber entscheidend. Im abgekürzten Verfahren fallen die Würfel noch deutlicher als im normalen Verfahren im Untersuchungsverfahren.
plädoyer: Also ein Grund für den Anwalt der ersten Stunde?
Bommer: Ja, auch. Denn was passiert mit Aussagen, die gemacht wurden, bevor eine Verteidigung da war? Unter welchen Voraussetzungen sind sie verwertbar in einem späteren Normalverfahren?
Ruckstuhl: Ich verstehe die StPO so, dass dann eine notwendige Verteidigung eingesetzt werden muss, wenn das abgekürzte Verfahren bewilligt wird. So ist sichergestellt, dass der Beschuldigte fachlich beraten ist und weiss, dass Geständnisse aus dem abgekürzten Verfahren unverwertbar sind, falls das Verfahren scheitert.
plädoyer: Niklaus Ruckstuhl, Sie benutzen das Wort «dealen». Damit sprechen Sie an, dass der Untersuchungsgrundsatz verletzt und die materielle Wahrheit durch einen ausgehandelten Sachverhalt ersetzt wird.
Ruckstuhl: Es kommt darauf an, wie gut der Staatsanwalt arbeitet. Nach Artikel 160 StPO ist ein Geständnis anhand objektiver Beweismittel zu verifizieren. Das gilt auch für das abgekürzte Verfahren. Ein Beschuldigter legt in der Regel ein Geständnis ab, wenn die Beweislage anhand dieser objektiven Beweismittel relativ klar ist. Damit wird der Grundsatz der materiellen Wahrheit nicht ausgehebelt.
plädoyer: Im Strafverfahren hat neben dem Beschuldigten auch der Geschädigte Parteistellung. Ist es für diesen vorteilhaft, wenn Delikte nicht untersucht werden, weil der Staatsanwalt den Fall schnell erledigen will?
Ruckstuhl: Geschädigte haben nur dann ein Problem, wenn ihr Fall gemäss der Vereinbarung zwischen Beschuldigtem und Staatsanwalt eingestellt wird. Doch dagegen gibt es Rechtsmittel. Zudem kann der Geschädigte die ausgehandelte Anklageschrift ablehnen und so das abgekürzte Verfahren scheitern lassen.
Bommer: Geschädigte haben tatsächlich ein grosses Obstruktionspotenzial. In einem grossen Wirtschaftsprozess kann einer von 500 Geschädigten das abgekürzte Verfahren zu Fall bringen.
Ruckstuhl: Die Erfinder des abgekürzten Verfahrens in Baselland – zu denen ich gehöre – hatten nie an grosse Wirtschaftsprozesse gedacht. Ich glaube nicht, dass es für diese Fälle funktionieren wird. Wir dachten an solche, in denen von der Strafhöhe her eine bedingte Strafe – von bis zu zwei Jahren – möglich ist und nicht wie heute von bis zu fünf Jahren.
Bommer: Das abgekürzte Verfahren eignet sich besonders gut für opferlose Delikte – beispielsweise Betäubungsmittelhandel, wenn die Menge der Drogen strittig ist.
plädoyer: Im abgekürzten Verfahren hat die Staatsanwaltschaft eine tragende Rolle. Ist das fair?
Ruckstuhl: Der Staatsanwalt ist nicht nur wichtig, er hat eine gewisse Übermacht. Er verfügt in der Regel über den besseren Überblick über den «Tarif» der Rechtsprechung, der in vergleichbaren Fällen gilt, als der Verteidiger. Und er kann ja auch ohne Angabe von Gründen die Durchführung eines abgekürzten Verfahrens ablehnen.
Bommer: Das unermessliche Ermessen der Staatsanwälte ist tatsächlich ein Problem. Der Staatsanwalt ist der Strafrechtsprofi und hat einen Wissensvorsprung – es gibt wenige Verteidiger, die nur im Strafrecht tätig sind. Die Staatsanwälte versuchen gegenwärtig, innerkantonal das Ermessen durch gewisse Richtlinien zu strukturieren. Weil es aber kein Rechtsmittel gegen abgekürzte Verfahren gibt und somit keine ober- oder bundesgerichtlichen Entscheide, wird es kaum je ein Machtwort zu Ermessensentscheiden der Staatsanwälte geben.
Ruckstuhl: Immerhin muss der Urteilsvorschlag von einem Gericht geprüft werden und so die Angemessenheit der Strafe. Hat die Verteidigung das Gefühl, das Ermessen sei missbraucht worden, kann sie den Vorschlag ablehnen.
