Der Artikel präsentiert ausgewählte Ergebnisse einer Befragung von Schweizer Richterinnen und Richtern, die im Rahmen des Nationalfondsprojekts «Strafverfahren im Wandel», das von Prof. Dr. iur. Nadja Capus (Universität Basel) geleitet wird, durchgeführt worden ist (1). Die Studie zeigt, dass sich die formale Gestaltung von Einvernahmeprotokollen darauf auswirken kann, wie Richterinnen und Richter die Protokollierung, die befragte und die befragende Person einschätzen. In diesem Artikel wird insbesondere beschrieben, welchen Eindruck ein Richter von jener Person erhält, die die Befragung durchgeführt hat.
1. Stellenwert der Protokolle
Das Lesen von Einvernahmeprotokollen ist für den Zivil- und den Strafrichter ein alltäglicher Vorgang. Richterinnen dienen solche Protokolle dazu, die Aussagen von zuvor befragten Personen zur Kenntnis zu nehmen. In Strafverfahren sind diese protokollierten Aussagen, die im Vorverfahren entstanden sind, von besonderer Bedeutung. Einvernahmeprotokolle sind, so findet das Bundesgericht, die «Grundlage für die Wahrheitssuche» (2). Auf jeden Fall nehmen Protokolle eine wichtige Scharnierfunktion ein zwischen der Ermittlungstätigkeit einerseits und der Beweissicherung andererseits (3), zwischen der Sachverhaltserstellung und der juristischen Interpretation. Bei diesem «Hin-und-her-Wandern des Blicks zwischen Sachverhalt und Rechtssatz» wird der Blick häufig auf dem Einvernahmeprotokoll ruhen bleiben, denn die richterliche Leistung setzt bei der rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes als Aussage ein (4).
Aussagen sind – vorausgesetzt, sie sind protokollarisch festgehalten – Beweismittel. Es ist das Protokoll, das die Aussage ins Strafverfahren trägt und zum Beweismittel erhebt (5). Den unmittelbaren Eindruck erhalten die Richter von Zeugen nur in jenen Fällen, in denen sie sich dafür entscheiden, in der Hauptverhandlung nochmals eine Zeugenbefragung selber durchzuführen, oder in den Fällen, in denen sie dazu verpflichtet sind, weil es sich um einen neuen Personenbeweis oder um einen zuvor nur unvollständig oder nicht ordnungsgemäss erhobenen Beweis handelt (6). Aber auch dieser Vorgang ist dann erstens beeinflusst davon, dass die Richterin die Protokolle der vorangegangenen Befragungen gelesen hat; zweitens wird die richterliche Befragung wiederum protokolliert – und eventuell zusätzlich auf Tonband aufgezeichnet (7).
Schriftprotokolle erschaffen jedoch im Vergleich zur Ton- oder Bildaufnahme nicht nur ein zeitlich und räumlich unabhängiges, von einer Verfahrensstufe zur nächsten zirkulationsfähiges Aggregat mündlicher Äusserung (8). Denn bei der Anfertigung dieser Schriftprotokolle kann die Einvernahmeleitung die Protokollierungsweise auf bestimmte Darstellungsziele ausrichten (9).
Damit liegt es in der Hand der protokollführenden Person – selbständig oder auf Anweisung der Einvernahmeleitung hin –, die Art und Weise der Übermittlung der Aussagen zu prägen: Sie kann Aussageelemente weglassen, verändern oder ergänzen. Das Gesetz lässt ihr einen grossen Spielraum (10).
Auch kann sie die häufig eher ungeschliffene mündliche Aussage möglichst wörtlich übernehmen oder umgekehrt die befragte Person «wie gedruckt» sprechen lassen. Eine massgebliche Entscheidungsfreiheit betrifft zudem die Darstellung der Interaktion: Das Interaktionsgeschehen in der Einvernahme kann mehr oder weniger transparent gemacht werden. Indem einzelne Fragen oder gar sämtliche Redebeiträge der Einvernahmeleitung weggelassen werden, kann der Aussagestil der befragten Person unterschiedlich dargestellt werden.
