Der 7. September dieses Jahres war ein Sonntag. Es war der Tag, an dem das Vereinigte Königreich ins Wanken geriet. Eine kleine Nachricht in der «Sunday Times» machte diesen Sonntag zu einem Tag mit folgenschweren Konsequenzen. Aber die Nachricht hatte es in sich. Sie war, verfassungsrechtlich gesehen, explosiv.
Was war geschehen? Die «Sunday Times» publizierte an jenem Tag das Ergebnis einer YouGov-Meinungsumfrage. Sie prophezeite die Abspaltung Schottlands vom Rest Britanniens. Es war die erste grössere Umfrage vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum vom 18. September, die einen solchen Ausgang voraussagte.
Bis dahin hatte man sich in London im Glauben gewiegt, dass der 307 Jahre alten Union aus England und Schottland keinerlei Gefahr drohe. Deshalb liess das YouGov-Resultat an der Themse alle Alarmglocken schrillen. Was niemand in Westminster hatte glauben wollen, war nun auf einmal reale Möglichkeit.
Premierminister David Cameron beteuerte, ihm würde «das Herz brechen», wenn das Königreich auseinanderfiele. In aller Hast tat sich Cameron mit den Vorsitzenden der anderen beiden grossen britischen Parteien – dem Liberaldemokraten Nick Clegg und dem Labour-Chef Ed Miliband – zusammen. Gemeinsam unterzeichneten alle drei ein feierliches «Gelübde». Darin versprachen sie dem schottischen Parlament «weitreichende neue Befugnisse» – solange Schottland nur in der Union bliebe.
Dieses Gelübde – «The Vow» – war eine direkte Folge der Umfrageergebnisse vom 7. September. Es zierte am 16. September die Frontseite des Glasgower «Daily Record» – achtundvierzig Stunden vor dem alles entscheidenden schottischen Urnengang.
Wie das Referendum dann verlief, ist inzwischen bekannt. Die Schottische Nationalpartei (SNP) verlor die Schlacht um die Unabhängigkeit. Wie sehr das «Gelübde» zur Niederlage beitrug, ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls sehen sich die drei Parteien nun verpflichtet, ihr Versprechen zu erfüllen und den mit ihm verbundenen Zeitplan einzuhalten.
Bis im nächsten Mai soll ein Vorschlag vorliegen
Ebenfalls zugesichert hatten sie den Schotten nämlich, dass gleich diesen Herbst ein konkreter Reformplan erarbeitet würde. Und dass dem Unterhaus im Januar bereits eine Gesetzesvorlage zugehen soll. Das Gesetz verabschieden soll dann – unmittelbar nach den Unterhauswahlen vom Mai 2015 – jene Partei, die aus diesen Wahlen als Gewinnerin hervorgehen wird.
Und so wird nun um die versprochene Erweiterung der Autonomie gerungen. Lord Smith of Kelvin, ein Geschäftsmann und früherer BBC-Rundfunkrat, ist von Cameron mit der eiligen Suche nach einer Lösung beauftragt worden, die auch für die SNP akzeptabel sein soll. Ob es überhaupt möglich ist, in so kurzer Zeit Kompromisse zu finden, muss sich noch zeigen. Die Westminster-Parteien selbst – Tories, Liberale und Labour – sind sich untereinander keineswegs einig.
Begrenzte Autonomie besitzt Schottland schon heute. Mit der Einrichtung eines schottischen Parlaments 1999 durch die damalige Labour-Regierung Tony Blairs sind den Schotten mehrere Rechte zuteil geworden. Schottland trägt seither eigene Verantwortung für seine Gerichtshöfe, für den Strafvollzug, die Polizei und die Feuerwehr. Auch die Schulen und Hochschulen in Schottland, der schottische Teil des nationalen Gesundheitsdienstes, Landwirtschaft und Fischerei, Kommunalverwaltung, Erhebung der Gemeindesteuer und das Verkehrswesen obliegen seither der schottischen Regierung und dem schottischen Parlament.
Vor zwei Jahren ist ausserdem ein neues Schottland-Gesetz verabschiedet worden, das den Schotten von 2016 an ein weiteres Recht verschafft – und zwar, die britische Einkommenssteuer leicht zu variieren. Um bis zu 10 Prozent kann der Steuersatz in Schottland künftig vom britischen abweichen. Verlangt die schottische Regierung mehr Steuern, darf sie den Mehrwert für sich behalten. Auch wird sie von 2016 an etwas mehr Geld aufnehmen dürfen als bisher.
Uneinigkeit über den Grad der finanziellen Hoheit
Worüber jetzt aber verhandelt wird, ist die versprochene nochmalige und eben «weitreichende Ausdehnung der Autonomie». Die Liberaldemokraten wären bereit, den Schotten volle Finanzhoheit zu übertragen. Die Konservativen können sich ein schottisches Verfügungsrecht über alle Einkommenssteuerentscheidungen vorstellen. Die Labour Party ist etwas zögerlicher. Sie will es bei Steuerabweichungen von erst einmal 15 statt 10 Prozent belassen.
