1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
- Art. 12 Abs. 2 StGB (Eventualvorsatz bei Raserunfällen): Das Bundesgericht hält an seiner umstrittenen Rechtsprechung2 fest, wonach ein Fahrzeuglenker, der mit massiv übersetztem Tempo - in casu mindestens 48 km/h zu schnell - einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht, unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur wegen fahrlässiger, sondern wegen eventualvorsätzlicher Tötung bestraft werden kann.3
Im neusten Fall hatte der Täter das Tempo seines Fahrzeugs, trotz mehrmaligen eindringlichen Warnungen seiner Freundin auf dem Beifahrersitz, derart beschleunigt, dass es in einer leichten Linkskurve auf einer Strasse mit regem sonntäglichen Ausflugsverkehr auf die Gegenfahrbahn geriet und mit einem korrekt entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte. Sowohl dessen Lenker als auch die Freundin des Täters erlagen am Unfallort ihren Verletzungen.
Das Bundesgericht führt aus, dass Eventualvorsatz bei Unfällen im Strassenverkehr mit Verletzungs- und Todesfolgen nur zurückhaltend und nur in krassen Fällen anzunehmen sei, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergebe, dass sich der Fahrzeuglenker gegen das geschützte Rechtsgut entschieden habe.
- Art. 15 StGB (Notwehr, angemessene Abwehr mit Messer): Der Einsatz eines Messers zur Abwehr eines Angriffs gegen die körperliche Integrität ist grundsätzlich das letzte Mittel der Verteidigung. Ein solcher Einsatz kann, je nach Art des Angriffs, der zahlenmässigen Überlegenheit der Angreifer und des Risikos, im Laufe der Auseinandersetzung schwere Verletzungen zu erleiden, angemessen sein. Im vorliegenden Fall sah sich der Angegriffene zwei Angreifern gegenüber, die mit Fusstritten und Schlägen gegen ihn vorgingen. Erst als eine relativ wenig gefährliche Abwehrhandlung (Stich gegen das Knie) und eine verbale Warnung («du wirst sterben, wenn du weitermachst») wirkungslos geblieben waren, stach der Beschwerdeführer dem Geschädigten bei weiterdauerndem Angriff in die Flanke und in die Schulter.
Das Bundesgericht anerkennt die Abwehr als angemessen und hat den Beschuldigten von der eventualvorsätzlichen, versuchten schweren Körperverletzung freigesprochen.4
- Art. 31 StGB (Beginn der Antragsfrist bei Antragsdelikten): Das Bundesgericht bestätigt seine grosszügige Rechtsprechung zur Bestimmung, ab wann die dreimonatige Antragsfrist nach Art. 31 StGB zu laufen beginnt.5 Solange aufgrund der Sachlage unklar ist, ob überhaupt ein Delikt begangen wurde, beginne die Frist nicht zu laufen. Dies sei erst der Fall, wenn der antragsberechtigten Person neben den objektiven auch die subjektiven Tatbestandselemente bekannt seien, da eine Tat (auch nach Art. 31 StGB) nur vorliege, wenn der Täter auch den subjektiven Tatbestand erfülle. Bekannt im Sinne von Art. 31 StGB sei der Täter nicht schon, wenn der Verletzte gegen eine bestimmte Person einen Verdacht hege. Erforderlich sei vielmehr eine sichere, zuverlässige Kenntnis, die ein Vorgehen gegen den Täter als aussichtsreich erscheinen lasse und die antragsberechtigte Person gleichzeitig davor schütze, wegen falscher Anschuldigung oder übler Nachrede belangt zu werden. Die berechtigte Person sei nicht verpflichtet, nach dem Täter zu forschen.
- Art. 34 Abs. 2 StGB (Mindesttagessatz bei Geldstrafen): Das Bundesgericht hat die vor einem Jahr beschlossene Praxis6 bestätigt, wonach der Tagessatz einer Geldstrafe zehn Franken nicht unterschreiten darf.7
Zu beurteilen war der Fall eines abgewiesenen Asylbewerbers, der vom Zürcher Obergericht zu einer Geldstrafe von neunzig Tagessätzen zu vier Franken verurteilt worden war. Der betroffene Beschwerdeführer verfügte als abgewiesener Asylbewerber aufgrund der Nothilfe über ein minimales Einkommen von wöchentlich sechzig Franken in Form von Migros-Gutscheinen. Bei diesem Einkommen erachtete das Bundesgericht die Bezahlung der Geldstrafe über 360 Franken in Raten und mit einer langen Zahlungsfrist nicht zum Vornherein als ausgeschlossen.
- Art. 42 und 43 StGB (Gilt die Unschuldsvermutung bei der Legalprognose?): Das Bundesgericht hält fest, dass eine umfassende Legalprognose die Berücksichtigung sämtlicher relevanter Aspekte gebiete. So sei auch der Einbezug von Tatsachen, die in einem hängigen Strafverfahren zugegeben wurden, bei der Prognosebeurteilung zulässig. Auch nicht abgeurteilte Vortaten, die Schlüsse auf Vorleben und Charakter eines Täters zulassen, dürften mit der erforderlichen Zurückhaltung bei der Beurteilung der Bewährungsaussichten beachtet werden. Gemäss diesem Entscheid hätte die Vorinstanz das durch den Täter eingestandene Nachtatverhalten bei der Legalprognose beachten müssen.8 Am 24. März 2009 hatte das Bundesgericht noch anders entschieden.9
- Art. 47 StGB (Strafminderung bei Vorstrafenlosigkeit): Das Bundesgericht hat die bisherige Rechtsprechung aufgegeben, wonach strafmindernd berücksichtigt wird, dass jemand zum ersten Mal straffällig geworden ist. Ein makelloses Strafregister gilt nicht mehr als selbständiger und zwingender Strafminderungsgrund.
Zur Begründung führt das Bundesgericht aus, dass nach neuem Recht Einträge im Strafregister nach einer gewissen Zeit nicht mehr nur «gestrichen», sondern physisch gelöscht und damit auch für den Richter unsichtbar gemacht würden. Danach stehe auch ein ehemaliger schwerer Straftäter gleich da wie einer, der sich noch nie etwas habe zuschulden kommen lassen.10
- Art. 47 StGB (zu spätes Geständnis): Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann ein Geständnis bei der Analyse des Nachtatverhaltens im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Täters berücksichtigt werden, wenn es auf Einsicht in das begangene Unrecht oder auf Reue schliessen lässt oder wenn der Täter damit zur Aufdeckung seines Tatanteils beiträgt.11
Diese Praxis fusst auf der Überlegung, dass ein Geständnis zur Vereinfachung des Verfahrens und zur Wahrheitsfindung beiträgt. Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts kann sich ein Verzicht auf Strafminderung aber aufdrängen, wenn das Geständnis die Strafverfolgung nicht erleichtert hat, namentlich weil der Täter nur aufgrund einer erdrückenden Beweislage oder erst nach dem erstinstanzlichen Urteil geständig ist.12 Im konkreten Fall hatte sich der Angeklagte erst im Berufungsverfahren zu einem Geständnis durchgerungen.
