Von Berufsverbänden und von Standesorganisationen ausgearbeitete berufsethische Standards und Richtlinien sind längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Nicht so bei der Schweizer Richterschaft. Abgesehen von einer Ausnahme - dem Kantonsgericht Basel-Landschaft - gibt es offenbar keine schriftlich verankerten Verhaltensregeln.
Dabei ist die Art und Weise, wie sich Richter in- und ausserhalb des Gerichts verhalten, entscheidend für das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz. Für Dieter Freiburghaus, Vizepräsident am Kantonsgericht Liestal, ist klar: «Die elementare Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für den Rechtsstaat sollte Anlass genug sein, nicht nur verfahrensrechtliche Sicherungen in Form von gesetzlichen Ausstandsregeln vorzusehen, sondern auch klare Rechte und Pflichten für die Richterinnen und Richter zu statuieren.»
Öffentliche Entrüstung führte zu Baselbieter Kodex
Weshalb es Regeln braucht, zeigt die Entstehungsgeschichte des Kodexes am Baselbieter Kantonsgericht. Ausgelöst hatte das Ganze ein als Anwalt tätiger nebenamtlicher Kantonsrichter. Auf einer Webseite mit pornografischen und pädophilen Inhalten wurde er als Rechtsvertreter des Betreibers der Seite genannt. Das löste einen Sturm der Entrüstung in Medien und Politik aus.
«Mit Bestürzung» habe man erfahren, dass es für den Richterstand keinerlei festgelegte Verhaltensrichtlinien gebe, gab die Grüne Fraktion im Kantonsparlament zu Protokoll. In einem Postulat bat sie den Regierungsrat zu prüfen, «inwieweit er den Richterstand zur Einführung und Einhaltung eines Ehren- oder Verhaltenskodexes verpflichten kann.» Bevor es dazu kam, setzte das Gericht selbst eine Arbeitsgruppe ein, die den ersten Verhaltenskodex für Richter in der Schweiz ausarbeitete.
Mit der Selbstregulierung kam das Gericht einer «mit der Unabhängigkeit der Judikative kaum zu vereinbarenden Fremdbestimmung» durch Regierung und Parlament zuvor, konnte Freiburghaus feststellen, als er in der Richterzeitung (Justice-Justiz-Giustizia 2005/1) den seit Mai 2004 geltenden Kodex vorstellte.
Dieser geht von den Grundsätzen «Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und korrektes Verhalten» aus und formuliert entsprechende Verhaltensregeln. Vieles erscheint selbstverständlich, etwa wenn es heisst, «Richter und Richterinnen üben ihre richterlichen Pflichten ohne Bevorzugung, Vorurteil oder Voreingenommenheit aus». Doch den Schöpfern des Kodexes ging es darum, die Richter «zur permanenten und kritischen Selbstreflexion» ihres Verhaltens aufzufordern, wie Freiburghaus sagt.
Das gilt auch für ihr Auftreten ausserhalb des Gerichts. Dazu der Kodex: «Richterinnen und Richter tragen ihrem Amt auch im privaten, (haupt-)beruflichen und gesellschaftlichen Umgang Rechnung.» Beratungs- und Vertretungstätigkeit, welche Rechtsverletzungen ermöglichen oder fördern, sind «verpönt». Eine einleuchtende Regel, trotzdem kann sie im Alltag Fragen aufwerfen, wie Freiburghaus an einem Beispiel zeigt: «Wie ist eine sogenannte Steueroptimierung, die der Steuerhinterziehung bekanntlich nahekommen kann, zu qualifizieren?»
In vielen anderen Ländern gibt es Kodizes
Der Arbeitsgruppe, die den Kodex formulierte, gehörte auch Stephan Gass an. Der Vizepräsident am Baselbieter Kantonsgericht und Professor für Recht und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz befasst sich seit langem mit Fragen der Richterethik. Ethik-Regelungen haben in den vom «Common Law» geprägten Staaten eine lange Tradition, erklärt er, weil dort zumeist gesetzliche Normen fehlen. 1924 entstanden in den USA die ersten berufsethischen Regeln, dann folgte Kanada. In den Neunzigerjahren wurden sie auch in Kontinentaleuropa zum Thema. 1994 verabschiedete die Italienische Richtervereinigung den ersten Richterkodex in Europa. Inzwischen verfügen auch viele Länder Ost- und Mitteleuropas über einen Kodex.