In Anlehnung an die aussagepsychologische Theorie, dass anhand des freien Berichts besser Inhaltsanalysen durchgeführt werden können, die die Überprüfung des Wahrheitsgehalts zulassen,(11) können Einvernehmende beziehungsweise ihre Protokollführer versucht sein, den Wert der Aussage zu steigern, indem sie Fragen oder Nachfragen nicht protokollieren und die Aussage der befragten Person so als freie Rede präsentieren. Das suggeriert, dass die befragte Person die Möglichkeit hatte, das für sie Relevante ungehindert und zwanglos vorzubringen (12). Die Befragung wird so im Protokoll neu inszeniert.
In eine andere Richtung verändert sich die protokollarische Wirklichkeit, wenn die Befragungstätigkeit im Protokoll erscheint und die Fragen und Vorhalte konfrontativ sind. In der Literatur wird vermutet, dass damit Zweifel des Befragenden signalisiert werden und der Leser des Protokolls dazu angeleitet werden soll, an den so markierten Stellen die Antworten der befragten Person aufmerksam und skeptisch zu würdigen. Besonders stark sei dieser Effekt, wenn Einzelaussagen durch den Befrager herausgetrennt und reformuliert werden und die befragte Person aufgefordert wird, die Version als falsch zurückzuweisen oder als eigene Aussage zu akzeptieren (13): «Sie sagen also, dass Sie kein Rotlicht gesehen haben. Stattdessen wollen Sie es grün leuchten gesehen haben. Ist das richtig so?»
Die Einschätzungen zur Einvernahme sind demnach davon beeinflusst, wie das Gespräch gestaltet und in die Schriftform überführt worden ist. An diesem Punkt setzt unsere Forschung an, die vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert worden ist. Es handelt sich dabei um ein neues Forschungsfeld. Zur Protokollierung in Strafverfahren gibt es erst wenige empirische Studien (keine davon betrifft die Protokollpraxis in der Schweiz) (14). Unsere umfassende Recherche ergab konkret, dass es zwei Studien zu den Rezeptionswirkungen von Protokollmerkmalen und -stilen gibt.15 Zwei Fallstudien bringen zudem Fehlurteile mit der Protokollierungsweise in Verbindung (16).
Es ist deshalb noch nicht geklärt, ob die Art und Weise, wie protokolliert wird, überhaupt eine Rolle spielt – einmal abgesehen von gravierenden Falschprotokollierungen, die Aussagen gar nicht oder fehlerhaft wiedergeben. Mit anderen Worten: Ziel war es zu eruieren, ob der Wandlungsprozess vom Gesprochenen zum Protokollierten selbst dann die richterliche Interpretation der protokollierten Aussagen beeinflusst, wenn der Informationsgehalt bezüglich des Sachverhalts unverändert ist und sich ein Einvernahmeprotokoll nur bezüglich seiner formalen Merkmale unterscheidet.
Ein solches formales Merkmal ist beispielsweise die Formalisierung der Sprache: Wird die richterliche Rezeption eines Einvernahmeprotokolls bereits beeinflusst, wenn sich bloss die sprachlichen Formulierungen ändern? Ein anderes formales Merkmal betrifft die Randbemerkungen: Hat es einen Effekt auf die Wahrnehmung der Richter, wenn ein Protokoll handschriftliche Korrekturen der befragten Person enthält?