Wenn also ein Beschuldigter ein Geständnis ablegen möchte, dann besser zu Beginn des strafrechtlichen Untersuchungsverfahrens.
- Art. 47 und 50 StGB (Strafzumessung bei einer verminderten Schuldfähigkeit): Zu dieser Thematik hat das Bundesgericht die Regeln lehrbuchmässig beleuchtet. Es hält insbesondere fest, dass die Gesamteinschätzung des Tatverschuldens im Urteil zu benennen sei, damit überprüfbar sei, ob die resultierende (hypothetische) Strafe angemessen ist und mit der Abstufung des Unrechtsgehalts übereinstimmt, den der gesetzliche Strafrahmen zum Ausdruck bringt. Dabei ist die tat- und täterangemessene Strafe für eine einzelne Tat grundsätzlich innerhalb des ordentlichen Strafrahmens festzusetzen.13
- Art. 53 StGB i.V.m. Art. 81 BGG (Wiedergutmachung, Legitimation des Geschädigten): Ist eine geschädigte Person nicht damit einverstanden, dass das Strafverfahren gegen den Täter wegen Wiedergutmachung nach Art. 53 StGB eingestellt wird, kann sie nicht mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht gelangen.
Aus Art. 53 StGB lässt sich nach Ansicht des Bundesgerichts kein rechtlich geschütztes Interesse der geschädigten Person ableiten, das sie zur Beschwerde in Strafsachen legitimieren würde. Anders verhielte es sich nur, wenn sie Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes wäre oder wenn der letzte kantonale Entscheid Verfahrensrechte verletzt, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellen würde. Der Entscheid über die Einstellung des Strafverfahrens liege allein im Ermessen der zuständigen Behörde. Nach Ansicht des Bundesgerichts bedarf die geschädigte Person keines besonderen Rechtsschutzes, weil die Verfahrenseinstellung wegen Wiedergutmachung voraussetze, «dass der Täter das Unrecht ausgeglichen hat», obschon Art. 53 StGB nach seinem Wortlaut nur verlangt, dass der Täter alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um das Unrecht seiner Tat auszugleichen.14
- Art. 63b Abs. 5 StGB (Umwandlung einer ambulanten Massnahme in eine stationäre): Das Bundesgericht führt im Entscheid vom 13. Juli 2010 aus: Scheitert eine ambulante Behandlung, ist bei Freiheitsstrafen nicht zwingend erforderlich, dass noch eine Reststrafe vorliegt, wenn eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet werden soll. In materieller Hinsicht bedürfe es einer inhaltlichen Verknüpfung zwischen Verurteilung und Freiheitsentzug, das heisst der Anordnung einer stationären Therapie. Die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme nach vollständiger Verbüssung der Strafe bleibe in klaren Ausnahmefällen und unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips auch unter neuem Recht zulässig.15
- Art. 64b Abs. 2 StGB (bedingte Entlassung): Im konkreten Fall ist der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Zudem ordnete das Gericht eine anschliessende Verwahrung an, was die bedingte Entlassung während des Vollzugs der Freiheitsstrafe nach Art. 64 Abs. 3 StGB aber nicht ausschliesst.
Das Bundesgericht hat entschieden, dass Art. 64b Abs. 2 StGB in solchen Fällen analog zur Anwendung gelangt. Die bedingte Entlassung und der Verzicht auf die angeordnete Verwahrung darf demnach nur gestützt auf einen Bericht der Anstaltsleitung, auf ein Gutachten und nach Anhörung der Fachkommission und des Betroffenen verfügt werden.16
1.2. Besondere Bestimmungen
- Art. 112 StGB (Mord): Ein Serviceangestellter einer Bar hatte kurz vor Weihnachten zusammen mit seiner Ehefrau die Kündigung erhalten, worauf er das Lokal verliess, mit einem geladenen Revolver zurückkehrte und die Inhaberin der Bar sowie deren Begleiter erschoss. Nach Auffassung des Gerichts habe der Täter zwar in heftiger Gemütsbewegung gehandelt, da diese jedoch nicht entschuldbar sei, komme ein Schuldspruch bloss wegen Totschlags (Art. 113 StGB) nicht in Frage.
Nach Auffassung des Bundesgerichts erschoss der Mann die Opfer schnell, mit grosser Entschiedenheit und richtete die bereits getroffenen und wehrlos am Boden liegenden Personen exekutionsartig hin. Darin habe das Geschworenengericht zu Recht eine krasse Missachtung fremden Lebens gesehen, die einen Schuldspruch wegen Mordes verlangt. Das Bundesgericht hat die Freiheitsstrafe von zwanzig Jahren bestätigt.17
- Art. 117, Art. 129 und Art. 49 StGB (echte Konkurrenz zwischen dem Tatbestand der fahrlässigen Tötung und demjenigen der Gefährdung des Lebens): Wer in skrupelloser Art das Leben einer Person direktvorsätzlich gefährdet, welche in der Folge stirbt, ist wegen Gefährdung des Lebens und wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen, wenn er voraussieht, dass das Opfer sterben kann und er aus pflichtwidriger Unvorsicht auf den Nichteintritt des Todes vertraut.18
- Art. 146 StGB (versuchter Betrug durch Simulieren bei einer versicherungsrechtlichen Begutachtung): Wer einem Gutachter der Unfallversicherung während einer mehrstündigen Untersuchung chronische Schmerzzustände und Behinderungen in der Bewegungsfähigkeit vorspielt, um eine Rente wegen Teilinvalidität zu bekommen, kann wegen Betrugs bestraft werden. Dieses Urteil des Bundesgerichts betrifft eine Frau, die von der Versicherung anhand einer Observation durch ein privates Detektivbüro überführt wurde.