In Österreich hat sich die Richtervereinigung 2007 auf zehn ethische Grundsätze in Form eines Gelöbnisses verpflichtet. Die Richter versprechen, ihre Entscheide an den Grundrechten zu orientieren und jede ungesetzliche Einflussnahme von sich zu weisen. Interventionsversuche wollen sie offenlegen. Und sie versichern, bei ihrem ausserdienstlichen Verhalten sorgfältig zu prüfen, ob sie ihre «Handlungen oder Äusserungen in die Gefahr von Abhängigkeiten bringen oder auch nur einen solchen Anschein erwecken können».
Baselbieter fanden in der Schweiz keine Nachahmer
Gass beschreibt in seinen Publikationen zur Richterethik auch die Bestrebungen internationaler Organisationen zur Schaffung von Verhaltensregeln. Lanciert hatte die Debatte im Jahr 2000 eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Arbeitsgruppe mit den «Prinzipien von Bangalore». Das Papier orientierte sich stark am angelsächsischen Rechtsdenken und stiess in Europa auf Kritik, weil es Verstösse gegen ethische Prinzipien mit einer disziplinarischen Ahndung verknüpfte. Im Auftrag des Europarates erarbeitete dann der Beirat der Europäischen Richter im November 2002 eine Stellungnahme (Avis) zum Thema «richterliche Berufsethik».
Inzwischen hat sich auch das Ministerkomitee des Europarates für die Schaffung berufsethischer Verhaltensregeln ausgesprochen. Und diese, so heisst es in der Empfehlung vom 17. November 2010 an die Mitgliedstaaten, sollten in einem Kodex verankert werden.
Auch die Internationale Richtervereinigung ist überzeugt, dass die Einhaltung ethischer Grundsätze durch Richterinnen und Richter zum Schutze ihrer Unabhängigkeit unentbehrlich ist. Schriftlich festgehaltene Regeln seien dabei ein wichtiges Hilfsmittel, doch müssten sie von den Richtern selber ausgearbeitet werden, hielt die von Gass geleitete Studienkommission im Jahr 2004 fest.
Anders als auf der internationalen Ebene sieht es in der Schweiz aus. Berufsethische Statute sind bei der Richterschaft «kein grosses Thema», räumt der Präsident der Richtervereinigung, der Zürcher Oberrichter Peter Hodel, offen ein. So ist entgegen den Erwartungen der Kantonsrichter kein anderes Baselbieter Gericht ihrem Beispiel gefolgt. Auch in Basel-Stadt fand der Kodex keine Nachahmer, wie die Präsidentin des Appellationsgerichts Marie-Louise Stamm bestätigt. Stamm wie Hodel erklären sich das mangelnde Interesse mit den bestehenden gesetzlichen Vorschriften über die Ausstandspflicht und die Offenlegung von Interessenbindungen.
Anstand, Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit wahren
Auch die Staatsrechtlerin Regina Kiener glaubt, dass in der Schweiz viele Fragen vom Gesetz aufgefangen werden. Trotzdem könne ein Verhaltenskodex sinnvoll sein, um gewisse Prinzipien in Erinnerung zu rufen. Nicht zuletzt dort, wo es um Fragen des Anstands und den Grundsatz geht, dass ein Richter nichts machen soll, was seine Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit in Frage stellen könnte. Die Professorin an der Universität Zürich erinnert an den vor einem halben Jahr bekannt gewordenen Fall aus Einsiedeln: Dem Kandidaten als Ersatzrichter gefällt, mit seiner Band im Adamskostüm aufzutreten und mit Texten weit unter der Gürtellinie zu glänzen. Roland Lutz wurde dennoch gewählt - er war der einzige Kandidat.
Gass erwähnt ein anderes Beispiel, in dem das Verhalten des Richters berufsethisch gesehen fragwürdig erscheint, obwohl es zweifellos «rechtens» war: Ein Zürcher Bezirksrichter verteilte mit Parteikollegen eine Druckschrift des «Komitees für ein repressionsfreies Zürich», in der dieses die Einstellung aller hängigen Strafverfahren gegen Demonstranten forderte.
