plädoyer: Martin Burger, nach einer Richterkarriere bis zum Präsidenten des Zürcher Obergerichts gehen Sie an die Universität und schreiben eine Doktorarbeit über das Wahlsystem der Richter im Kanton Zürich. Gibt es daran etwas zu verbessern?
Martin Burger: Ich hatte als Richter Schlüsselerlebnisse. Besonders in den letzten vier Jahren als Zürcher Obergerichtspräsident hatte ich viel Kontakt zum Parlament und seinen Kommissionen und sah immer wieder, dass Politiker von Richtern erwarten, dass sie auf Parteilinie bleiben und im Sinne der Partei Recht sprechen. Mir wurde klar: Das System der Richterwahlen, das ich persönlich immer stützte, ist suboptimal.
plädoyer: Bald stimmt das Volk über die Justizinitiative ab. Sie schlägt eine einmalige Amtsdauer von Bundesrichtern vor, die spätestens mit Alter 70 endet. Ein guter Vorschlag?
Burger: Ja, die periodische Wiederwahl der Richterschaft muss abgeschafft werden. Heute sind die Amtszeiten auf Bundesebene und in den Kantonen kurz. Sie liegen bei vier bis sechs Jahren. Diese Wiederwahlen beschneiden die richterliche Unabhängigkeit auf unerträgliche Art und Weise. Es ist bezeichnend, dass von den 47 Europaratsstaaten einzig die Schweiz, Andorra und Liechtenstein eine periodische Wiederwahl kennen. Alle anderen wählen ihre Richter auf unbestimmte Zeit oder für neun oder zwölf Jahre.
plädoyer: Bei der letzten Bundesrichterwahl wäre Yves Donzallaz (SVP) von seiner Partei abgewählt worden – das Parlament bestätigte ihn aber klar. Zeigt das nicht, dass Richter heute parteiunabhängig entscheiden können?
Patrick Freudiger: Herr Donzallaz ist wiedergewählt worden. Sogar mit mehr Stimmen als in früheren Wahlen. Seine Stellung am Gericht ist sozusagen fast noch gestärkt worden. Es gehört zum Persönlichkeitsprofil eines Richters, dass er mit unangenehmen Situationen umgehen kann. Wir haben in der Schweiz Richter, die stark genug sind, um solchen Druckversuchen standzuhalten.
plädoyer: Die Rechtskommission des Nationalrates will an sechs Jahren Amtsdauer festhalten. Ist das sinnvoll?
Freudiger: In der Schweiz haben Wiederwahlen Tradition. Das hat ein Stück weit damit zu tun, dass auch Richter Rechenschaft ablegen sollen. Aber nicht aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit, sondern aufgrund der Qualität ihrer Arbeit. Im Kanton Bern steht bald die Wiederwahl bevor, was in aller Regel eine formelle Angelegenheit ist. Die Justizkommission fragt jeweils bei Verbänden und Gerichten nach, ob es Ablehnungsgründe gibt. Die Antwort ist regelmässig: Nein. Mit der Wiederwahl haben wir eine Qualitätskontrolle.
Burger: Ich sehe den Inhalt dieser Qualitätskontrolle nicht. Auf eidgenössischer Ebene wurde die Rechtslage durch ein Gutachten von Professorin Regina Kiener geklärt: Die Gerichtskommission darf nur einen Antrag auf Nichtwiederwahl stellen, wenn Gründe für eine Amtsenthebung gegeben sind. Das können schwere Verstösse gegen die Amtspflichten, der Verlust der Fähigkeit zur Amtsausübung oder begangene Verbrechen oder Vergehen sein. Wenn das aus verfassungsrechtlichen Gründen so gehandhabt werden muss: Wo liegt der Restgehalt der demokratischen Legitimierung bei den Wiederwahlen?
plädoyer: Sowohl Initiative wie Gegenvorschlag sehen ein Abberufungsverfahren bei schweren Pflichtverletzungen vor. Was spricht dagegen, auf eine bestimmte Amtsdauer zu verzichten?