Zur Arglist führt das Bundesgericht aus, dass das Verhalten der Versicherten beim Gutachter als besondere betrügerische Machenschaften zu würdigen seien. Die Versicherte habe ihre Schmerzen und Beeinträchtigungen dem Gutachter in einer eigentlichen Inszenierung zumindest zum Teil vorgespielt. Das Bundesgericht hat den Freispruch der Vorinstanz von der Anklage des Betrugs als bundesrechtswidrig aufgehoben.19
- Art. 144 Abs. 3 StGB (qualifizierte Sachbeschädigung): Gemäss Art. 144 Abs. 3 StGB kann auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren erkannt werden, wenn der Täter einen grossen Schaden verursacht hat.
Das Bundesgericht qualifizierte in früheren Entscheiden einen Schaden in der Höhe von 40 000 Franken20 respektive 82 000 Franken21 als grossen Schaden im Sinne von Art. 144 Abs. 3 StGB. Das Bundesgericht hat sich nun der Meinung eines Grossteils der Literatur angeschlossen, wonach die Grenze zu einem grossen Schaden bei 10 000 Franken angesetzt werden könne.22
- Art. 190 (Vergewaltigung einer Prostituierten): Nach Auffassung des Bundesgerichts darf die Strafe für einen Vergewaltiger nicht mit der Begründung gemildert werden, es habe sich beim Opfer «lediglich» um eine Prostituierte gehandelt. In diesem Urteil hält das Bundesgericht in aller Klarheit fest, dass eine Prostituierte wie jede andere Person das Recht habe, sich einem sexuellen Übergriff zu widersetzen oder bestimmte Praktiken abzulehnen.23
- Art. 182 Abs. 1 (Menschenhandel): Das Bundesgericht rekapituliert seine Rechtsprechung im Rahmen der Beurteilung einer Strafbarkeit nach Art. 182 StGB.24 Das Unrecht bestehe im Ausnützen einer Machtposition durch den Täter und der Aufhebung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers, über das wie über ein Objekt verfügt werde.
Ein Schuldspruch wegen Menschenhandels im Sinne von Art. 182 Abs. 1 StGB setze voraus, dass die betroffene Person in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht verletzt worden sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der Tatbestand des Menschenhandels in der Regel erfüllt, wenn junge, aus dem Ausland kommende Frauen unter Ausnützung einer Situation der Verletzlichkeit zur Ausübung der Prostitution in der Schweiz engagiert werden.25
- Art. 217 Abs. 1 StGB (Vernachlässigung der Unterstützungspflichten durch eine Prostituierte): Das Bundesgericht hat den Schuldspruch für eine Prostituierte aufgehoben, die von der Aargauer Justiz wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt worden war. Die Frau hatte dem Vater ihrer Kinder die geschuldeten Alimente jahrelang nur verspätet oder meist gar nicht bezahlt. Die kantonale Vorinstanz vertrat die Auffassung, die Prostituierte hätte aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit als Prostituierte - unter Hinweis auf ihre «freien und flexiblen Arbeitszeiten» und etwas «guten Willen» - ohne Weiteres ein monatliches Einkommen von 3000 Franken erzielen und damit die Unterhaltsbeiträge bezahlen können. Das Obergericht hatte der betroffenen Unterhaltsschuldnerin zum Vorwurf gemacht, sie habe die offensichtlich nur unregelmässig ausgeübte Tätigkeit im Sexgewerbe nicht intensiviert.
Das Bundesgericht erklärt diese Beurteilung der Leistungsfähigkeit als willkürlich. Denn die betroffene Frau, die weder über einen Schulabschluss noch über eine Ausbildung oder anderweitige Berufserfahrungen verfügt, nahm ihre Tätigkeit ursprünglich nicht aus freien Stücken auf, sondern aufgrund ihrer früheren schweren Drogensucht.26
- Art. 305 StGB (Begünstigung durch einen Internet-Provider): Der Beschuldigte betrieb eine Internetplattform, wo sich Benutzer unter einem Pseudonym anonym zu meist lokalpolitischen Themen äussern konnten. Verschiedene Benutzer liessen sich zu Ehrverletzungen hinreissen.
Das Bundesgericht führt aus, dass die Vorinstanz die Provider-Eigenschaft der GmbH, deren Geschäftsführer der Beschuldigte mit Einzelunterschrift ist, zu Recht bejaht habe. Diese Tatsache führe zur Anwendbarkeit des BÜPF auf den Beschuldigten, das für alle staatlichen, konzessionierten oder meldepflichtigen Anbieterinnen von Post- und Fernmeldedienstleistungen sowie für Internet-Anbieterinnen gilt (Art. 1 Abs. 2 BÜPF). Als Organ der Gesellschaft sei er für die Einhaltung der Aufbewahrungspflichten des BÜPF verantwortlich. Der Tatbestand der Begünstigung setze nicht voraus, dass gegen den Begünstigten bereits ein Strafverfahren eröffnet worden wäre, weshalb die Vorinstanz die Begünstigungshandlung des Beschuldigten zu Recht mit der Nichtbeachtung der in Art. 14 Abs. 4 BÜPF festgelegten Auskunftspflicht der Provider gegenüber dem Dienst für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs begründet habe. Für die Annahme der Begünstigung sei eine erhebliche zeitliche oder inhaltliche Erschwernis der Strafverfolgung entscheidend, die mit einem unwiederbringlichen Löschen der IP-Adressen der Website-Benutzer zweifellos geschaffen wurde.27
2. Nebenstrafrecht
2.1 Jagdgesetz
- Art. 20 JSG (bedingter Vollzug einer Nebenstrafe): Streitig war, ob die Nebenstrafe «Entzug und Verweigerung der Jagdberechtigung» (Art. 20 JSG) auch bedingt ausgesprochen werden kann, da im revidierten Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs beim bedingten Vollzug Nebenstrafen nicht mehr erwähnt werden.
Das Bundesgericht hält fest, dass es sich hier um eine ausfüllungsbedürftige, echte Gesetzeslücke handle. Die kantonalen Gerichte hätten sie ausfüllen müssen, da der Gesetzgeber unterlassen habe, das JSG entsprechend anzupassen. Die Revision habe den bisherigen Sanktionenkatalog erweitert und das System flexibler gestaltet. Im gleichen Atemzug die Möglichkeit des bedingten Vollzugs von Nebenstrafen abzuschaffen, stünde in krassem Gegensatz zur Grundidee der Revision des Sanktionensystems.28
2.2. Strassenverkehrsgesetz
- Art. 90 Ziff. 1 i.V.m. Art. 43 Abs. 3 SVG, Art. 36 Abs. 3 VRV (Rückwärtsfahren auf Autobahn): Ein Fahrzeuglenker, der irrtümlich in eine Autobahn einfährt und auf dem Pannenstreifen rückwärts wieder auf die Kantonsstrasse fährt, begeht keine schwere, sondern nur eine einfache Verletzung von Verkehrsregeln.