Richtlinien für ein politisches Engagement
Die Frage, wie weit ein Richter bei seinem politischen Engagement gehen darf, hat in der Schweiz, wo die Parteien bei der Richterwahl eine massgebende Rolle spielen, eine noch grössere Bedeutung als anderswo. Das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Richter gerät spätestens dann in Gefahr, wenn ein Richter sich als Scharfmacher zu profilieren sucht und den politischen Gegner oder bestimmte Tätergruppen verunglimpft. «Es gibt bei uns Richter, die sich bewusst politisch zurückhalten», weiss der Präsident der Richtervereinigung Peter Hodel. Andere zögerten nicht, sich in ein Parlament wählen zu lassen oder ein Parteiamt zu übernehmen.
Ein Kodex könnte helfen und Richtlinien für die politische Tätigkeit der Richter formulieren. Regina Kiener würde eine Regelung im Gesetz vorziehen. Das Gesetz sollte klarmachen, dass Richter sich in der Öffentlichkeit nur zurückhaltend politisch äussern sollten. «Ein Richter ist der Unparteilichkeit verpflichtet und müsste eigentlich über den Dingen stehen», argumentiert Kiener. «Als Parteimann dagegen soll und darf er parteiisch sein. Das passt nicht zusammen.» Das politische Engagement der Richter leiste dem Bild Vorschub, dass die Gerichte politische Instanzen seien. «Das macht sie politisch angreifbar», sorgt sich die Professorin, die schon ihre Habilitationsschrift der richterlichen Unabhängigkeit gewidmet hat. Nicht umsonst hat auch der Richterbeirat des Europarates die Richter aufgefordert, bei politischen Auftritten «Zurückhaltung zu demonstrieren».
Der Haken: Der Kodex ist nicht durchsetzbar
In der Schweiz kommt es häufig vor, dass Anwälte auch als Richter arbeiten. Mag sein, dass manchen Juristen der Rollentausch gar nicht schlecht gelingt. Doch selbst dann stellt sich die Frage, wie diese Doppelrolle bei den Rechtsuchenden ankommt. Der Glaubwürdigkeit der Justiz dürfte sie jedenfalls kaum förderlich sein. Eigentlich müsste der Gesetzgeber eingreifen, fordert Staatsrechtsprofessorin Kiener.
Doch in den kleineren Kantonen ist die Kombination Anwalt/ Richter so stark verwurzelt, dass gesetzliche Korrekturen nicht zu erwarten sind. Ein Ethikkodex kann da wenig ausrichten. Immerhin könnte er die Doppelspieler daran erinnern, dass ihre Doppelfunktion äusserst heikel ist.
Vielleicht hat der Baselbieter Kodex so wenig bewegt, weil er eine grosse Schwäche aufweist: die fehlende Durchsetzbarkeit. Auch wenn man nicht will, dass ethische Verhaltensregeln sich zu einem zweiten Disziplinarrecht entwickeln, sollte der Kodex nicht toter Buchstabe bleiben und in einer Schublade vermodern. Sonst lohnt sich die ganze Übung nicht. Es braucht eine Instanz, die sich mit der praktischen Umsetzung befasst. Vorgeschlagen wurde schon, dass sich die Richtervereinigung darum kümmert.
Der Verhaltenskodex des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte («Resolution on Judicial Ethics» vom 23. Juni 2000) zeigt einen andern Weg. In Zweifelsfällen kann der Richter beim Gerichtspräsidenten Rat einholen. Aufgabe des Präsidenten ist es auch, dem Gesamtgericht über die praktische Anwendung der Regeln Bericht zu erstatten.
Links zu ausgewählten Ethikerklärungen:
Verhaltenskodex des Kantonsgerichts Baselland
Link: www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/gerichte/verhaltenskodex.pdf
Ethikerklärung der österreichischen Richterinnen und Richter
Link: www.richtervereinigung.at/content/view/260/4
«Codice etico» der italienischen Richterinnen und Richter
Link: www.associazionenazionalemagistrati.it/codice-deontologico
«Resolution on Judicial Ethics» des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Link: www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/The+Court/How+the+Court+works/Judicial+ethics/