Freudiger: In den USA werden die obersten Richter auf unbestimmte Zeit gewählt. Die geballte politische Auseinandersetzung konzentriert sich auf einen einzigen Punkt – den der einmaligen Wahl. Dass sich in der Schweiz die Richter nach sechs Jahren zur Wiederwahl stellen müssen, entdramatisiert den Zeitpunkt der Wahl. Ich bin überzeugt, die Wahl ist so weniger politisch.
plädoyer: In Zürich verlangt die SVP von ihren Richtern, dass sie eine Ehrencharta unterschreiben, welche sie auf die Parteilinie einschwört. Martin Burger, sind Sie deswegen aus der SVP ausgetreten?
Burger: Die Ehrencharta sah vor, dass jene, die dagegen verstossen, vor ein Ehrengericht gestellt werden. Zudem enthält sie die Forderung, man solle die Partei im Wahl- und Abstimmungskampf unterstützen, das Parteiprogramm beachten und sich immer am neusten Stand der Parteipolitik orientieren. Das Ehrengericht fiel zum Glück weg. Doch wer sich in Zürich bei der SVP für ein Richteramt bewirbt, muss nach wie vor die Charta unterschreiben. Das finde ich bedenklich.
Freudiger: In Bern kennen wir so etwas nicht. Ein Parteiprogramm ist auch nicht geeignet, auf Einzelfälle vor Gericht angewandt zu werden. Aber ich weiss von Fraktionen, die ihre Richter an ihre Sitzungen zitieren, damit sie ihre Rechtsprechung erklären. Ich spreche jetzt nicht von meiner Fraktion. Wie gesagt: Zum Profil eines Richters gehört es, solchen Druckversuchen standzuhalten.
plädoyer: Weiss die Bevölkerung eigentlich, wie sehr die Parteien Einfluss auf die Richterwahlen haben?
Burger: Nein. Das Wissen über den Parteienproporz und die Parteisteuer ist in der Bevölkerung sehr gering. Erklärt man es den Leuten, sind die meisten erstaunt und häufig auch empört. Wir haben im Kanton Zürich in den Bezirken für die Wahl der erstinstanzlichen Gerichte sogenannte interparteiliche Konferenzen (IPK). Die IPK des Bezirks Zürich machte ihre Satzungen öffentlich. Darin heisst es: Der Parteienproporz wird eingehalten. Voraussetzung ist, dass diejenige Partei, die Anspruch auf einen Richtersitz hat, eine gute Kandidatur vorweisen kann. In der Praxis heisst das: Die anderen Parteien, die auch Teil dieser Vereinbarung sind, können hervorragende Kandidaten bringen, haben aber keine Chance. Der Kandidat der Partei, die einen Anspruch hat, muss gewählt werden – und das wird er dann auch. Der Parteiproporz führt so zu einer mittelmässigen Justiz.
Freudiger: Es wäre zwar ein Fehler, wenn ein Kandidat, der für die jeweilige Stelle geeigneter ist als die übrigen, nicht gewählt würde, nur weil er parteilos ist. Aber bei mehreren gleich Qualifizierten ist es sinnvoll, auf die politische Ausrichtung zu achten. Der Parteienproporz dient als Annäherungskriterium, er widerspiegelt die Bandbreite von Meinungen in der Gesellschaft. Das trägt auch zur Akzeptanz der Richterarbeit bei. Parteilose sind nicht meinungslos, sie haben auch politische Wertungen. Ihre Wahl verfälscht den Proporz und damit tendenziell das gewünschte Abbild der politischen Verhältnisse.
Burger: Im Alltag der Gerichte spielt die Parteizugehörigkeit kaum eine Rolle. Abgesehen davon funktioniert der Parteienproporz nur so lange, wie er die Parteienlandschaft widerspiegelt. Im Kanton Zürich ist es wie in einem Basar. Die Parteizugehörigkeit wird schon lange nicht einzig nach politischen oder weltanschaulichen Kriterien gewählt, sondern nach opportunistischen Kriterien: Je nachdem, wie die Chancen sind, als Richter nominiert zu werden. Wir hatten auch etliche Parteiwechsel, die im Lauf einer Richterkarriere aus taktischen Gründen erfolgten. Ich habe schon alles erlebt: Von FDP zu SP, SP zu SVP etc. Es ist eine Illusion zu glauben, mit dem Parteienproporz würden an den Gerichten die verschiedenen Weltanschauungen der Gesellschaft wiedergegeben.