Nach Auffassung des Bundesgerichts handelte der Lenker aufgrund der hervorragenden Strassen- und Wetterverhältnisse auf einer übersichtlichen und auf 60 km/h beschränkten Autobahneinfahrt nicht rücksichtslos, und es entstand weder eine konkrete noch eine erhöht abstrakte Gefahr. Zudem gehe von einem rückwärtsfahrenden Fahrzeug grundsätzlich keine grössere Gefahr aus als von einem stillstehenden.29
- Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG (ungenügender Abstand): Das Bezirksgericht Bülach hatte den Beschuldigten gestützt auf zwei übereinstimmende Distanzschätzungen von zwei Polizisten der vorsätzlichen groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG schuldig erklärt.
Gemäss den kantonalen Gerichten hätten beide Zeugen während der zwei Kilometer langen Beobachtungsstrecke zuverlässig feststellen können, dass der Beschwerdeführer einen Abstand von fünf bis maximal zehn Metern zum vorausfahrenden Lastwagen eingehalten habe. Das Obergericht des Kantons Zürich und das Bundesgericht bestätigten dieses Urteil.30
- Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG (Tempo-rabatt bei defektem Tacho): Das Bundesgericht hat wie schon in einem früheren Entscheid31 die Frage offengelassen, ob einem Fahrzeuglenker, der zwar mit einem defekten Geschwindigkeitsmesser fährt, sich aber tatsächlich bemüht, die zugelassene Höchstgeschwindigkeit einzuhalten, nicht eine gewisse Irrtumsmarge zugebilligt werden sollte, sofern er die erlaubte Geschwindigkeit nur leicht überschreitet.
Das neue Urteil betrifft einen Motorradfahrer, der mit defektem Tachometer am Oberalppass die maximal erlaubte Geschwindigkeit von 80 km/h um 51 km/h überschritten hatte. Unter solchen Umständen könne nicht ernsthaft angenommen werden, der Fahrer habe sich tatsächlich um die Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit bemüht und diese nur geringfügig überschritten, schreibt das Bundesgericht. Die Geschwindigkeit könne am Fahrtwind oder anhand der Motorendrehzahl abgeschätzt werden. Die Verurteilung wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln wurde vom Bundesgericht daher bestätigt.32
3. Strafverfahren
- Art. 8 Abs. 1 BV (Ungleichbehandlung bei Entschädigungsansprüchen der amtlich und privat verteidigten obsiegenden Angeschuldigten): Das Bundesgericht bekräftigt, dass dem kantonalen Richter bei der Bemessung der Parteientschädigung ein weiter Spielraum des Ermessens zustehe. Andererseits erklärt es, dass der Staat durch die Zahlung einer Entschädigung an den Freigesprochenen respektive dessen Verteidiger keine Sonderleistung erbringe (im Gegensatz zur Zahlung einer Entschädigung an den amtlichen Anwalt des verurteilten Beschuldigten). Die Entschädigung durch den Staat sei wegen des Freispruchs geschuldet, ohne Rücksicht darauf, ob der Freigesprochene privat oder amtlich verteidigt war. Die Höhe des Entschädigungsanspruchs des obsiegenden Angeschuldigten sei unabhängig davon festzusetzen, ob er privat oder amtlich verteidigt war.33
- Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 3 BÜPF, Art. 179quater StGB (Verwertung von privat beschafften Beweisen): Das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) und die Bestimmungen der zürcherischen Strafprozessordnung über den Einsatz von technischen Überwachungsgeräten sind laut Bundesgericht nur auf amtlich angeordnete Überwachungen anwendbar. Sie fänden auf die Beschaffung von Beweismitteln durch Private keine Anwendung.
Der Umstand, dass die amtliche Anordnung einer Überwachungsmassnahme nach den einschlägigen Bestimmungen - etwa mangels hinreichenden Verdachts einer Katalogtat - unzulässig wäre, sei kein Hinweis dafür, dass eine derartige Beweismittelbeschaffung durch eine Privatperson unrechtmässig sei. Die von der Beschwerdeführerin hergestellte Videoaufnahme über das Geschehen im Kassenraum erfülle den Tatbestand von Art. 179quater StGB nicht, weil dieses Geschehen - Entnahme von einigen Banknoten aus der Kasse, Verlassen des Kassenraums mit diesen Banknoten - keine Tatsachen aus dem Geheimbereich oder aus dem nicht jedermann ohne weiteres zugänglichen Privatbereich der Beschwerdegegnerin betreffe.34
- Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK (Konfrontationsrecht): Ein des mehrfachen Raubes Beschuldigter machte geltend, die kantonalen Behörden hätten auf eine Gegenüberstellung mit fünf Tatzeugen zu Unrecht verzichtet. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Zeugen entlastende Angaben machen könnten. Die Vorinstanz hatte argumentiert, die jeweils anwesenden Postangestellten hätten unmittelbar nach der Tat Statur und Kleidung der Täter detailliert beschrieben und die Täterbekleidung auf Polizeifotos wiedererkannt. Da die Tat fünf respektive drei Jahre zurückliege und die Täter während der Tat kaum gesprochen hätten und maskiert gewesen seien, seien keine Erkenntnisse aus einer Konfrontationseinvernahme zu erwarten.