2. Gestaltung der Umfrage
Die für die strafrechtliche Beurteilung relevanten Einschätzungen, die in unsere Studie zur Rezeptionswirkung von Protokollen einfliessen, lassen sich in drei Gruppen gliedern: erstens in Einschätzungen zur befragten Person (konkret: die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen, die Glaubwürdigkeit der Person, ihre Kooperationsbereitschaft und die Schuld), zweitens Einschätzungen zur befragenden Person (respektvoller Umgang, Objektivität sowie Kompetenz) und drittens die Einschätzungen der Protokollierung (Vollständigkeit, Authentizität, Lesbarkeit). Um die Wirkung von Protokollen auf diese Einschätzungen untersuchen zu können, wurde nach einer umfangreichen Vorstudie mit 656 Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften an den Universitäten Basel und Zürich eine schriftliche Befragung mit Richterinnen und Richtern durchgeführt. Verschickt worden sind eine kurze Einleitung in einen Fall, in dem eine Frau (Sandra Bernasconi genannt) (17) ihren Mann (Giovanni Bernasconi) wegen Handgreiflichkeiten (Körperverletzung oder Tätlichkeit) anzeigte, ein Einvernahmeprotokoll des befragenden Polizisten Meier sowie ein Fragebogen. Der Fragebogen enthielt strafrechtlich relevante Einschätzungsfragen und zusätzliche Fragen zur Nützlichkeit und Verwendung von schriftlichen Protokollen sowie zu Verfahrensentscheiden.
Basierend auf dem Aktenkorpus des Nationalfondsprojekts «Strafverfahren im Wandel» wurde ein Protokoll aus einem Deutschschweizer Kanton ausgewählt. Eine anonymisierte Version dieses Protokolls bildete das Ausgangsprotokoll der Untersuchung. Es wurde hinsichtlich jeweils eines formalen Protokollmerkmals verändert, sodass vier Varianten des Ausgangsprotokolls entstanden. Die Veränderungen sind geringfügig und mit Bedacht so vorgenommen, dass die resultierenden Protokolle in der gewählten Form in der Strafrechtspraxis vorkommen könnten.
- Konfrontativ: In der ersten Protokollvariante wurde der Befragungsstil, der im ursprünglichen Protokoll überwiegend offen war, in eine eher zwangskommunikative, also konfrontative Richtung geändert, wie die oben dargestellte Variante 1 veranschaulicht.
- Monologisiert: In der zweiten Variante des Ausgangsprotokolls wurde die Darstellung der Interaktion verändert. Die protokollierten Redebeiträge des Polizisten wurden im Protokoll gelöscht und als indirekte Rede des Beschuldigten eingefügt (vgl. Variante 2 oben). So wurde das Ausgangsprotokoll im Frage-Antwort-Stil zum monologisierten Protokoll, das die Fragen als freie Rede des Befragten wiedergibt. Dieser Protokollstil war beispielsweise in Einvernahmen durch Waadtländer Untersuchungsrichter zumindest noch vor Einführung der schweizerischen Strafprozessordnung üblich.
- Formalisiert: Die nächste Protokollvariante wurde sprachlich verändert. Die Aussagen im Ausgangsprotokoll, die informelle, in der gesprochenen Sprache übliche Ausdrucksweisen und zahlreiche Tipp- und Rechtschreibefehler enthielten, wurden in eine formalere Sprache umgeschrieben (vgl. Variante 3 unten).
- Handschriftlich ergänzt: In der letzten Protokollvariante wurden vier Randbemerkungen, zwei inhaltliche Präzisierungen sowie zwei Korrekturen von Tippfehlern, handschriftlich eingefügt, wie die Darstellung (Variante 4) zeigt.
Die schriftliche Befragung der Richterinnen wurde Ende 2013 durchgeführt. Angeschrieben worden sind zum einen alle, die an Schweizer Strafgerichten tätig sind oder von denen man aufgrund der Organisation des Gerichts annehmen kann, dass sie Strafsachen behandeln (inklusive Ersatz- und Fachrichter). Zum andern wurden Richterinnen und Richter dann in die Befragung eingeschlossen, wenn sie zwar an Verwaltungs-, Zivil- oder Spezialgerichten arbeiten, aber Juristen sind.
Insgesamt wurden 2691 Richter angeschrieben, denen vor dem Versand zufällig eine der vier Protokollvarianten respektive das Ausgangsprotokoll zugeteilt worden war. An der Befragung haben 645 Richterinnen und Richter aus allen Kantonen teilgenommen (Rücklauf 24 Prozent), mehrheitlich jedoch aus der Deutschschweiz (18). Die Befragten können wie folgt beschrieben werden:
- Tätigkeitsgebiet: 539 Befragte (85 Prozent) arbeiten gegenwärtig als Richterin oder Richter im Bereich Strafrecht oder richteten in einer früheren Anstellung an einem Strafgericht.