Freudiger: Dass sich Leute nur aus karrieristischen Gründen einer Partei anschliessen, mag in gewissen Fällen zutreffen. Das rechtfertigt nicht, das System in Zweifel zu ziehen.
Burger: Im Kanton Zürich ist die Einhaltung des Parteienproporzes übrigens nicht mehr freiwillig. Die Öffentlichkeit hat dies nicht einmal bemerkt. Das Reglement des Kantonsrats schreibt den Parteienproporz vor. Jede Partei, die neu im Kantonsrat einzieht, muss sich daran halten. Was formlos und freiwillig anfing, hat jetzt die erste Stufe als Reglement des Parlaments erklommen. Der nächste Schritt wäre ein kantonales Gesetz. Wenn das System des Parteienproporzes beibehalten werden soll, müssten wir tatsächlich zumindest die Bevölkerung fragen, was sie von dieser Gewichtung des Parteienproporzes bei Richterwahlen hält. Mein Vorwurf an die Parteien ist deshalb: Ihr schmuggelt den Parteienproporz an der Bevölkerung vorbei!
plädoyer: Die Justizinitiative will dies ändern, indem sie die Richter per Los bestimmen will. Zugang zum Losentscheid hätten nur Kandidaten, die von einer Fachkommission zugelassen würden. Auch die Rechtskommission des Nationalrats schlägt eine Vorselektion durch eine Fachkommission vor, gestützt darauf macht die Gerichtskommission der Räte einen Antrag an die Bundesversammlung, die wie bisher für die Wahl zuständig sein soll.
Burger: Ich finde die Initiative wichtig, sie greift einige bestehende Probleme auf. Der Losentscheid ist eine durchaus kreative Idee, ich lehne sie aber ab. Das Los wird der Bedeutung eines Richteramtes nicht gerecht. Aber die Abschaffung der Wiederwahl und damit indirekt auch der Parteisteuer ist richtig.
Freudiger: Das Wahlverfahren dieser Initiative ist fragwürdig. Der Bundesrat bestimmt ein Fachgremium und dieses die Kandidaten, die für das Losverfahren in Frage kommen. Aus meiner politischen Erfahrung weiss ich: In der Regel sucht sich die Politik ihren Weg zum Einfluss und findet diesen auch. Ich befürchte, dieses «Gremium der Weisen» wird nicht so unpolitisch entscheiden, wie wir hoffen. Politische Überlegungen würden versteckt in die fachliche Beurteilung einfliessen.
Burger: Beim indirekten Gegenvorschlag müsste die Gerichtskommission immerhin konkret sagen, warum sie eine Person ablehnt, die fachlich die anderen übertrifft. So wird immerhin eine Begründung verlangt. Letztendlich bietet das den Kräften im Parlament – die ebenfalls der Meinung sind, das Fachliche stehe vor dem Politischen – eine Argumentation, um abweichend zu wählen und nicht das, was ihnen von der Kommission vorgegeben wird.
plädoyer: Die Initiative würde die Möglichkeit für Parteien, von den Gewählten Mandatssteuern zu verlangen, abschaffen. Laut dem indirekten Gegenvorschlag will das Parlament «Alternativen zu Mandatssteuern prüfen». Reicht das?
Freudiger: Heute zahlen alle Mandatsträger Abgaben. Die Richter, Regierungsräte, Parlamentarier. Die Beiträge der Mitglieder genügen nicht, damit die Partei ihre Arbeit machen kann. Mandatsabgaben sind ein Mittel der Finanzierung der Parteien und vielleicht sogar sympathischer als anonyme Spenden. Ich finde es vertretbar, dass Richter als Mandatsträger auch einen Beitrag zahlen. Immerhin hat die Partei etwas für sie getan. Sie sind gewählt worden auch als Vertreter der Partei, damit sie wiederum zur Repräsentativität des Systems beitragen. Der Vorwurf des Amtskaufs ist polemisch und nicht gerechtfertigt. Die Mandatsabgaben sind nicht geeignet, einen Druck aufzubauen, der die richterliche Unabhängigkeit tangieren könnte.