Bommer: Aber das Gericht kann die Angemessenheit nur aufgrund der ihm vorliegenden Tatsachen prüfen. Es weiss nicht, was als Teil des Deals fallen gelassen wurde.
plädoyer: Der Staatsanwalt übernimmt damit eine Richterfunk-tion. Aber ohne die demokratische Legitimation eines Richters.
Bommer: Das ist ein weiteres Problem des abgekürzten Verfahrens. Unsere Kriminalitätskontrolle ist überwiegend von Seiten der Strafverfolgung gesteuert. Das war immer so, weil die Strafbefehle einen grossen Teil der Urteile ausmachen. Aber solange die Strafbefehle auf Bussen beschränkt waren, ging es immerhin nur um Geld. Über die Jahre weitete sich die Einsatzmöglichkeit aus – heute bis auf sechs Monate Freiheitsstrafe. Dazu kommt nun das abgekürzte Verfahren – eigentlich ein Strafbefehlsverfahren «für grosse Fische».
plädoyer: Viele Richter sind nicht glücklich darüber, dass sie nur noch einen Urteilsvorschlag abnicken können.
Bommer: Ich verstehe das. Laut Strafprozessordnung können die Gerichte aber frei entscheiden, «ob das abgekürzte Verfahren rechtmässig und angebracht ist». Nur steht nirgends, unter welchen Voraussetzungen es «angebracht» ist.
Ruckstuhl: Der Machtverlust der Gerichte führt zu einer neuen Unart: Die Richter fügen etwas in den Urteilsvorschlag ein, und die Parteien stimmen dem oft vorschnell zu. Die Gerichte sollten laut StPO nur ja oder nein sagen und nicht herumflicken.
Bommer: Vielleicht müsste man hier differenzieren. Wenn das Gericht ein Strafmass senken will, wäre der Beschuldigte dafür sicher zu haben. Schwieriger ist der Fall, wenn das Gericht das Strafmass erhöhen möchte. Dann steht der Beschuldigte vor der Wahl, die höhere Strafe zu akzeptieren oder ein ordentliches Verfahren zu riskieren. Deshalb halte ich Erhöhungsvorschläge des Gerichts für unzulässig.
plädoyer: Im Strafverfahren gilt die Unschuldsvermutung. Und niemand soll sich selbst belasten müssen. Doch darauf beruht das abgekürzte Verfahren.
Bommer: Das ist so. Man kann nicht in das abgekürzte Verfahren steigen, ohne auf die Unschuldsvermutung zu verzichten.
Ruckstuhl: Verzichten ist ein zu hartes Wort. Der notwendige Verteidiger zeigt dem Beschuldigten die Konsequenzen des Verfahrens und seines Geständnisses tatsächlich auf: Er kann das abgekürzte Verfahren auch scheitern lassen. Damit ist das Geständnis weg. Zudem sind die Rahmenbedingungen des Deals vorher mit dem Staatsanwalt besprochen. Dann ist es ein Abwägen, was besser ist.
plädoyer: Im Vorfeld zur neuen Strafprozessordnung wies ein Staatsanwalt darauf hin (plädoyer 6/02), dass es Absprachen wie im abgekürzten Verfahren bereits unter altem Recht gegeben habe. Das abgekürzte Verfahren regle, was schon lange gemacht wurde.
Ruckstuhl: Das ist teilweise so. Für mich ist das aber der Kern der Berechtigung des abgekürzten Verfahrens. Die früheren informellen Absprachen waren gesetzeswidrig – obwohl ich selber mitgemacht habe, wenn es zum Vorteil meines Klienten war. Beim abgekürzten Verfahren haben wir immerhin eine minimale Kontrolle durch das Gericht.
Bommer: Jeder Gesetzgeber steht vor einem Zwiespalt, wenn er eine tatsächliche Entwicklung rechtlich einfangen muss. Soll man sie regeln oder im klandestinen Dunkel lassen? Wenn man das Ganze in die Bel Etage einer gesetzlichen Grundlage hebt, sinken die Hemmungen, davon Gebrauch zu machen. Ein Beispiel ist die Telefonüberwachung. Die gab es bereits, bevor sie gesetzlich geregelt wurde. Jetzt wird dieses Mittel bedenkenlos auf die StPO gestützt.
plädoyer: Niklaus Ruckstuhl, wollten Sie, dass nur noch ein Prozent der Anklagen im ordentlichen Verfahren behandelt werden, als Sie das abgekürzte Verfahren in Baselland vorschlugen?
Ruckstuhl: Keinesfalls. Dass nur noch so wenig Fälle im ordentlichen Verfahren beurteilt werden, hat mit der hemmungslosen Ausdehnung des Strafbefehlsverfahrens zu tun. Die im abgekürzten Verfahren mögliche Strafhöhe müsste in der neuen StPO revidiert und das Strafmass im abgekürzten Verfahren von fünf auf zwei Jahre reduziert werden.