Das Bundesgericht hält in Bezug auf seine frühere Rechtsprechung fest, dass Aussagen von Zeugen und Auskunftspersonen in der Regel nur nach einer Konfrontation zum Nachteil eines Angeschuldigten verwertet werden dürften. Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, komme grundsätzlich absoluter Charakter zu.35 Vorliegend hat es die Beschwerde gutgeheissen, da Konfrontationseinvernahmen mit den vom Beschwerdeführer genannten Personen nicht durchgeführt worden sind. Entscheidend sei, dass die Zeugen mit ihren Aussagen den Angeklagten belasten und die Vorinstanz ihre Aussagen für die Urteilsbegründung verwendet habe. Weder der Zeitablauf noch der mutmassliche Inhalt seien für den Anspruch auf eine Konfrontationseinvernahme von Bedeutung.36
Anders verhielt es sich in einem Entscheid vom 26. März 2010 in einem Strafverfahren wegen Verdachts des Menschenhandels. Eine Konfrontation mit zwei Belastungszeuginnen war nicht mehr möglich, da die beiden Frauen aus der Schweiz ausgeschafft worden waren. Das Bundesgericht schützte jedoch die Ansicht der Vorinstanz, dass aufgrund der übrigen Beweise - insbesondere eine Telefonüberwachung - erstellt sei, dass die Frauen dem Beschuldigten ausgeliefert und damit in ihrer freien Selbstbestimmung in Bezug auf ihrer Prostitutionstätigkeit eingeschränkt waren. Der Verfahrensfehler könne aus diesen Gründen nicht zum Freispruch des Beschuldigten führen.37
Werde ein Beweisantrag auf Konfrontation nicht rechtzeitig gestellt, könne den Strafverfolgungsbehörden nachträglich nicht vorgeworfen werden, sie hätten durch Verweigerung der Konfrontation oder ergänzender Fragen an Belastungszeugen den Grundrechtsanspruch des Beschuldigten verletzt. Im vorliegenden Fall stellte der Beschuldigte den Antrag auf Durchführung von Konfrontationseinvernahmen erstmals im bundesgerichtlichen Verfahren, also offensichtlich verspätet. Das Bundesgericht ist auf die Beschwerde in diesem Punkt gar nicht eingetreten.38
Mit Entscheid vom 16. September 2010 hat das Bundesgericht einen Schuldspruch trotz ungenügender Konfrontation zwischen Hauptbelastungszeugin und Beschuldigtem bestätigt, weil der kantonale Schuldspruch nicht ausschliesslich auf den Aussagen der Geschädigten basierte. Der aufgezeichnete SMS-Verkehr zwischen den Beteiligten stütze die Aussagen der Belastungszeugin.39
- Art. 29 Abs. 2 BV i.V.m. Art. 5 Abs. 3 BV (Treuwidrige Anträge der Verteidigung?): Im einem höchst problematischen Entscheid führt das Bundesgericht aus, dass der Beschuldigte oder sein Anwalt zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte rechtzeitig und in angemessener Weise aktiv werden müssten. Wenn eine entsprechend zumutbare Intervention unterbleibe, könne nach Treu und Glauben und von Grundrechts wegen kein Tätigwerden der Strafjustizbehörden erwartet werden.
Im vorliegenden Fall unterliess es der bereits im kantonalen Verfahren anwaltlich vertretene Beschuldigte, die Unverwertbarkeit der Einvernahmen rechtzeitig geltend zu machen. Der Verteidiger machte vor erster Instanz und auch noch im Rahmen seiner Berufungsschrift bloss materielle Ausführungen zu den Aussagen der Verfahrensbeteiligten. Laut Bundesgericht hätte eine solche Rüge erhoben werden müssen, nachdem das erstinstanzliche Gericht in der Urteilsbegründung auf die fraglichen Einvernahmen abstellte. Der Beschuldigte brachte jedoch erstmals im Plädoyer anlässlich der Berufungsverhandlung vor, die Aussagen seien unverwertbar. Nach Auffassung des Bundesgerichts verstosse ein solches Zuwarten gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nach Art. 5 Abs. 3 BV.40
- Art. 29 Abs. 2, Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK (Akkusationsprinzip): Das Bundesgericht hat (wieder einmal) einen Entscheid des Bundestrafgerichts wegen Verletzung des Akkusationsprinzips aufgehoben: Unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion des Anklageprinzips sei massgebend, dass die angeklagte Person genau wisse, was ihr angelastet werde, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben könne. Insbesondere soll es ihr möglich sein, die Tatvorwürfe, zum Beispiel durch entsprechende Gegenfragen an Belastungszeugen oder ein Alibi, zu entkräften.
Im konkreten Fall war das Bundesgericht der Ansicht, die Anklage umschreibe weder in zeitlicher, örtlicher noch sachlicher Hinsicht die dem Beschuldigten zur Last gelegten Drogengeschäfte in hinreichend konkreter Weise. So nenne sie die lange Zeitspanne von rund drei Jahren (1996 bis 23. Januar 1999) für die Drogenverkäufe an A. sowie von zwei Jahren (1998 und 1999) für die entsprechenden Geschäfte mit B. und C. Im Weiteren sei der Anklageschrift weder zu entnehmen, wie oft die Kokainverkäufe stattgefunden haben sollen, noch welche Mengen jeweils verkauft wurden. Die Gesamtmenge des Kokaingemisches von insgesamt «680 Gramm bis höchstens 8 Kilogramm» variiere innerhalb einer weiten Bandbreite. Mit solch pauschalen Angaben könne sich der Beschuldigte nicht mehr wirksam verteidigen.