Ausserdem wird darum gerungen, ob und wie viel an Verfügungsgewalt über das Sozialbudget dem schottischen Parlament überantwortet werden könnte. Ein Problem dabei ist, dass eine solche Neuordnung das «universelle» britische Wohlfahrtssystem sprengen würde. All diese Fragen sind bisher ungeklärt.
Die schottischen Nationalisten hätten gern mehr, sind sich aber bewusst, dass sie nach dem verlorenen Referendum Kompromisse eingehen müssen. Fest rechnen darf die SNP jedoch mit der ebenfalls versprochenen verfassungsmässigen Absicherung des schottischen Parlaments durch Westminster – damit die Volksvertretung in Edinburgh gegen ihren Willen nie mehr von London aufgelöst werden kann.
Eine Komplikation bei der Frage der Behandlung schottischer Steuerhoheit bildet das sogenannte «Barnett-Formular». Dieses Formular, benannt nach dem früheren Finanzstaatssekretär Joel Barnett, regelt seit Ende der Siebzigerjahre die Ausgabenverteilung für die verschiedenen Gebiete des Vereinigten Königreichs in separaten Bereichen wie Bildung oder Gesundheit.
«Völlig ungerechter Finanzverteiler»
Ursprünglich am prozentualen Anteil der jeweiligen Bevölkerung festgemacht, aber lange nicht revidiert, produziert das Barnett-Formular heute ungleiche Auszahlungssummen. So erhalten die Schotten pro Kopf von der Londoner Schatzkanzlei im Jahr 10 152 Pfund überwiesen, die Waliser, die viel ärmer sind, aber nur 9709 Pfund und die Engländer 8529 Pfund.
Unter dem Druck des Referendums haben die drei Westminster-Parteien den Schotten in ihrem Gelübde versprochen, am Barnett-Formular festzuhalten. Beim Abtreten neuer Finanzbefugnisse an Schottland muss das System aber wohl neu geordnet werden. Und nicht wenige englische Politiker wollen schon heute den ihrer Ansicht nach «völlig ungerechten» Verteiler ganz abschaffen – weil er dem «aufsässigen Schottland» zum Dank für seine Aufsässigkeit auch noch ungebührliche Vorteile verschaffe.
Schottische «Einmischung» in englische Fragen
Das war aber nicht die einzige Folge des feierlichen Dreier-Schwurs. Das generelle Versprechen noch grösserer schottischer Selbstbestimmung rührte in England nämlich prompt ein anderes altes Problem auf, das nie gelöst wurde und das sich nun mit Macht wieder in Erinnerung bringt. Dieses Problem bezeichnet man in Grossbritannien als die «West Lothian Question» – weil der frühere Abgeordnete für das schottische Gebiet West Lothian, Tam Dayell, die Frage Ende der Siebzigerjahre erstmals formulierte. Dayell wollte wissen, warum Unterhausabgeordnete aus schottischen Wahlkreisen, wie er selbst, drunten in Westminster mitentscheiden sollten über Dinge, die ihre Wähler gar nicht betrafen. Warum sollten Schotten, Waliser und Nordiren sich in englische Verhältnisse «einmischen», die sie überhaupt nichts angingen?
Akut wurde diese Frage, als 1999 die neuen Parlamente in Schottland und Wales konstituiert wurden. Immer wieder taucht seither die «West Lothian Question» auf. Meist liess man die Frage, weil es keine simple Antwort auf sie gibt, schnell wieder fallen. Jetzt jedoch, vor der Übertragung weiterer Rechte an Edinburgh – und möglicherweise in bescheidenerem Masse auch an Cardiff –, lässt sie sich nicht länger beiseiteschieben. Vor allem konservative Politiker aus englischen Regionen wollen den Status quo nach all dem Referendumsrummel nicht länger hinnehmen. Boulevardzeitungen in London rufen nach «englischen Stimmen für englische Gesetze». Auch die Unabhängigkeitspartei Ukip, die sich als «die Stimme Englands» versteht, verlangt eine sofortige Änderung. Ukip kann sich sogar «ein englisches Parlament nur für England» vorstellen.
Rekordschnell hat Premier Cameron die Forderung seiner ungehaltenen Hinterbänkler aufgegriffen. Schon eine Stunde nach Bekanntgabe des Referendumsergebnisses verkündete er, nun, da man die Stimme Schottlands gehört habe, müssten auch «Millionen englischer Stimmen» Gehör finden. Diesmal ohne Absprache mit Labour und Liberaldemokraten übertrug er seinem Minister fürs Unterhaus, William Hague, die Leitung eines Kabinettsausschusses, der einen englischen Ausgleich für schottische Selbstverwaltung finden soll.