Bommer: Es ist ein Übel der letzten Jahre, dass die Strafjustiz von aussen nur unter dem Gesichtspunkt der Effizienz betrachtet wird. Ob Urteile richtig sind und die Justiz Rechtsfrieden herstellt, ist nachrangig. Das müsste aber das Hauptanliegen der Justiz sein. Das gilt auch für den Strafbefehl.
plädoyer: Viele Verteidiger begrüssen das abgekürzte Verfahren, weil für die Angeklagten die Urteile meist milder und berechenbarer sind. Wird damit nicht die Rechtsgleichheit verletzt?
Ruckstuhl: Es ist eine alte Streitfrage, wieweit ein Geständnis strafmildernd berücksichtigt werden darf. Aber es ist richtig: Für Beschuldigte ist das abgekürzte Verfahren angenehmer, weil sie wissen, was sie erwartet, und dem zugestimmt haben.
Bommer: Man hört von Strafmassen in Urteilen, von denen die Richter fanden, die Strafe «sei am untersten Rand des Vertretbaren». Mich stört das nicht, solange die Strafe vertretbar ist. Es besteht auf der andern Seite auch die Möglichkeit einer «poena extraordinaria». Wenn jemand drei Fälle von Kreditkartenbetrug zugibt und weitere unsicher sind: Ist dann eine Strafe, die höher ist als eine für solche Fälle angemessene, der Preis für das abgekürzte Verfahren?
plädoyer: Im abgekürzten Verfahren ist kein Instanzenzug möglich. Ist das ein Vor- oder Nachteil?
Bommer: Für Beschuldigte ist der kurze Prozess attraktiv – ebenso für Gerichte, je nach Fall auch für Staatsanwaltschaften. Andererseits besteht der Nachteil, dass Recht uneinheitlich angewendet wird.
Ruckstuhl: Dieses Problem besteht auch im ordentlichen Verfahren. Wird keine hohe Strafe verhängt, kann das Rechtsmittelverfahren so lange dauern, dass Verurteilte riskieren, nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe nicht entlassen zu werden. Weiter hängt der Weiterzug davon ab, ob Beschuldigte die finanziellen Mittel dafür haben. Bei amtlicher Verteidigung ist der Weiterzug ans Bundesgericht für die Verteidigung finanziell riskant, weil man die Arbeit leisten muss und erst im Entscheid des Bundesgerichts erfährt, ob die amtliche oder unentgeltliche Verteidigung bewilligt wird.
plädoyer: Die Justiz sollte auch durch die Öffentlichkeit kontrolliert werden. Diese bleibt im abgekürzten Verfahren weitgehend draussen vor der Tür.
Bommer: Das stimmt streng genommen nicht, denn Gerichtsverhandlung und Urteilseröffnung sind öffentlich. Aber klar ist: Es findet kein unmittelbares Beweisverfahren statt, der Kontrollgegenstand entgleitet der Öffentlichkeit. Das ist aber nicht nur ein Problem des abgekürzten Verfahrens. Das kennen wir auch im ordentlichen Verfahren, weil die Unmittelbarkeit wenig ausgebaut ist.
Ruckstuhl: Wir müssen mit dieser Kontrolle durch die Öffentlichkeit aufhören! Sie war bei ihrer Einführung im Code Napoléon um 1800 wichtig: Davor funktionierte das Strafverfahren nach dem Inquisitionsmodell. Heute hat die Öffentlichkeit die Funktion eines Prangers.
Felix Bommer, 48, ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und internationales Strafrecht sowie Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Luzern.
Niklaus Ruckstuhl, 54, Advokat, ist Titularprofessor für Strafprozessrecht an der Universität Basel, Richter am Kantonsgericht Baselland und Strafverteidiger in einer Kanzlei in Allschwil.
Abgekürztes Verfahren
Artikel 358 der Strafprozessordnung (StPO) regelt die Möglichkeit eines abgekürzten Strafverfahrens für den Fall, dass die beschuldigte Person einen Antrag dazu stellt, den Sachverhalt eingesteht und auch die Schadenersatzansprüche der Geschädigten im Grundsatz anerkennt. Laut Artikel 358 Absatz 2 ist das abgekürzte Verfahren ausgeschlossen, wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verlangt.
Artikel 359 StPO legt zudem fest, dass die Staatsanwaltschaft über die Durchführung des abgekürzten Verfahrens allein entscheidet. Gegen den Entscheid ist kein Rechtsmittel an eine höhere Instanz möglich.