Der Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK und das daraus abgeleitete Anklageprinzip verböten derartige, nicht näher konkretisierten Vorwürfe.41
- Art. 31 Abs.1 BV, Art. 5 Ziff. 1 EMRK (Untersuchungshaft): Zur Rechtmässigkeit von Untersuchungshaft hat das Bundesgericht bemerkenswerte Entscheide gefällt: Bei Haftbeschwerden bejahte es ein Rechtsschutzinteresse trotz bereits erfolgter Entlassung aus der Untersuchungshaft, wenn ein Verstoss gegen Bestimmungen der BV oder der EMRK zur Diskussion steht. Bei dieser Sachlage entspreche es dem Gebot des fairen Verfahrens und der Prozessökonomie, dem Beschwerdeführer durch die Feststellung der Verfassungs- oder Konventionsverletzung Wiedergutmachung zu verschaffen.42 In einem weiteren Entscheid war der Anspruch auf unverzügliche Vorführung vor die haftanordnende Justizperson Streitgegenstand. Im konkreten Fall wurde der Beschuldigte durch das Grenzwachtkorps verhaftet und der Kantonspolizei Basel-Stadt übergeben. Die Anhörung erfolgte drei Tage später durch den haftanordnenden Untersuchungsbeamten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR beschränken Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK die Dauer der Polizeihaft bis zum Entscheid der haftanordnenden Behörde. Falls das massgebende Prozessrecht keine spezifische Anhörungsfrist im Sinne von Art. 31 Abs. 3 BV vorsehe, liege die zulässige Höchstfrist nach der Praxis des Bundesgerichts in der Regel bei rund 48 Stunden.43 Für die Berechnung der nach Art. 31 Abs. 3 BV massgeblichen Anhörungsfrist habe sich die haftanordnende Justizbehörde das Verhalten der festnehmenden Polizeiorgane zeitlich anrechnen zu lassen. Die erst rund drei Tage nach der Verhaftung durchgeführte Anhörung verletze das Beschleunigungsgebot von Art. 31 Abs. 3 BV.44
In einem Zürcher Fall hat die Staatsanwaltschaft - obschon sie Kenntnis davon hatte, dass der Beschuldigte einen Anwalt mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt hatte - dem Haftgericht den Verteidiger des Beschuldigten nicht mitgeteilt. Dieser Verstoss gegen die kantonalen Verfahrensvorschriften bedeute eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 EMRK und Art. 31 Abs. 1 BV.45
In zwei weiteren Entscheiden ging es um den Haftgrund der Kollusionsgefahr: Im einen Fall hat die Vorinstanz die Kollusionsgefahr damit begründet, dass noch Konfrontationseinvernahmen mit anderen Tatverdächtigen sowie weiteren - nicht namhaft gemachten - allenfalls in den Betäubungsmittelhandel verwickelten Personen durchzuführen seien. Die Beschuldigte könnte, auf freien Fuss gesetzt, versucht sein, diese Personen zu beeinflussen. Die Beschuldigte hat im Verfahren vor Bundesgericht eingewendet, sämtliche erwähnten Personen befänden sich in Haft. Damit sei - so das Bundesgericht - nicht zu ersehen, wie die Beschwerdeführerin auf sie Einfluss hätte nehmen können. Das Bundesgericht hat den Haftgrund der Kollusionsgefahr verneint.46
Im zweiten Fall hat das Bundesgericht konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr verneint, obschon der wegen sexueller Handlungen mit Kindern Beschuldigte nur teilweise geständig war. Da der Beschwerdeführer seit sieben Jahren keinen Kontakt mit dem Opfer und der Zeugin hatte und das mutmassliche Opfer weder auf den Vorfall angesprochen noch ihm gedroht hatte, bestünde im vorliegenden Fall lediglich eine theoretische Kollusionsmöglichkeit, die aber nicht genüge.47
Ein weiterer Entscheid befasst sich mit der Frage der Berücksichtigung eines Beweisverwertungsverbotes im Haftverfahren: Der Beschwerdeführer - gegen den ein Strafverfahren wegen Verdachts von sexuellen Handlungen mit Kindern und der verbotenen Pornografie eröffnet worden war - bestritt in seiner Beschwerde den allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts. Er machte geltend, seiner Verhaftung und der angeblichen Identifizierung seiner Person liege eine unheilbare Verletzung des Bundesgesetzes über verdeckte Ermittlungen zu Grunde. Das Bundesgericht vertritt die Auffassung, dass die im Haftprüfungsverfahren aufgeworfene Frage, ob absolute strafprozessuale Beweisverwertungsverbote vorliegen, grundsätzlich vom Strafrichter im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung zu beurteilen sei. Im Haftprüfungsverfahren reiche es aus, wenn die Verwertbarkeit der Beweismittel, die den Tatverdacht begründen, nicht zum Vornherein als ausgeschlossen erscheine.48
- Art. 31 Abs. 2 BV; Art. 6 Abs. 1 EMRK (Miranda-Warning): Der des gewerbsmässigen Betrugs, der mehrfachen Urkundenfälschung und der Veruntreuung Beschuldigte rügte vor Bundesgericht, dass er während des Untersuchungsverfahrens bei verschiedenen Einvernahmen nicht auf sein Aussageverweigerungsrecht hingewiesen worden sei. Die Belehrungspflicht gelte auch bei der Befragung durch die Polizei, seine dortigen Aussagen seien daher nicht verwertbar.
Das Bundesgericht rekapituliert zuerst seine Rechtsprechung zum «nemo tenetur»-Grundsatz und zur Aufklärungspflicht der Behörden nach Art. 31 Abs. 2 BV.49 Aufgrund des formellrechtlichen Charakters dieser Verfahrensgarantie seien Aussagen in Unkenntnis des Schweigerechts grundsätzlich nicht verwertbar. Trotz unterlassener Unterrichtung über das Aussageverweigerungsrecht könnten die Einvernahmen ausnahmsweise verwertet werden, wenn erwiesen sei, dass die festgenommene Person ihr Schweigerecht gekannt habe. Davon ist auszugehen, wenn der Beschuldigte in Anwesenheit seines Anwaltes angehört worden ist. Zudem erfolgte in der ersten untersuchungsrichterlichen Einvernahme ein Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht.50
- Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Fair trial): Der Beschuldigte macht vor Bundesgericht geltend, er sei vor erster Instanz nicht effektiv verteidigt gewesen, da sein damaliger Rechtsvertreter seine elementarsten Pflichten verletzt habe. Er habe keinerlei Beweisanträge gestellt und sich damit begnügt, an der Hauptverhandlung zu plädieren. Insbesondere habe er es unterlassen, der Einvernahme von zwei Belastungszeugen beizuwohnen und ihn damit um seinen Anspruch gebracht, mit diesen konfrontiert zu werden und ihnen Ergänzungsfragen stellen zu können. Die Verfahrensleitung hätte unter diesen Umständen ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen und für eine effektive Verteidigung sorgen müssen. Er habe zudem - mit seinem neuen Verteidiger - dem Kantonsgericht erfolglos beantragt, die beiden Belastungszeugen einzuvernehmen und mit ihm zu konfrontieren. Auf diese Weise hätte die mangelhafte Verteidigung im Verfahren vor erster Instanz mit geringem Aufwand behoben werden können.
Im konkreten Fall war nicht klar, weshalb der erste Verteidiger an der Einvernahme mit den
Belastungszeugen nicht teilgenommen und von der Konfrontationsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hatte. Es sei auch nicht erstellt, ob er überhaupt zu diesen Konfrontationseinvernahmen eingeladen wurde.
Das Bundesgericht hat festgehalten, dass das Kantonsgericht die von der Verteidigung beantragte Konfrontation hätte durchführen müssen und dass die Abweisung des entsprechenden Antrags willkürlich sei.51
- Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (Anwaltsgeheimnis und Entschädigung nach Freispruch): Der
Beschuldigte hat die Prozessentschädigung angefochten, die ihm die Vorinstanz im Umfang des Freispruchs gerichtlich zusprach, nachdem keine genügend spezifizierte Entschädigungsforderung vorlag. Er beanstandet, der verrechnete Aufwand lasse sich angesichts der chronologischen Zuordnung auf den eingereichten Honorarnoten und den beiliegenden Tabellen durchaus den einzelnen Verfahrensstadien zuordnen. Der geltend gemachte Zeitaufwand sei plausibel und angemessen. Die Detaillierung der Honorarnote unterliege dem Anwaltsgeheimnis und hätte vom Gericht gar nicht verlangt werden dürfen.
