Hans Moor erkrankte im Jahr 2004 an einem unheilbaren Pleuramesotheliom. Dabei handelt es sich um einen bösartigen Tumor. Moor kam berufsbedingt mit Asbest in Kontakt. Er arbeitete als Maschinenmechaniker, seit 1964 am gleichen Arbeitsplatz in Baden – anfänglich bei BBC, dann bei ABB und bei Alstom. Bei der Montage und Demontage von Dampfturbinen kam er in erheblichen Kontakt mit Asbest, weil der Turbinenmantel mit einer dicken Asbestisolation umgeben war. Wollten die Mechaniker an die Turbine gelangen, mussten sie den Asbestmantel entfernen. Das taten sie meist in Handarbeit durch Weghacken.
Gegen Staub schützten sich die Arbeiter nicht, da sie nicht wussten, dass Asbest gefährlich ist. Dies, obwohl seit 1964 – dem Jahr der Publikation der Studie des US-Mediziners Irving J. Selikoff – bekannt war, dass Asbeststaub ein wahrscheinliches Risiko für die Verursachung des tödlichen Pleuramesothelioms darstellt.
Die Krankheit tritt erst nach langer Latenzzeit auf
Aus medizinischer Sicht sind für den Fall zwei Punkte entscheidend:
- Die Krankheit Pleuramesotheliom tritt in beinahe allen Fällen nach einer Latenzzeit von mindestens zwölf Jahren auf. Die Latenzzeit kann bis zu 45 Jahre dauern.
- Die Krankheit kann vor ihrem Ausbruch nicht festgestellt werden. Wer Asbestfasern in sich trägt, muss nicht zwingend erkranken.
Noch zu Lebzeiten klagte Hans Moor gegen seinen Arbeitgeber. Er machte gestützt auf Artikel 328 OR Schadenersatz und Genugtuung geltend. Der Vorwurf lautete auf ungenügende Information und ungenügenden Schutz am Arbeitsplatz. Die Beklagte ihrerseits erhob Verjährungseinrede und machte geltend, die absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren sei abgelaufen. Der Beginn dieser Frist falle auf den Tag, an dem er zuletzt Asbest ausgesetzt war.
Der Kläger entkräftete dieses Argument damit, dass etwas, das noch nicht entstanden sei, nicht verjähren könne. Zudem verwies er darauf, dass es bei der vertraglichen Haftung keine relative und absolute Verjährung gebe, sondern die Verjährung ab Fälligkeit der Forderung beginne und ab diesem Zeitpunkt zehn Jahre dauere.
Im Wissen um den «Sündenfall» des Bundesgerichts im sogenannten Uhrmacherinnenfall (BGE 106 II 134) appellierte der Kläger, bei der vertraglichen Haftung sei zur ursprünglichen Verjährungsregel zurückzukehren, wonach eine vertragliche Forderung erst ab ihrer Entstehung verjähren kann. Und: Wenn das schweizerische Verjährungsrecht die Forderung unter allen Titeln als verjährt erachte, verletze es Artikel 6 EMRK, weil dem Kläger damit der effektive Zugang zum Gericht verwehrt bleibe und er aufgrund seiner Erkrankung mit ihrer langen Latenzzeit diskriminiert werde.
Das Arbeitsgericht Baden gab zu erkennen, man werde die Verjährungsfrage vorfrageweise prüfen. Da sowohl der Kläger als auch seine Arbeitskollegen als Zeugen riskierten, an einem Pleuramesotheliom zu versterben, liess das Gericht Zeugeneinvernahmen sowie die persönliche Befragung von Hans Moor zu. Das Beweisergebnis zeigte, dass die Arbeitnehmer über die Gefährlichkeit von Asbest ungenügend informiert waren. Hans Moor gab zu Protokoll, dass er die Arbeitsstelle gewechselt hätte, wenn er um die Gefährlichkeit von Asbest gewusst hätte. Moor erlebte das Urteil des Arbeitsgerichts Baden nicht mehr. Er starb am 10. November 2005 an den Folgen des Tumors. Der Prozess wurde von seinen Erben fortgesetzt.