- Erfahrung: Im Durchschnitt arbeiten die befragten Personen seit zehn Jahren als Richterin oder Richter, allerdings erstreckt sich der Erfahrungsbereich von wenigen Monaten bis hin zu 39 Jahren.
- Instanz: 78 Prozent arbeiten an einem erstinstanzlichen, 22 Prozent an einem zweitinstanzlichen Gericht.
- Bildung: Zwei Drittel haben einen Hochschulabschluss (inklusive Doktorat oder Habilitation), je rund 10 Prozent eine berufliche Grundbildung oder eine höhere Berufsbildung.
- Geschlecht: 60 Prozent der Befragten sind Richter, 40 Prozent Richterinnen.
- Alter: Die Befragten sind zwischen 28 und 77 Jahre alt (Mittelwert: 52 Jahre).
3. Ergebnisse der Umfrage
Um Effekte von formalen Protokollmerkmalen auf die Einschätzungen der Leserschaft untersuchen zu können, haben wir Richterinnen und Richtern jeweils eine der erwähnten Varianten des Einvernahmeprotokolls oder das Ausgangsprotokoll vorgelegt (19). Für die Analyse werden die Einschätzungen der Protokollvarianten mit den Einschätzungen zum Ausgangsprotokoll verglichen. Da sich die beiden Protokolle bloss hinsichtlich eines formalen Merkmals unterscheiden und der Informationsgehalt des Protokolls selbst weitgehend unverändert geblieben ist, können Unterschiede in den Einschätzungen auf die Veränderung dieses einen Merkmals zurückgeführt werden.
Die Ergebnisse der Befragung, von denen hier Auszüge vorgestellt werden, zeigen, dass tatsächlich alle vier geprüften formalen Merkmale die Interpretation des protokollierten Inhalts beeinflussen können. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Einschätzungen zur befragenden Person veranschaulicht. Grundlage sind die Antworten aller Richterinnen und Richter mit Erfahrung mit Straffällen (539 Personen, nachfolgend auch Strafrichter genannt); bei abweichenden Ergebnissen wird auch auf die Antworten der Richterinnen und Richter ohne Erfahrung mit Straffällen (92 Personen, nachfolgend auch Nicht-Strafrichter genannt) verwiesen.
Am deutlichsten werden die Einschätzungen zur befragenden Person vom protokollierten Befragungsstil beeinflusst. Strafrichter, die das Protokoll mit dem konfrontativen Befragungsstil erhalten haben, stufen die Befragung tendenziell als weniger fair, umfassend und kompetent durchgeführt ein als Strafrichter, die das Ausgangsprotokoll mit dem offeneren Befragungsstil erhalten haben. Diese Tendenz zeigt sich bei allen Fragen zur Einschätzung der befragenden Person: «Das Verhalten des Polizisten gegenüber Giovanni Bernasconi ist respektvoll»; «Polizist Meier hat Giovanni Bernasconi auf eine faire Art und Weise befragt»; «Polizist Meier ist Giovanni Bernasconi gegenüber unvoreingenommen»; «Polizist Meier hat Giovanni Bernasconi umfassend zum Sachverhalt befragt»; «Polizist Meier hat Giovanni Bernasconi kompetent einvernommen»; «Giovanni Bernasconi hatte genügend Raum, um in der Einvernahme seine Sicht des Sachverhalts darzulegen».
Das heisst konkret, dass Strafrichter bei fünf von sechs Fragen zum Polizisten überwiegend die Kategorien «trifft überhaupt nicht zu», «trifft nicht zu» und «trifft eher nicht zu» vergeben haben, wie die obenstehende Grafik veranschaulicht (20). Strafrichter des Ausgangsprotokolls haben dagegen die gleichen Fragen überwiegend mit «trifft eher zu», «trifft zu» und «trifft voll und ganz zu» beantwortet. Die durchschnittlichen Abweichungen der Einschätzungen in diesen beiden Gruppen liegen zwischen 0,53 und 1,97 von 6 Skalenpunkten und sind statistisch hochsignifikant (21). Die Effekte werden in den Analysen zu den Richtern ohne Erfahrung mit Straffällen bestätigt.
Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse lassen die gemessenen Effekte des Befragungsstils die Folgerung zu, dass in Protokollen mit einem offenen Befragungsstil die befragende Person als deutlich respektvoller, objektiver sowie kompetenter eingeschätzt wird als in Protokollen mit einem konfrontativen Befragungsstil. Dies trifft – wenn auch in weniger deutlichem Ausmass – ebenfalls auf die Einschätzung der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu, das heisst darauf, wie viel Raum dem Befragten zur Schilderung des Sachverhalts gegeben wurde.
Die anderen drei formalen Merkmale «Darstellung der Interaktion», «Formalisierung der Sprache» sowie «Randbemerkungen» haben kaum einen Effekt auf Strafrichter. Bei Richtern ohne Erfahrung mit Straffällen hingegen zeigen sich Effekte. Dieses Resultat verdeutlicht die Relevanz der Erfahrungen der Leserinnen und Lesern. Richter, die Erfahrung mit Straffällen haben (und vielleicht selber in ihrer Laufbahn schon Protokollführer waren) (22), wissen um die schwierige Aufgabe von Befragung und gleichzeitiger Verschriftlichung. Das Wissen um die Entstehungsbedingungen von Protokollen scheint deren Interpretation zu beeinflussen. Das Gleiche gilt für Randbemerkungen. Ob handschriftliche Präzisierungen oder Korrekturen vorhanden sind oder nicht, hat wenig Einfluss auf ihre Einschätzungen zur befragenden Person.
Richter ohne Erfahrung mit Straffällen reagieren hingegen interessanterweise sensibler auf die häufig eher ungeschliffenen, der mündlichen Sprache ähnlichen Aussagen in Protokollen. Nicht-Strafrichterinnen, die das Ausgangsprotokoll erhalten haben, haben die befragende Person als weniger objektiv oder respektvoll eingeschätzt als Strafrichter mit dem gleichen Protokoll. In der Folge hatte die Protokollvariante «formalisierte Sprache» innerhalb der Nicht-Strafrichtergruppe statistisch signifikante Effekte auf vier Einschätzungen zur befragenden Person.
Nicht-Strafrichter schätzen den Polizisten als respektvoller, fairer und kompetenter ein, wenn sie das Protokoll lesen, das sprachlich formalisiert und in korrekter Schriftsprache sowie mit juristischem Fachjargon geschrieben worden ist. Sie hatten ausserdem den Eindruck, dass der Befragte in der Einvernahme mehr Raum für die eigene Darstellung des Sachverhalts hatte (Rechtliches Gehör).
Auch Randbemerkungen wirken sich je nach Erfahrungshintergrund unterschiedlich auf die Leserschaft aus. Während die Einschätzungen zur befragenden Person von Strafrichtern identisch ausfallen, unabhängig davon, ob Randbemerkungen vorhanden sind oder nicht, scheinen Nicht-Strafrichter handschriftliche Präzisierungen und Korrekturen vom Befragten als Hinweis für eine faire Einvernahmesituation zu interpretieren. Sie schätzen den Befrager als respektvoller, objektiver und kompetenter ein im Vergleich zu Richtern, die das Protokoll ohne Randbemerkungen erhielten.
4. Diskussion
Das Resultat ist eindeutig: Die formalen Merkmale eines Einvernahmeprotokolls wirken sich selbst bei unverändertem Informationsgehalt auf die Einschätzungen der Leserschaft aus. Wer sich im Protokoll als konfrontativer Befrager darstellt, muss damit rechnen, dass der Leser an seiner Kompetenz oder Objektivität zweifelt. Umgekehrt wird die Befragerin die Wahrnehmung ihrer Kompetenz und ihres respektvollen Umgangs deutlich verbessern können, wenn sie Einwände des Beschuldigten zum Protokoll handschriftlich einfügen lässt.23 Es spielt also eine Rolle, wie das Protokoll formal gestaltet ist. Es spielt aber auch eine Rolle, wer das Protokoll liest, die Effekte der formalen Merkmale unterscheiden sich je nach dem Erfahrungshintergrund des Lesers.