Dazu hält das Bundesgericht fest: Ist das Mandatsverhältnis schon bekannt, fällt nicht jede Information über erbrachte Verteidigungsleistungen unter das Anwaltsgeheimnis, wenn daraus keine Schlüsse auf deren materiellen Inhalt oder die Verteidigungsstrategie gezogen werden können. Unproblematisch sei es daher, wenn vom Freigesprochenen bei der Beurteilung der Prozessentschädigung verlangt würde, dass die Rechnungspositionen in den eingereichten Honorarnoten auch nach der Art der Tätigkeit wie Aktenstudium, Korrespondenz, Besprechung, Telefonate, Verfassen von Rechtsschriften, juristische Recherchen, Verhandlungen, Reisezeit zu spezifizieren sind.
Das Bundesgericht führt aus, dass nicht der zwischen dem Beschuldigten und seinem Rechtsvertreter vereinbarte Stundenansatz zu entschädigen sei. Die Bestimmung des Honorarersatzes sei vielmehr innerhalb der im Tarif festgelegten Grenzen nach der Schwierigkeit des Falles sowie nach dem Umfang und der Art der angemessenen Bemühungen festzulegen. Zwar könne dies im Ergebnis zur Folge haben, dass der Freigesprochene einen Teil seiner privaten Verteidigungskosten tragen müsse. Zu berücksichtigen sei aber, dass den Beschuldigten auch eine gewisse Schadenminderungspflicht treffe, weshalb er mit dem Verteidiger nicht einen beliebigen, vom Staat zu entschädigenden Stundenansatz vereinbaren könne.
Ein Stundenansatz von 250 Franken sei im Verhältnis zu den heute unter Strafverteidigern im freien Dienstleistungsverkehr teilweise praktizierten Ansätzen eher tief. Das Bundesgericht erachtet jedoch einen Ansatz in der Grössenordnung von 150 Franken pro Stunde nach wie vor als kostendeckend, womit dem anwaltlichen Vertreter beim angewendeten Satz von 250 Franken ein dem Berufsstand angemessener Verdienst verbleibe. Dem Beschuldigten sollte es daher auch zu diesen Bedingungen möglich sein, einen Anwalt seiner Wahl zu mandatieren.52
Klar ist, dass die kantonalen Behörden den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen, wenn sie eine Entschädigung pauschal festlegen, ohne sich dabei auf ein Kostenverzeichnis des Verteidigers zu stützen, sofern der Verteidiger keine Verpflichtung hatte, von sich aus innert einer bestimmten Frist seine Kostennote einzureichen.53 Klar ist ebenfalls, dass es - wie im Zivilprozess oder im verwaltungsrechtlichen Verfahren - willkürlich ist, einem zu Unrecht Beschuldigen in einem Strafprozess eine Entschädigung für die Anwaltskosten zu verweigern, weil er rechtsschutzversichert ist.54
- Art. 7 BVE (verdeckte Ermittlung): Auch eine sogenannt einfache verdeckte Ermittlung muss vom Richter genehmigt sein. Nach Ansicht des Bundesgerichts enthält weder das Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE) noch die künftige schweizerische Strafprozessordnung eine «hinreichend klare Grundlage» für die Auffassung, dass nur eine qualifizierte verdeckte Ermittlung einer richterlichen Genehmigung bedürfe, womit einfache verdeckte Ermittlungshandlungen ohne richterliche Bewilligung möglich wären.
Daher gelten im Rahmen der Drogenfahndung auch einfache, isolierte Betäubungsmittelscheinkäufe von Fahndern in Zivil als verdeckte Ermittlungen. Jeder Kontakt, den ein nicht als solcher erkennbarer Polizist in dienstlicher Mission mit einem Verdächtigen anknüpft, gelte als verdeckte Ermittlung. Sei die verdeckte Ermittlung nicht durch eine richterliche Behörde genehmigt, seien die erlangten Beweise nicht verwertbar. Dasselbe gelte für das von Tätern aufgrund des Ermittlungsergebnisses abgelegte Geständnis oder für durch den Drogenscheinkauf erlangte Erkenntnisse einer rückwirkenden Überprüfung seiner Handy-Kontakte.55
- Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG (Verrechnung einer Parteientschädigung durch die Vorinstanz): Am 30. Juni 2009 heisst das Bundesgericht eine Beschwerde in Strafsachen des Beschuldigten gut und verpflichtet den Kanton Aargau, den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit 2000 Franken zu entschädigen. Es geht davon aus, dass der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung damit gegenstandslos geworden ist.
In der Folge teilt das Obergericht dem Anwalt des Beschuldigten mit, es habe die Verrechnung angeordnet. Daraufhin gelangt der Verteidiger mit einem Revisionsgesuch erneut ans Bundesgericht. Dieses führt aus, dem Anwalt stehe gemäss Art. 64 Abs. 2 Satz 2 BGG eine angemessene Entschädigung aus der Gerichtskasse zu, soweit der Aufwand für die Vertretung nicht aus der zugesprochenen Parteientschädigung gedeckt werden kann. Dieser Fall treffe nicht nur ein, wenn sich die Parteientschädigung als uneinbringlich erweise, sondern auch, wenn die Gegenpartei die von ihr geschuldete Parteientschädigung mit eigenen Forderungen gegen die unentgeltlich verbeiständete Partei verrechne.
