Die Verhandlungssäle blieben leer, die Talare hingen in den Garderoben. In den Richterstuben aber wuchsen die Berge unbearbeiteter Akten höher und höher. Vier Monate lang – von Mitte September 2014 bis Januar 2015 – streikten in Serbien die Anwälte und legten damit die Justiz lahm.
Es war der längste Streik in der Geschichte der jungen Republik. Die Richter schlossen sich dem Arbeitskampf zwar nicht an, aber sie konnten ohne die insgesamt 8500 Anwälte des Landes keine Prozesse führen. Lediglich ein Notbetrieb wurde aufrechterhalten, damit Untersuchungshäftlinge nicht vorzeitig und ohne Verfahren entlassen werden mussten.
5000 Anwälte auf den Strassen Belgrads
Mehrere Male gingen die Anwälte auch auf die Strasse. Die grösste Demonstration mit etwa 5000 Beteiligten fand am 4. November 2014 in Belgrad statt. Die Stimmung war aufgeheizt, die Polizei hielt sich aber zurück.
Serbiens Regierungschef Aleksandar Vucic warf den Anwälten vor, sie liessen sich von einem schwerreichen Unternehmer instrumentalisieren und verhinderten mit dem Streik ein Korruptionsverfahren gegen ihn.
Tatsächlich stand hinter dem Streik jedoch nicht ein gerissener Oligarch, sondern die nackte Existenzangst der kleinen Anwälte. Vor allem Anwaltskanzleien in der Provinz konnten bisher nur überleben, weil in Serbien Dokumente für Unternehmensgründungen oder Immobilienkäufe von Anwälten aufgesetzt und vor Gericht beglaubigt werden mussten. Das wollte die neue Koalitionsregierung unter Premier Vucic ändern: Sie führte im Herbst 2014 ein Notariatssystem nach deutschem Vorbild ein. «Die kleinen Anwälte hätten damit eine wichtige Einnahmequelle verloren», sagt Srecko Vujakovic, Anwalt der internationalen Kanzlei Schönherr in Belgrad, der sich aus Solidarität dem Arbeitskampf anschloss.
Das Kräftemessen zwischen der Anwaltskammer und dem Justizminister endete mit einem Kompromiss. Die Kompetenzen der Notare wurden eingeschränkt, die Anwälte dürfen weiterhin Verträge erstellen. Auch wird das Notarsystem erst mit Verzögerung eingeführt: Von den geplanten 300 Notaren im ganzen Land waren im Februar erst 92 im Dienst.
Die Folgen des Streiks wird die serbische Justiz aber noch lange spüren. Allein in der Hauptstadt Belgrad mussten 27 000 Verfahren verschoben werden. Srecko Vujakovic schätzt, dass es «mehrere Monate, vielleicht Jahre dauern könnte, bis das System wieder funktioniert». Ein Anwaltskollege meint hingegen sarkastisch, dass serbische Gerichte so langsam arbeiteten, dass die zusätzliche Verzögerung nicht auffallen werde.
2,8 Millionen Verfahren sind hängig
Tatsächlich ist der Rückstau der Verfahren eines der grössten Probleme der serbischen Justiz. Der Statusbericht der Europäischen Union zu Serbien vom Oktober 2014 nennt diesen Rückstau «besonders besorgniserregend»: Ende 2013 waren an serbischen Gerichten 2,8 Millionen Verfahren hängig, 1,7 Millionen davon länger als zwei Jahre. Beim Verfassungsgerichtshof waren Ende 2013 noch 16 000 Verfahren offen. Ein Jahr zuvor waren es «erst» 12 000 gewesen. Die Zahl der pendenten Fälle könnte in Wirklichkeit noch viel grösser sein: Die EU-Berichterstatter kritisieren, dass die Statistiken an serbischen Gerichten unvollständig seien und keine ordentliche Analyse des Justizsystems zuliessen.
Dabei gibt die Republik Serbien Jahr für Jahr mehr für ihre Rechtspflege aus. 2014 waren es 280 Millionen Franken für Gerichte und Gefängnisse – 13 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Effizienter wurde das System dadurch nicht.
In einem Bericht vom Februar stellt die Mitarbeiterin des Balkan-Teams der Weltbank, Georgia Harley, fest, dass serbische Richter nur etwa halb so viele Fälle pro Jahr bearbeiten wie ihre Kollegen in EU-Staaten. Während in anderen europäischen Ländern die Gerichte nach mehr Personal riefen, habe Serbien das gegenteilige Problem, schreibt Harley: «Es gibt zu viele Richter.»
Seit 1. März 2012 ist Serbien mit seinen sieben Millionen Einwohnern Beitrittskandidat der Europäischen Union. Seit Januar 2014 laufen Beitrittsverhandlungen. Von den insgesamt 35 Verhandlungskapiteln gelten 3 als besonders schwierig: die Beziehungen zum Kosovo, das von Serbien noch immer als Provinz betrachtet wird, sowie jene zwei Kapitel, die sich mit der Reform der Justiz befassen.