Burger: Mandatssteuern sind etwas für Politiker. Mandatsträger wie Regierungsräte und Parlamentarier führen Wahlkämpfe und werden von ihren Parteien unterstützt. Als Richter mache ich hingegen keinen Wahlkampf. Sogar im Kanton Zürich, wenn ausnahmsweise einmal ein Parteiloser zum Zug kommt und ein Wahlkampf für ein Richteramt in der ersten Instanz stattfindet, gibt es keine Podiumsdiskussionen etc. Es gibt höchstens ein Plakat oder Inserate. Besonders gefährlich wird es, wenn die Partei die Nomination oder Wiederwahl als Richter davon abhängig macht, ob der Kandidat oder die Kandidatin bisher die Parteisteuern bezahlt hat. Das ist nicht nur bei der SVP so. Auch bei der SP finden wir entsprechende Passagen zum «Parteiausgleichsbeitrag». Mitglieder, die nicht bezahlen, «können nicht für Behörden und Parlamente des Kantons und des Bundes vorgeschlagen werden». Das könnte man auch auf die Richter anwenden. Böse Zungen – so böse sind sie wahrscheinlich gar nicht – behaupten, die Wiederwahl der Richterschaft alle sechs Jahre sei das Inkassomittel, um die Zahlungsmoral für die Parteisteuern aufrechtzuerhalten.
Freudiger: Das heutige System ist nicht fehlerfrei. Aber die Justiz funktioniert heute im Gesamten gut, so wie sie ist. Ein System, das grundsätzlich gut funktioniert, sollte nicht ohne Not geändert werden für theoretisch durchaus interessante Gedankenspiele, die selbst aber nicht unerhebliche Risiken in sich tragen. Ich bin im parlamentarischen Ausschuss für die Richterwahlen im Kanton Bern. Und ich kann sagen: Die Parteizugehörigkeit spielt zwar eine Rolle – aber nicht eine ausschlaggebende.
Burger: Parteiunabhängige Kandidaten haben keinen Zugang zu den höheren Richterämtern. Das ist ein Fakt. Im Kanton Zürich haben wir Volkswahlen bei den Bezirksgerichten. Da können sich parteiunabhängige Kandidaten durchaus Chancen erarbeiten, gewählt zu werden. Aber hier ist dann Ende der Fahnenstange. Kein parteiloser Bezirksrichter hat jemals eine Chance, Oberrichter zu werden – geschweige denn Bundesrichter. Das hat mit dem Wahlsystem im Parlament zu tun: Das Parlament wird von den Parteien dominiert. Und die Parteien bilden ein Kartell, das keine parteiunabhängigen Kandidaten für einen Richterposten zulässt.
Martin Burger, 63, ehemals SVP, war bis Juni 2020 Präsident des Zürcher Obergerichts. Er verfasst aktuell eine Doktorarbeit über die Richterwahlen im Kanton Zürich.
Patrick Freudiger, 36, SVP, ist Rechtsanwalt in Bern/Langenthal, Vizepräsident der Justizkommission im Kanton Bern und Vorsitzender des Ausschusses für Richterwahlen.
Gegenvorschlag zur Justizinitiative
Die Rechtskommission des Nationalrats machte folgenden Vorschlag, um die Wahl der Richter auf Bundesebene zu verbessern:
- Eine Fachkommission selektioniert die Kandidaten einzig aufgrund von fachlichen und persönlichen Eignungen.
- Die Gerichtskommission macht dem Parlament einen Antrag.
- Das Parlament wählt die Richter auf sechs Jahre.
- Bei schweren Pflichtverletzungen kann das Parlament die Richter abberufen.
- Das Parlament soll Alternativen zu Mandatsabgaben prüfen.
Die Rechtskommission des Ständerats schloss sich diesem Vorschlag im Dezember an. Im Januar kippte ihn die nationalrätliche Kommission und beschloss, dem Parlament keinen Gegenvorschlag zur Justizinitiative zu unterbreiten. Das Parlament hat noch nichts entschieden.
Die Justizinitiative will die Bundesrichter im Losverfahren bestimmen. Die Kandidaten werden zuvor durch eine Kommission nach fachlichen Kriterien ausgewählt. Die Richter werden bis zur Pensionierung gewählt.