Verantwortlichkeitsklage gegen die Suva
Sowohl das Arbeitsgericht Baden wie auch das Aargauer Obergericht wiesen die Klage ab. Begründung: Die geltend gemachten Ansprüche seien nach der Praxis des Bundesgerichts verjährt.
Die Erben von Hans Moor richteten parallel eine Verantwortlichkeitsklage gegen die Suva. Begründung: Sie habe als Verantwortliche für die Arbeitssicherheit in der Industrie im internationalen Vergleich zu spät über die tatsächlichen Gefahren von Asbest informiert. Dabei wurde die Informationspraxis der Suva zu anderen Schadstoffen herangezogen. Daraus geht hervor, dass sonst bereits dann gewarnt wird, wenn sich ein Verdacht auf Schädlichkeit ergibt. Die Suva ihrerseits erhob ebenfalls die Einrede der absoluten Verjährung, da die letzte Asbestexposition länger als zehn Jahre zurücklag.
Die Beschwerdeinstanz – das Versicherungsgericht des Kantons Aargau – schloss sich der Sichtweise der Suva an. Auch hier hatten die Beschwerdeführer vorgebracht, es sei sachlogisch nicht möglich, dass etwas verjähren könne, bevor es entstehe. Eine solche Sichtweise verletze den Grundsatz des fairen Verfahrens nach Artikel 6 EMRK.
Dem Bundesgericht bot sich somit in beiden Verfahren die Möglichkeit, über die Verjährungsfrage zu befinden und die bisherige Rechtsprechung vor dem Hintergrund von Artikel 6 EMRK zu überprüfen. Es fällte dazu zwei veröffentlichte Grundsatzentscheide – einen arbeitsrechtlichen mit BGE 137 III 16 und einen verantwortlichkeitsrechtlichen gegen die Suva mit BGE 136 II 187.
In beiden Fällen erachtete das Bundesgericht die geltend gemachten Ansprüche als verjährt und beliess den Verjährungsbeginn beim letzten Tag der Asbestexposition. Diese Betrachtungsweise sei der Rechtssicherheit geschuldet. Eine Verletzung der EMRK verneinte das Bundesgericht mit dem Argument, alle europäischen Rechtsordnungen würden das Prinzip der Verjährung kennen. Damit sei der Zugang zum Gericht immer begrenzt.
Im arbeitsrechtlichen Verfahren hielt das Bundesgericht fest, es bestehe kein Grund, auf die Rechtsprechung vor dem Uhrmacherinnenfall zurückzukommen. Es rechtfertige sich, bei der bisherigen Rechtsprechung zu bleiben und den Verjährungsbeginn sowohl bei deliktischen als auch vertraglichen Ansprüchen gleich anzusetzen, nämlich auf den Tag der letzten Asbestaussetzung.
Fazit: Das Bundesgericht nahm in Kauf, dass ein Schadenersatzanspruch unter allen Titeln verjähren kann, bevor der zugrundeliegende Schaden aufgetreten ist.
Eine Diskriminierung von Mesotheliom-Erkrankten
Die Klägerinnen gelangten mit beiden Fällen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Sie machten geltend, die Verjährungspraxis des Bundesgerichts verstosse gegen Artikel 6 EMRK. Sie wiesen darauf hin, dass sich der Sachverhalt von üblichen Verjährungsfällen unterscheide, da die Kläger objektiv gar keine Chance hatten, die Krankheit und damit den Schadenersatzanspruch zu erkennen, bevor die Verjährungsfalle zuschnappte. Sie hielten fest, dass die Praxis des Bundesgerichts zu einer Diskriminierung von Mesotheliom-Erkrankten führe: Allein weil ihre Krankheit die «Unart» habe, nach Ablauf der schweizerischen Verjährungsregelung auszubrechen, blieben sie mit ihren Schadenersatzansprüchen aussen vor (Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK).
Gesetzesrevision löst die Problematik nicht
Parallel zum laufenden Verfahren hat sich der schweizerische Gesetzgeber entschlossen, das Verjährungsrecht zu revidieren. Auslöser dazu waren zwei nationalrätliche Motionen, die sich spezifisch mit der Asbestproblematik beschäftigten. Die Botschaft zur Revision sieht vor, die absolute Verjährung für Körperschäden auf 30 Jahre zu verlängern. Sie soll aber nach wie vor ab Zeitpunkt der letzten Schädigung oder Unterlassung laufen. In der Vernehmlassung hatte sich der Verein für Asbestopfer gegen diesen Vorschlag gewehrt. Der Verein forderte, den Verjährungsbeginn erst auf den Eintritt des Schadens anzusetzen.