Eingeleitet wurde der Reformprozess gleich nach Rücktritt des autokratisch regierenden Präsidenten Slobodan Milosevic im Oktober 2000. Serbiens Rechtswesen sei aber bis heute «eine grosse Baustelle» geblieben, stellt der Schweizer Botschafter Peter Burkhard fest, der in Belgrad die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) leitet.
Nur die Büroausrüstung ist besser geworden
Seit 2001 hilft die OSZE Serbien bei der Stärkung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtssystems und bei der Bekämpfung der Korruption. Fortschritte sieht der Rechtswissenschafter Marko Kmezic, der seine Dissertation über die «Europäi-sierung der Rechtssysteme der westlichen Balkanstaaten» schrieb, allerdings hauptsächlich im technischen Bereich: «Die Gerichte sind besser ausgerüstet. Sie haben mehr Computer und die Akten wurden digitalisiert. Nur die gesetzlichen Grundlagen haben sich leider nicht verbessert.»
In den vergangenen zehn Jahren hatte Serbien fünf Regierungen. Alle versprachen radikale Verbesserungen des Rechtssystems. Die tatsächlich beschlossenen Reformen entpuppten sich dann jedoch schnell als parteipolitisch motiviert. Für den Aufbau eines unabhängigen Rechtsapparats waren sie eher kontraproduktiv.
«Unsere Justiz war immer von der Politik abhängig»
Am härtesten traf es Richter und Staatsanwälte. Viele von ihnen waren noch im alten Jugoslawien oder unter Slobodan Milosevic ernannt worden. Juristische Unabhängigkeit kannten sie nicht. «Die Serben hatten zuerst ein Königreich, dann eine kommunistische Diktatur und dann Milosevic», sagt Rechtswissenschafter Kmezic: «Unsere Justiz war bei uns immer von den politischen Machthabern abhängig.»
Erste Reformen des Rechts- und Polizeiapparats wagte der liberale Ministerpräsident Zoran Djindjic. Er bezahlte dafür mit seinem Leben. 2003 wurde er vor seinem Belgrader Büro erschossen. Auf Empfehlung von EU und OSZE versuchten Djindjics Nachfolger, die Ausbildung der Richter durch die Schaffung einer Akademie zu verbessern und ihre Ernennung durch die Einführung des «Hohen Justizrates» zu objektivieren. Doch kann dieses Gremium neue Richter nur vorschlagen. Die Bestellung erfolgt durch das Parlament.
2009 versuchte eine Koalitionsregierung unter Mirko Cvetkovic, das Erbe der Ära Milosevic im Justizbereich endgültig loszuwerden. Der Hohe Justizrat entliess mit einem Schlag über 800 der insgesamt 3000 Richter. Damit war die Justiz kurzfristig gelähmt und die Entscheidung wurde drei Jahre später vom Verfassungsgericht aufgehoben. Alle gefeuerten Richter mussten wieder eingesetzt werden.
Das Selbstbewusstsein des gesamten Berufsstands habe dennoch sehr gelitten, sagt OSZE-Botschafter Peter Burkhard: «Die Furcht vor Veränderungen ist gross.» Die alten Richter und Gerichtspräsidenten seien in den starren Hierarchien Jugoslawiens gross geworden und würden sich als unfehlbare Hüter des Rechts verstehen.
Doch ihre Welt ging unter und eine neue ist erst langsam am Entstehen. Jene Generation von Richtern und Staatsanwälten, die in ihrer Ausbildung zum ersten Mal Begriffe wie Effizienz oder Rechenschaftspflicht kennenlernen, verlässt eben erst die Akademie.
Alle hüten sich vor einer Verfasssungsänderung
Die OSZE schlägt zur Stärkung der Unabhängigkeit vor, dass Richter nicht mehr vom Parlament, sondern vom Hohen Justizrat bestellt werden. Der Rat wiederum soll allein von den Richtern gewählt werden – eine Erneuerung der Justiz aus sich selbst heraus. «Zurzeit ist die Abhängigkeit der Justiz von der Politik in der Verfassung festgeschrieben. Ohne eine Verfassungsänderung wird die Justizreform deshalb immer zahnlos bleiben», sagt Burkhard: Daran wagt sich jedoch keine Partei, weil mit einer Verfassungsänderung auch das Verhältnis Serbiens zum Kosovo neu definiert werden müsste.
So bastelt jede Regierung Serbiens an ihrer eigenen Justizreform. Eine neue Strafprozessordnung wird eingeführt und gleich wieder verändert. Gerichtsbezirke werden verkleinert und wieder vergrössert. Gerichtspräsidenten werden ausgetauscht und Richter versetzt. Und dann kommt eine neue Partei an die Macht und alles beginnt von vorne. Was bleibt, ist eine tiefe Verunsicherung des juridischen Apparats.
