«Wer nur am Titel interessiert ist, verzichtet besser. Denn Sie werden zwei bis drei Jahre Ihres Lebens mit dem Schreiben Ihrer Dissertation verbringen und dabei die Kraft finden müssen, um Krisen zu überwinden.» Das schreibt die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg in einem Glossar für potenzielle Doktoranden auf ihrer Webseite.
Das Interesse am Doktortitel hat in den vergangenen Jahren nachgelassen: In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der Jus-Studierenden um 48 Prozent, die Zahl der Doktorierenden hingegen nur um 38 Prozent gestiegen (plädoyer 4/11). Das mag zum einen daran liegen, dass viele nach dem Master oder dem Lizentiat das Anwaltsexamen erwerben, zum anderen an den aufkommenden LL.M., die oft mehr Prestige versprechen als ein Doktortitel.
Unter den Bundesräten finden sich mit Eveline Widmer-Schlumpf und Doris Leuthard zwei Juristinnen. Auch Bundeskanzlerin Corina Casanova ist Juristin. Doch nur Eveline Widmer-Schlumpf hat einen Doktortitel. Die CVP-Nationalrätin und promovierte Naturwissenschafterin Kathy Riklin konstatiert denn auch einen Werteverlust des Doktortitels in der Schweizer Gesellschaft; unter Politikern gehöre es sich mittlerweile nicht mehr, den akademischen Titel anzugeben: «Im Parlament gibt es ein ungeschriebenes Verbot, den Titel zu verwenden. Sie sei in der Geschäftsprüfungskommission einmal von einem SVP-Parlamentarier gerügt worden, weil sie ihren Titel unter ein offizielles Schreiben gesetzt habe. «Anders als in Deutschland hat die Gesellschaft in der Schweiz ein anderes Verhältnis zu Doktortiteln, das merken wir, wenn wir mit einer politischen Delegation im Ausland sind», sagt die Zürcherin. Im Parlament müsse man sich fast ein bisschen für den Doktortitel schämen.
Die Webseite von Pro-Wiss, dem Rahmenprogramm zur Unterstützung der wissenschaftlichen Laufbahn von Frauen der Universität Zürich, warnt sogar, dass eine Dissertation im ausseruniversitären Arbeitsmarkt einen Nachteil darstellen kann - insbesondere wegen der mangelnden Berufserfahrung und der damit verbundenen fehlenden Kontakte in der Praxis.
In Stellenanzeigen wird denn auch mehrheitlich ein Anwaltspatent verlangt, kein Doktorhut. Zwar zeigt ein Doktorand Durchhaltevermögen, aber er steigt unter Umständen auch später in den Berufsalltag ein.
Die Besten, unabhängig von einem Doktortitel
Ein Doktorat ist nur für eine akademische Karriere Voraussetzung, nicht aber in der Verwaltung, Advokatur oder Privatwirtschaft. Jérôme Niquille vom Eidgenössischen Personalamt zieht das Anwaltspatent oft einer Dissertation vor, «besonders wenn jemand in einer stark praxisorientierten Position arbeitet. Eine Dissertation kann aber auch interessant sein, da Doktoranden über spezialisierte Fachkenntnisse in einer bestimmten Materie verfügen», sagt er. Geht es um eine international ausgerichtete Stelle, wird der LL.M. einer Dissertation jedoch klar vorgezogen. «Kriterien wie Persönlichkeit und andere Fach- und Sozialkompetenzen sind aber ebenso wichtig», betont Niquille.
Ulrich Keusen ist bei Bratschi, Wiederkehr & Buob in Bern zuständig für die Auswahl neuer Mitarbeitender. Auch er schreibt dem Doktortitel keine besondere Bedeutung zu: «Wir sind auf der Suche nach den besten Leuten, unabhängig davon, ob jemand doktoriert hat oder nicht», sagt er. «Personen mit Doktortitel werden bei uns nicht wegen der Marketingwirkung ausgewählt.» Habe jemand doktoriert und die Arbeit in einer interessanten Schriftenreihe und mit einem guten Prädikat abgeschlossen, dann treten für Keusen die Noten des Anwaltsexamens in den Hintergrund, aber das Anwaltspatent sei nach wie vor Voraussetzung für die Bewerbung.
«In unserer Kanzlei kann aber auch der LL.M. in einer Fremdsprache interessant sein, obwohl sich der Titel inflationär entwickelt und damit die Abschlussuni und die Abschlussarbeit berücksichtigt werden müssen.» Wichtiger ist für Keusen, der weder Doktortitel noch LL.M. hat, das «innere Feuer für anwaltliche Herausforderungen». Schreibe jemand mit Leidenschaft selbst über ein exotischeres Thema, werde das honoriert - auch beim Lohn: «Bei uns werden aber auch eine Mutterschaft oder der zweite Bildungsweg entschädigt. Jede zusätzliche Qualifikation wirkt sich lohnmässig aus.»
Auch Claude Lambert von Homburger sieht eine Dissertation bei der Bewerbung weder als Vor- noch als Nachteil: «Doktorieren muss man für sich selbst, nicht für eine Bewerbung, sonst quält man sich nur.» Der promovierte Partner mit LL.M. sagt zudem: «Eine Dissertation ist eine Zusatzqualifikation im wissenschaftlichen Arbeiten, im Gegensatz dazu dient ein LL.M. der internationalen Horizonterweiterung.»
Promovierte Juristen eher selbständig
Ähnlich ist es bei der Credit Suisse. «Für eine Anstellung ist eine Dissertation alleine nicht ausschlaggebend», sagt CS-Sprecherin Sibylle Mani. «Für einzelne Stellen kann die Dissertation ein Vorteil sein, aber auch ein Anwaltspatent oder der LL.M. sind für viele Tätigkeitsfelder nützlich. Insgesamt werden bei der Credit Suisse sämtliche Qualifikationen und Erfahrungen eines Kandidaten berücksichtigt.»
In der 2010 veröffentlichten Studie «Promotion und Karriere - Wie adäquat sind Akademikerinnen und Akademiker in der Schweiz beschäftigt?» hat das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern festgestellt: «Wird Berufserfolg ausschliesslich an Karrierefaktoren wie Lohn und beruflicher Stellung gemessen, können Promovierte der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften am meisten profitieren. Wie in allen anderen Bildungsschichten verdienen promovierte Frauen deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie häufiger Jobs ausüben, die eine Promotion als Einstellungsvoraussetzung verlangen.» Darüber hinaus zeigt die Studie, dass im Vergleich zu anderen Studienrichtungen promovierte Juristen besonders häufig selbständigerwerbend sind.