Stimmrechtsbegrenzung würde Tories nützen
Die Eilfertigkeit der Konservativen kommt nicht überraschend. Zum einen sucht Cameron wachsende Kritik aus den eigenen Reihen an seinen «panischen» Zugeständnissen an Schottland abzuwehren. Zum zweiten existiert ein starkes Tory-Interesse an einer solchen Neuregelung. Von den 59 Wahlkreisen Schottlands hält die Konservative Partei nämlich nur einen einzigen, die Labour Party aber mit 41 über zwei Drittel. Eine Begrenzung des Stimmrechts der Schotten in Westminster würde die Basis der politischen Linken im Königreich untergraben.
Sollten von nun an nur noch englische Abgeordnete über «englische Gesetze» entscheiden und alle anderen Parlamentarier sich bei solchen Abstimmungen der Stimme enthalten müssen, würden die Tories in Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Soziales über eine absolute Mehrheit verfügen. Sie bräuchten also für die meisten innenpolitischen Entscheidungen keine liberaldemokratischen Koalitionspartner mehr – obwohl sie es auf nationaler Ebene bei den letzten Wahlen gar nicht zu einer Mandatsmehrheit gebracht haben.
Noch komplizierter würde die Situation, wenn die Labour Party bei den Unterhauswahlen im nächsten Mai eine knappe Mehrheit erränge. Sie würde dann den Premier und die britische Regierung stellen, hätte aber – solange sie nicht gleichzeitig auch in England über eine Mehrheit verfügte – keinen Einfluss auf massgebliche Fragen britischer Politik.
Westminster: Bald zwei Parlamente in einem?
Übrigens gibt es verschiedene Vorstellungen davon, wie ein englisches Parlament aussehen könnte. Im Radikalfall wird an eine parallel gewählte Kammer, an eine eigene Versammlung in einem eigenen Gebäude, möglicherweise ausserhalb Londons, gedacht. Einige Konservative wollen sogar, um die neuen Machtverhältnisse vollkommen klar zu machen, das gesamtbritische Parlament aus dem Palast von Westminster auslagern und das neue englische an der feinen alten Adresse unterm Big Ben einquartieren.
Für die Ausgaben, die mit so etwas verbunden wären, würde man aber nur schwerlich Zustimmung in der Bevölkerung finden. Darum zielen gemässigtere Vorschläge dahin, dass man weiterhin nur ein einziges Parlament wählen würde – und dass das Parlament des Vereinigten Königreichs in Westminster etwa montags und freitags tagen würde, die gleichen Parlamentarier ohne ihre schottischen, walisischen und nordirischen Kollegen aber als englisches Parlament dienstags, mittwochs und donnerstags. Das Problem bei diesem Modell ist allerdings, dass man damit Abgeordnete erster und zweiter Klasse schaffen würde. Und dass der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs sich so nur noch weiter lockern würde – was ja nicht die Idee des Gelübdes war, mit dem Schottland bei der Stange gehalten werden soll. «Eine Verfassungsreform muss die verschiedenen Teile des Vereinigten Königreichs miteinander verknüpfen», mahnt denn auch Professor Vernon Bogdanor vom King’s College London. «Sie darf sie nicht voneinander trennen wollen.» Bogdanor sieht «keine saubere, symmetrische Lösung» für diese knifflige «englische Frage». Sein Fazit: «Asymmetrie ist der Preis, den England bezahlt, um Schottland in der Union zu halten.»
Das Kernproblem der «englischen Frage» ist die Tatsache, dass England mit 84 Prozent der britischen Bevölkerung viel grösser ist als Schottland (8 Prozent), Wales
(5 Prozent) und Nordirland (3 Prozent). Die ursprünglichen Autonomiemodelle waren ja einmal Zugeständnisse an nationale Minderheiten gewesen.
Da englische Regionen wie Yorkshire oder die Midlands nicht dieselbe starke Identität und dasselbe Selbstbestimmungsbedürfnis haben wie Waliser oder Schotten, lässt sich England selbst auch kaum künstlich in Regionen aufspalten. Versuche in dieser Richtung sind in der Vergangenheit mehrfach im Sand verlaufen.
Labour schlägt alternativ vor, einen neuen Anlauf in Richtung mehr Autonomie für städtische Grossräume zu unternehmen. Dazu hat die Partei eine «verfassunggebende Versammlung» für die nächsten Jahre vorgeschlagen, die ein Reformprogramm für ganz Grossbritannien austüfteln soll.
So oder so, darin sind sich alle im Königreich einig, steht den Briten die grösste Verfassungsreform seit der Einführung der Home Rule in Irland 1921 bevor.