Auch das Gesetz, das Serbiens Anwälte vier Monate lang streiken liess, ist Beispiel einer gut gemeinten, aber gründlich misslungenen Reform. Eine Entlastung durch Notare hätten die serbischen Gerichte ja durchaus brauchen können, um sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen und den Rückstau an Verfahren schneller abzubauen. Doch statt die Betroffenen einzubeziehen, ignorierte die Regierung alle Bedenken und liess das Gesetz im Schnellverfahren beschliessen – ohne Vernehmlassung und ohne parlamentarische Debatte. Prompt tauchte in serbischen Medien der Verdacht auf, die Regierung wolle gar keine Reform – sondern ihre Günstlinge mit Jobs versorgen. In einem Artikel in der Tageszeitung «Danas» warnte der Anwalt Vladimir Gajic, dass der Kompromiss in Wahrheit eine Niederlage der Anwälte sei: Schon bald werde die Regierung Rache an ihnen nehmen.
Allerdings stieg durch den Arbeitskampf auch das Selbstbewusstsein der Advokaten. Vor allem jenes der Anwälte in den grossen Kanzleien der Hauptstadt. Sie sind gut ausgebildet, sprechen Fremdsprachen und sind in Kontakt mit Kollegen im Ausland, die ihnen ein hohes Arbeitsethos attestieren. Investoren könnten sich mittlerweile auf Rechtssicherheit in Serbien verlassen, sagt der österreichische Anwalt Markus Piuk, der vor zwölf Jahren für Schönherr die erste internationale Kanzlei in Belgrad aufbaute. Dennoch gebe es weiterhin das Problem, «dass Behörden nicht immer unbeeinflusst entscheiden».
Korruptionsverfahren werden verschleppt
Serbien hat zwar eine Korruptionsstaatsanwaltschaft eingeführt und ein Belgrader Gericht eigens für Korruptionsverfahren ausgerüstet, doch diese Verfahren werden immer wieder verschleppt oder von der Politik gebremst. In den vergangenen Jahren seien insgesamt 15 Minister des Betrugs und der Unterschlagung beschuldigt worden, sagt Rechtswissenschafter Marko Kmezic: «Niemand wurde angeklagt oder verurteilt.» Seit gut zwei Jahren läuft ein Verfahren gegen Serbiens prominentesten Oligarchen Miroslav Miskovic. Ein Ende ist nicht in Sicht, nachdem mit zweifelhaften Methoden zwei Verfahren zusammengelegt und die Richter ausgetauscht wurden. Mittlerweile ist der Angeklagte nicht mehr in Untersuchungshaft.
Staatsanwalt in den Senkel gestellt
Noch zäher laufen Ermittlungen und Verfahren gegen mutmassliche Kriegsverbrecher auf der Seite der serbischen Armee und Polizei im Kosovokrieg 1999. Der zuständige Staatsanwalt Vladimir Vukcevic ist zwar um Aufklärung bemüht, doch er scheitert an der mangelnden Kooperation der Polizeiermittler und dem schlechten Zeugenschutzprogramm.
Auch die Politik mischt sich immer wieder ein. Nachdem im Februar eine Belgrader Nichtregierungsorganisation den Chef des Generalstabs, Ljubisa Dikovic, beschuldigt hatte, an Kriegsverbrechen im Kosovo beteiligt gewesen zu sein, wollte der Staatsanwalt Ermittlungen einleiten. Als Antwort verlieh Staatspräsident Tomislav Nikolic dem umstrittenen General einen hohen Orden und teilte Staatsanwalt Vukcevic in einem Zeitungsinterview mit, er solle «darüber nachdenken, was er in Serbien ausgräbt». Botschafter Burkhard hält solche Aussagen für «sehr problematisch».
Spätestens im Jahr 2020 will Serbien der EU beitreten. Kann in den verbleibenden fünf Jahren die Justiz auf europäischen Standard gebracht werden? Die Experten von OSZE, Europäischer Union und Weltbank haben Hunderte Seiten mit Analysen und Empfehlungen, mit Infografiken und Powerpoint-Präsentationen verfasst. Sie alle scheinen jedoch an der serbischen Wirklichkeit abzuprallen.
Rechtswissenschafter Kmezic macht dafür auch die Institutionen selbst verantwortlich. Vor allem die EU. Deren jährliche Statusberichte seien von Brüsseler Technokraten verfasst: «Sie sind schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen.» Auch erkläre die EU nicht, welche Reformen sie wirklich wolle. Und sie mache den Fehler, nur mit der Regierung zu verhandeln: «Bei den Reformen müssten auch die Organisationen der Zivilgesellschaft einbezogen werden. Sie sollten Reformen vorantreiben und ihre Umsetzung überwachen.»
Rechtsanwalt Srecko Vujakovic glaubt hingegen, dass jede weitere grosse Reform das System überfordern würde. Die nächsten fünf Jahre brauche die Justiz vor allem Ruhe und Berechenbarkeit, damit sie ihre Effizienz steigern könne. Werde sich die Politik aber für eine weitere Reform entscheiden, fürchtet der Anwalt, «dass wir wieder bei null anfangen müssen».