Ausserdem weisen weitere Ergebnisse der Studie darauf hin, dass sich die formale Gestaltung indirekt darauf auswirken kann, wie das Verfahren durchgeführt wird: Richter, die das Protokoll mit dem offenen Befragungsstil gelesen haben, verzichten eher auf die Einladung von Zeugen als Richter, die die Protokollvariante mit dem konfrontativen Befragungsstil erhalten haben. Die Befragung wurde mit Richterinnen und Richtern durchgeführt. Da nicht nur sie Einvernahmeprotokolle lesen, sind die Resultate der Studie durchaus auch für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gültig – und deren Umgang mit Einvernahmeprotokollen ist angesichts der Bedeutung von Strafbefehlsverfahren selbstverständlich ebenso wichtig.
Nadja Capus
SNF-Förderprofessorin für Strafrecht und Kriminologie, Basel
Franziska Hohl Zürcher
Wissenschaftliche Assistentin, Basel
(1) Wir danken den Projektmitarbeiterinnen Mirjam Stoll und Ph.D. Manuela Vieth für ihr Mitwirken, Mirjam Suri, Jonathan Marston sowie Verena Stoll für ihre Unterstützung beim Versand und Dr. Patrick Ebnöther und Dino Morelli für den technischen Support bei der Datenerfassung.
(2) Urteil des Bundesgerichts 1P.399/2005 vom 8.5.2006, E. 3.1.
(3) Das gilt vorab für polizeiliche und teilweise für staatsanwaltschaftliche Befragungen und ihre Protokollierung: Es gilt Unbekanntes aufzudecken, Informationen zu sammeln und das Erhobene als verwertbaren Beweis zu sichern. Vgl. dazu Kate Haworth, «Police interviews in the judicial process. Police interviews as evidence», in: Malcolm Coulthard, Alison Johnson (Hrsg.), The Routledge handbook of forensic linguistics, London/New York 2010, S. 169–181, S. 169.
(4) Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, Berlin 1991, S. 281; sein Zitat bezieht sich auf Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Auflage, Heidelberg 1963, S. 15.
(5) Es ist daher von entscheidender Bedeutung, wie die Protokollierungspflicht gesetzlich ausgestattet ist und mit welcher Strenge die Gerichte diese durchsetzen. Die Strafprozessrechtsdogmatik hat bisher noch keine scharfkantigen Bedingungen zu formulieren vermocht. Vgl. dazu Gunhild Godenzi, in: Donatsch/
Hansjakob/Lieber, StPO Kommentar, 2. Auflage, Zürich 2014, Art. 142 N1 ff. und Nadja Capus, «Ich ermödere Dich. Es gibt keine Gesetze für Vito. Vitogesetze» – Theorie und Empirie zur Herstellung von Schriftprotokollen in Strafverfahren, Justice–Justiz–Giustizia 2014/3, Rz 4.
(6) Art. 343 StPO.
(7) Art. 78 Abs. 5bis StPO. Vgl. zur Implikation dieser Minirevision: Nadja Capus, Mirjam Stoll, «Lesen und Unterzeichnen von Einvernahmeprotokollen im Vor- und im Hauptverfahren. Anmerkungen zur Revision der Schweizerischen Strafprozessordnung aus Sicht der rechtswissenschaftlichen und kriminologischen Protokollforschung», Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 131 (2), S. 195–217.
(8) Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht (2000), S. 98.
(9) René Lévy, «Scripta manent: la rédaction des procès-verbaux de police», Sociologie du travail (4) 1985, S. 408–423.
(10) Art. 76–79 StPO.