Der Strassburger Entscheid gibt der Sichtweise der Asbestopfer recht. Er erachtet es als entscheidend, ab wann die Verjährung läuft. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass es aus medizinischer Sicht Jahrzehnte dauern könne, bis es zum Krankheitsausbruch komme (Erwägung 74). Daher könnten Ansprüche nicht «a priori» verjährt sein. Im Entscheid wird auch die vorgesehene schweizerische Gesetzesrevision erwähnt und festgehalten, dass die Verlängerung der absoluten Verjährungsfrist keine befriedigende Lösung sei.
Der Schluss der Strassburger Richter: Dort, wo eine Krankheitsdiagnose aus «wissenschaftlicher Sicht» nicht vor Ablauf der absoluten Verjährungsfrist möglich sei, werde mit der Berufung auf den Ablauf eben dieser Verjährungfrist Artikel 6 EMRK verletzt. Damit verwehre man dem Kläger den effektiven Zugang zum Gericht von Anbeginn.
Zurzeit ist offen, ob die Schweiz das Verfahren an die Grosse Kammer weiterzieht. Falls nicht, wird das Bundesgericht seine Urteile revidieren müssen. Für Mesotheliom-Fälle lässt sich das Urteil nicht anders interpretieren, als dass der Verjährungsbeginn auf den Schadenseintritt fällt. Die Verjährungsfristen würden dann ab diesem Zeitpunkt berechnet und je nach der Anspruchsgrundlage bemessen – vertraglich, deliktisch und verantwortlichkeitsrechtlich.
Der Schweizer Gesetzgeber sollte das Strassburger Urteil in die erwähnte Revisionsvorlage einbeziehen. Eine EMRK-konforme Lösung kann einzig darin bestehen, dass der Beginn der Verjährung generell auf die erste Möglichkeit der Erkennbarkeit des Schadens gelegt wird, wie es in Frankreich bereits heute der Fall ist.
Das Strassburger Urteil überzeugt auch aus Gerechtigkeitserwägungen: Grundsätzlich muss in einer Rechtsordnung gelten, dass berechtige Ansprüche durchsetzbar sind. Die Verjährung als Ausnahmetatbestand soll nur dann greifen, wenn ein Gläubiger trotz Kenntnis seiner Forderung ein Nichtstun an den Tag legt, das beim Schuldner den Anschein erweckt, der Gläubiger wolle seine Forderung gar nicht mehr durchsetzen. Dazu ist notabene die aktuelle schweizerische Regelung im Deliktsrecht mit einem Jahr relativer Verjährung viel zu kurz bemessen. Wenn aber der Gläubiger seine Forderung gar nicht kennen kann, erscheint es stossend, sein Nichtgeltendmachen mit einem Nichtgeltendmachen trotz Wissen um die Forderung gleichzusetzen.
* Der Autor vertrat zusammen mit Rechtsanwalt Philip Stolkin die Klägerschaft im Verfahren in Strassburg
Verjährung bedeutet Schuldnerschutz
In seinen Asbest-Urteilen (siehe Haupttext) argumentierte das Bundesgericht auch damit, dass ein Beginn der Verjährung nach Schadenseintritt den Gläubigern Probleme bereiten könne. So würden sie wegen des grossen Zeitablaufs in beweisrechtliche Schwierigkeiten geraten. Ähnliche Hinweise finden sich auch in der Botschaft zur geplanten Revision des Verjährungsrechts. Diese Argumentation ist sachwidrig: Verjährung bedeutet Schuldnerschutz und nicht Gläubigerschutz.
Vertreter von Asbestopfern sind überzeugt davon, die Unterlassungen der Verantwortlichen auch heute noch beweisen zu können. Das zeigen Verfahrensausgänge im europäischen Ausland, aber insbesondere auch BGE 140 II 7. Bei diesem Urteil hat das Bundesgericht zur Frage nach Opferhilfeberechtigung bei einem Eternit-Mesotheliom auf fahrlässige Tötung erkannt.