In beiden Fällen habe der Anwalt der bedürftigen Partei kein Honorar erhalten, sein Anspruch gegenüber der Gerichtskasse bleibe deshalb bestehen bleibe. Sei die Entschädigung bereits im Hauptverfahren festgesetzt worden, könne der Anwalt eine Auszahlung verlangen; sonst könne er eine nachträgliche Festsetzung verlangen.56
- Art. 81 BGG (Legitimation des Geschädigten): Das Bundesgericht hält an seiner Rechtsprechung fest,57 wonach der Geschädigte, der nicht Opfer im Sinne des OHG ist, zur Beschwerde in Strafsachen im strafrechtlichen Schuldpunkt nicht legitimiert ist. Der Geschädigte könne mit der Beschwerde in Strafsachen jedoch die Verletzung von Rechten rügen,
die ihm als verfahrensbeteiligte Partei nach dem massgebenden Prozessrecht oder unmittelbar aufgrund der BV oder der EMRK zustehen und deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Insoweit habe der Geschädigte ein rechtlich geschütztes
Interesse im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG.58
Ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des Entscheids habe der Geschädigte auch im Zivilpunkt, falls insoweit die Beschwerde in Strafsachen überhaupt zur Verfügung steht. Dies wiederum hänge gemäss Art. 78 Abs. 2 lit. a BGG davon ab, ob die Zivilansprüche zusammen mit der Strafsache zu behandeln seien. Ferner habe der Geschädigte ein zu schützendes Interesse, soweit es gemäss Art. 73 StGB um die Verwendung von eingezogenen Vermögenswerten zu seinen Gunsten gehe.59
Zivilansprüche im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG und des OHG seien solche, die ihren Grund im Zivilrecht hätten und deshalb ordentlicherweise vor dem Zivilgericht durchgesetzt werden müssten. Keine derartigen Zivilansprüche seien demgegenüber Forderungen, die sich aus dem öffentlichen Recht ergäben wie Ansprüche aus dem Staatshaftungsgesetz (ohne direktes Klagerecht des geschädigten Dritten gegen die fehlbaren Organe und Personen), welche sich aus einem Fehlverhalten einer Lehrperson oder eines Polizeibeamten ergeben könnten.60
1 Die Auswahl der Urteile für die vorliegende Übersicht basiert teilweise auf den entsprechenden Presseberichterstattungen der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) und der Kommentierung im Internetforum www.strafprozess.ch.
2 Vgl. etwa BGE 130 IV 58.
3 Urteil 6B_168/2010 vom 4.6.2010; vgl. den kritischen Kommentar dazu in der NZZ vom 23.6.2010.
4 BGE 136 IV 49.
5 Urteil 6B_559/2009 vom 3.11.2009; zur beweisrechtlichen Situation im Zusammenhang mit der Frage
des Zeitpunkts der Kenntnis der Straftat vgl. Urteil 6B_431/2010 vom 24.9.2010.
6 Vgl. BGE 135 IV 180.
7 Urteil 6B_610/2009 vom 13.7.2010.
8 Urteil 6B_459/2009 vom 10.12.2009.
9 Urteil 6B_1017/2008 vom 24.3.2009.
10 BGE 136 IV 1.
11 Vgl. BGE 121 IV 202.
12 Urteil 6B_426/2010 vom 22.7.2010.
13 BGE 136 IV 55.
14 BGE 136 IV 41.
15 Urteil Urteil 6B_750/2009 vom 13.07.2010.
16 Urteil 6B_332/2010 vom 30.8.2010.
17 Urteil 6B_158/2010 vom 1.4.2010.
18 BGE 136 IV 76.
19 Urteil 6B_46/2010 vom 19.4.2010.
20 BGE 106 IV 24.
21 BGE 117 IV 437 Erw. 2.
22 Urteil 6B_202/2010 vom 31.5.2010.
23 Urteil 6B_287/2009 vom 18.5.2010.
24 Urteile 6B_81/2010 u. 6B_126/2010 vom 29.4.2010.
25 Vgl. BGE 129 IV 81 Erw. 3.1; 128 IV 117 Erw. 4a-c; 126 IV 225 Erw. 1c und d.
26 Urteil 6B_730/290 vom 24.11.2009.
27 Urteil 6B_766/2009 vom 8.1.2010.
28 Urteil 6B_17/2010 vom 6.7.2010.
29 Urteil 6B_819/2009 vom 14.1.2010.
30 Urteil 6B_660/2009 vom 3.11.2009.
31 Urteil 6S.266/2002 vom 13.8.2002 Erw. 3.3.
32 Urteil 6B_171/2010 vom 19.4.2010
33 Urteil 6B 63/2010 vom 6.5.2010.
34 Urteil 6B_536/2009 vom 12.11.2009.
35 Vgl. BGE 131 I 476 Erw. 2.2; 129 I 151 Erw. 3.1;
124 I 274 Erw. 5b.
36 Urteil 6B_781/2009 vom 06.01.2010.
37 Urteil 6B_1013/2009 vom 26.03.2010.
38 Urteil 6B_922/2009 vom 15.01.2010; Urteil 6B_64/2010 vom 26.02.2010; vgl. dazu auch den Kommentar von Rechtsanwalt Thomas Fingerhut in
forumpoenale 3/2010, S. 190.
39 Urteil 6B_300/2010 vom 16.09.2010.
40 Urteil 6B_22/2010 vom 08.06.2010.
41 Urteil 6B_1067/2009 vom 31.05.2010.
42 Urteil 1B_326/2009 vom 11.05.2010.
43 Vgl. BGE 131 I 36.
44 Urteil 1B_166/2010 vom 14.06.2010.
45 Urteil 1B_161/2010 vom 12.07.2010 Erw. 2.
46 Urteil 1B_257/2010 vom 25.08.2010.
47 Urteil 1B_321/2010 vom 12.10.2010.
48 Urteil 1B_263/2010 vom 31.08.2010.
49 Vgl. dazu: BGE 130 I 126.
50 Urteil 6B_327/2010 vom 19.08.2010.
51 Urteil 6B_583/2009 vom 27.11.2009.
52 Urteil 6B_30/2010 vom 01.06.2010, vgl. auch Urteil 6B_528/2010 vom 16.09.2010.
53 Urteil 6B_735/2009 vom 31.05.2010 vgl. aber auch Urteil 6B_856/2009 vom 09.11.2009.
54 Urteil 6B_312/2010 vom 13.08.2010
55 Urteil 6B_743/2009 und 6B_837/2009 vom 08.03.2010 sowie BGE 134 IV 266.
56 Urteil 1F_17/2009 vom 04.11.2009.
57 Vgl. BGE 133 IV 228.
58 Vgl. dazu Urteil 6B_522/2009 vom 26.10.2009. Zu diesen Verfahrensrechten gehört auch der aus Art. 3 EMRK und Art. 10 Abs. 3 BV abgeleitete Anspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung, wenn jemand in vertretbarer Weise vorbringt, von der Polizei erniedrigend behandelt worden zu sein. Aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK wird ferner ein Anspruch auf wirksamen Zugang zum Untersuchungsverfahren abgeleitet (BGE 131 I 455).
59 BGE 136 IV 29.
60 Urteil 6B_538/2009 vom 04.11.2009; Urteil 6B_522/2009 vom 26.10.2009; vgl. zur ganzen Thematik: forumpoenale 5/2010, S. 313.