Eigentlich wollte sich Benjamin F. Brägger nach der Matura zum protestantischen Pfarrer ausbilden lassen. «Doch Gott hat entweder kein Zeichen gegeben, oder ich habe es nicht gehört». So studierte Brägger halt Juristerei. Dazu brauchte es keine Berufung.
Brägger wurde 1967 in Wagenhausen geboren, einem kleinen Bauerndorf im Thurgau. Der Vater war beruflich in der Westschweiz tätig, deshalb zog die Familie bald nach Lausanne. Der zwölfjährige Benjamin empfand den neuen Wohnort mit der ihm unbekannten Sprache und Mentalität als Kulturschock. «Seither weiss ich, dass man auch im eigenen Land ein Fremder sein kann», sagt Brägger.
Dass der heute 47-Jährige nach der Matura ein Jusstudium begann, hat er einem Kollegen aus dem Militär zu verdanken. «Das Studium an der Uni Freiburg war eine Weiterschreibung meiner breiten allgemeinen humanistischen Gymnasialausbildung.» Während des Studiums arbeitete Brägger im Rahmen eines Praktikums als Erzieher im Massnahmenzentrum Kalchrain TG. «Das war ein Schlüsselerlebnis für mich.» Der junge Jurist lernte dort, dass Recht nicht nur aus Gesetzestexten besteht – sondern mit konkreten Menschen zu tun hat. «Und ich merkte, dass ich gerne mit Menschen arbeite.»
Nach dem Studium arbeitete Brägger als Gerichtsschreiber beim Bezirksgericht der Sense in Tafers FR. Ab 1995, mit bloss 29 Jahren, war er Vollzugsleiter in den Anstalten Witzwil im Berner Seeland und für 220 Insassen und 40 Mitarbeiter zuständig. «Meine praktischen Erfahrungen aus Kalchrain halfen mir, diese anspruchsvolle Arbeit zu Beginn meiner Karriere zu meistern.»
Während der nächsten fünfzehn Jahre war Brägger in diversen Leitungsfunktionen im Freiheitsentzug tätig, zuletzt als Leiter des Amts für Justizvollzug des Kantons Neuenburg. Später lehrte er als Lehrbeauftragter an der Uni Bern, dann von 2011 bis 2014 an der Uni Lausanne und seit dem Herbstsemester an der Uni Basel, jeweils im Gebiet des Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrechts. Seit 2001 ist er zudem Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Und seit dem Jahr 1996 bildet er am schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal in Freiburg Aufseher und Betreuer weiter.
Während seiner Tätigkeit in der Praxis und Lehre fiel dem Strafvollzugsexperten eines besonders auf: «Der Aufsichtsbeamte ist der Pfeiler des ganzen Strafvollzugssystems.» Wenn also eine Anstalt heute für diese schwierige Aufgabe geeignetes Personal rekrutiere, dieses gezielt aus- und weiterbilde und durch fähige Kader anleite und begleite, dann habe die entsprechende Anstalt schon sehr viel erreicht. Der Beruf des Aufsichtsbeamten sei eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Manchmal sei die externe Hilfe eines Supervisors unabdingbar, um traumatisierende Erlebnisse verarbeiten zu können. Aber, so Brägger: «Leider bieten das nicht alle Gefängnisse an.»
Er bedauert, dass sein Einsatz für die Respektierung der Grundrechte im Gefängnis nicht von allen verstanden wird. Insbesondere wurden seine Voten gegen die Überbelegung der Gefängnisse und für Einzelzellen mit der vom Bund geforderten Minimalfläche oft kritisiert.
«Konstruktive Kritik am Strafvollzugssystem ist aber wichtig», ist der Jurist überzeugt und schlägt gleich Lösungen vor: Es brauche auf allen Ebenen des Strafvollzugs mehr spezialisiertes Fachpersonal, genauso wie bei der Anwaltschaft, bei Psychiatern und forensischen Therapeuten sowie bei der Strafverfolgung und schliesslich bei den Gerichten: «Ich plädiere dafür, dass man in den Kantonen spezialisierte Strafgerichte sowie Strafvollzugskammern einführt. Dort könnten dann die wegweisenden und häufig sehr heiklen Vollzugsentscheide durch richterliche Behörden gefällt werden.»
Das Strafvollzugssystem benötige heute mehr Unterstützung von Seiten der Politik als bisher: «Die Politik muss deutlich machen, dass die Resozialisierung ein wesentlicher Teil des Freiheitsentzugs ist.» Die Öffentlichkeit sowie gewisse Politiker glaubten jedoch, dass die Aufgabe des Strafvollzugs das Bestrafen selbst sei. Das stimme aber nicht. Die einzige Instanz, die in einer rechtsstaatlichen Gesellschaft strafen dürfe, sei der Richter. Die Aufgabe des Strafvollzugs sei es, den Insassen während der Haft zu sichern, ihn anständig zu behandeln und zu versuchen, ihn auf den Wiedereintritt in die Gesellschaft vorzubereiten.
Brägger betont die gute Bilanz der Wiedereingliederung: Gemäss einer Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahre 2005 wird nur jeder fünfte Schweizer nach der Haftentlassung innerhalb von drei Jahren wieder in eine Strafanstalt eingewiesen. «Vergleicht man diese Zahlen mit jenen aus den USA, welche Rückfallquoten von über 90 Prozent haben, dann steht die Schweiz sehr gut da.» Wolle man die Insassen nicht mehr in die Gesellschaft zurückführen, dann sei man schnell bei Verhältnissen wie in Kalifornien. Dort werde mehr Geld ausgegeben für das Strafvollzugssystem als für das öffentliche Bildungswesen. «Ich will nicht, dass meine sechsjährige Tochter in einem Staat lebt, der fürs Strafen mehr Geld ausgibt als für die Ausbildung der Jugend», sagt Brägger.
Der Jurist bemängelt auch die Überbelegungsprobleme in vielen Gefängnissen in der Schweiz. «Wir hatten letztes Jahr zum ersten Mal mehr Inhaftierte im Vollzugssystem als freie Plätze.» Die Überbelegung sei ein Übel für alle: «Sie führt zu grossem Stress bis zum Burnout beim Personal. Im Fall von grosser und längerdauernder Überbelegung werden die Insassen entweder aggressiv oder selbst psychisch krank. Auch Tätlichkeiten gegenüber dem Personal nehmen dann zu.» Darum verlangt der Strafvollzugsexperte, dass der Bund die Kantone hier stärker finanziell unterstützt: «Es ist nicht einzusehen, weshalb der Bund die Untersuchungshaft im Gegensatz zum Straf- und Massnahmenvollzug nicht mitfinanziert.»
Handlungsbedarf sieht Brägger auch bei den Gefängnisstandards: «Einige Grundprinzipien, wie die Zellengrösse in der U-Haft, müssten auf Bundesebene geregelt werden.» Heute sei nur die Grösse einer Einerzelle von zwölf Quadratmetern im Straf- und Massnahmenvollzug als Grundlage für die Bundessubventionen beim Bau von Strafvollzugsanstalten festgehalten. Gemäss Brägger würden Mindeststandards viele Diskussionen ersparen. «Der Bund sollte den Kantonen mit finanziellen Anreizen helfen, diese Mindeststandards zu erreichen.»