(11) Revital Ludewig, Daphne Tavor, Sonja Baumer, «Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?», AJP 2011/11, S. 1415–1435, 1426; Max Steller, Renate Volbert, «Glaubwürdigkeitsbegutachtung», in: Max Steller /Renate Volbert (Hrsg.). Psychologie im Strafverfahren, Bern 1997,
S. 12–39.
(12) Thomas Scheffer, «Übergänge von Wort und Schrift: Zur Genese und Gestaltung von Anhörungsprotokollen im Asylverfahren», Zeitschrift für Rechtssoziologie 20 (2) 1998, S. 230–265, 257 f.
(13) Scheffer (a.a.O.), 259 f.
(14) Nadja Capus, Mirjam Stoll, Manuela Vieth, «Protokolle von Vernehmungen im Vergleich und Rezeptionswirkungen in Strafverfahren», Zeitschrift für Rechtssoziologie 34 (2014), S. 195–222 (im Erscheinen).
(15) Anne Graffam Walker, «Context, transcripts and appellate readers», Justice Quarterly 3 (4) 1986, S. 409–427; Dies., «Language at Work in the Law: The Customs, Conventions, and Appellate Consequences of Court Reporting», in: J.N. Levi/A. G. Walker (Hrsg.), Language in the Judicial Process, New York 1990, S. 203–244; Jan de Keijser, Marijke Malsch, Robin Kranendonk, Madeleine de Gruijter, «Written records of police interrogation: Differential registration as determinant of statement credibility and interrogation quality», Psychology, Crime & Law 18 (7) 2012, S. 613–629.
(16) Evelyne Serverin, Sylvie Bruxelles, «Enregistrements, procès-verbaux, transcriptions devant la Commission d’enquête: le traitement de l’oral en questions», Droit et cultures 55/2008, S. 149–180.
(17) Alle Namen sind erfunden.
(18) Da die Sprache, d.h. Veränderungen von sprachlichen Formulierungen, Teil der Studie war, war es aus methodischen Gründen problematisch, das Protokoll in eine andere Sprache zu übersetzen. Deshalb wurde auch den Richterinnen und Richtern der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zwar ein französisches Anschreiben geschickt, aber das sonstige Befragungsmaterial war in Deutsch verfasst. Dies hat zu einer geringen Teilnahmequote von Richtern aus der Romandie und dem Tessin geführt.
(19) Im Gegensatz zum beruflichen Alltag der Richterinnen und Richter ging es bei der Befragung nicht darum, die materielle Wahrheit zu ergründen oder endgültige Entscheide über Schuld oder Unschuld zu treffen. In der Strafrechtspraxis wird dies selbstverständlich nicht ausschliesslich aufgrund eines Einvernahmeprotokolls gemacht. Um Erkenntnisse über die Wirkung formaler Merkmale auf die Interpretation des Inhalts zu gewinnen, reichen jedoch bereits die Einschätzungen zu einem Protokoll aus.
(20) Sämtliche Einschätzungen zur befragenden Person, zur befragten Person sowie zur Protokollierung wurden mit einer Skala, die sechs Kategorien enthält, erfragt: trifft überhaupt nicht zu, trifft nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft eher zu, trifft zu, trifft voll und ganz zu. Ausserdem bestand die Möglichkeit, «Weiss nicht» anzukreuzen.
(21) Alle in diesem Artikel beschriebenen Effekte sind statistisch signifikant. Das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass das beschriebene Ergebnis ein zufälliges ist, ist höchstens 5 %. Die Signifikanzen werden wie folgt abgestuft: Hochsignifikant (Wahrscheinlichkeit für ein zufälliges Ergebnis ist ≤ 1 ‰), sehr signifikant (Wahrscheinlichkeit für ein zufälliges Ergebnis ist ≤ 1 %); signifikant (Wahrscheinlichkeit für ein zufälliges Ergebnis ist ≤ 5 %). Als statistisches Verfahren wurde der t-Test gewählt, der Mittelwertsunterschiede zwischen zwei Gruppen prüft.
(22) Von 539 Strafrichtern haben 326 (61 %) eine juristische Ausbildung.
(23) Ob sich diese Randbemerkungen auch positiv auf die richterliche Einschätzung der beschuldigten Person auswirken, ist eine ganz andere Frage. Darüber berichten wir in einem anderen Artikel.