Medial scheint sich in jüngerer Zeit ein Konsens zu entwickeln, dass in der Schweiz erstens die Kriminalität steigt, zweitens dies vor allem die Gewaltdelikte betrifft und drittens mit dem revidierten Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches (AT StGB) in Zusammenhang steht. Ausgangspunkt dieser Aussagen bilden die Äusserungen des Kriminologen Martin Killias anlässlich der Präsentation seiner jüngsten Studie, aber auch in der «Weltwoche», im «Tages-Anzeiger» oder jüngst in der «NZZ». Killias bezieht sich dabei auf seine Opferbefragung.
Er verweist dabei gerne auf eine Studie der - so merkwürdig es klingt - Suva zur Gewalt unter jungen Menschen. Offen bleibt dabei, inwiefern die Unfallversicherung dafür zuständig sein könnte.
Vermischung von Kategorien und Definitionen
Doch stimmt es wirklich, dass insbesondere die Gewaltdelikte zunehmen? Nun, das ist wohl in dieser Klarheit schlicht nicht zu sagen. Zwar ist richtig, dass gemäss der Anzahl Strafurteile «die Kriminalität» zunimmt. Diese Zunahme ist aber primär auf das Strassenverkehrsgesetz zurückzuführen.
Tatsache ist auch, dass die Zahl der StGB-Urteile (also der Teil der Kriminalität, der vorwiegend für Ängste sorgt) pro 100 000 Einwohner seit Jahrzehnten stabil ist beziehungsweise eher abnimmt. Es lässt sich einwenden, man dürfe sich nicht auf die Strafurteile stützen, weil deren Anzahl durch spezifische Selektionskriterien beeinflusst werde.
Ein Delikt ist aber in aller Regel kein Delikt, solange ein Gericht dies nicht festgestellt hat. Die besagte Opferbefragung etwa definiert Sexualdelikte - anders als das Gesetz - zum Beispiel wie folgt: «Es gibt Leute, die aus sexuellen Gründen manchmal andere Menschen in einer anstössigen oder belästigenden Art anfassen, berühren oder sogar tätlich angreifen.» Es ist leicht erkennbar, dass dies nicht immer ein Delikt sein wird.
Zudem müssten für die Vergleichbarkeit in einer Zeitreihe auch immer dieselben Fragen gestellt werden. Dass dies seit den 1980er Jahren geschehen wäre, wird nicht belegt. Vielmehr bestehen Anzeichen, dass dem nicht so ist. So wird etwa bei der der verbalen sexuellen Belästigung ein Vergleich mit der Opferbefragung von 2004 angestellt, bei der aber nach «deplatziertem / beleidigendem Verhalten» gefragt wurde, was vielleicht doch etwas anderes ist als «anstössiges oder belästigendes Anfassen oder tätlich Angreifen».
Und wenn wir schon bei den Sexualdelikten sind: Die Studie, die eine Zunahme der Kriminalität belegen soll, bringt die folgenden 5-Jahres-Prävalenzraten (Prozentsatz der betroffenen Bevölkerung) von Sexualdelikten gegen Frauen: 1995: 9,6, 1997: 4,4, 1999: 4,8, 2004: 6,0 und für 2011: 5,3. Der europäische Vergleichswert liegt nach den Angaben der Studie bei 6,3. Mir zumindest ist nicht klar, wo darin eine Zunahme zu erblicken wäre.
Klarheit durch Vergleich mit europäischen Zahlen
In der erwähnten Präsentation übertrumpft die Kategorie Gewalt / Drohung eindrücklich alle anderen. Gefragt wurde hier nach Vorfällen, bei denen einen «Leute manchmal angreifen oder einen in einer beängstigenden Art und Weise bedrohen» (also nach den Antragsdelikten «Tätlichkeiten» und «Drohung»).
Die 5-Jahres-Prävalenzraten zeigen folgende Zahlen: 1995: 5,9, 1997: 4,5, 1999: 7,0, 2004: 7,2 und für 2011: 10,0. Hier nun also scheint der Kern der These von der Zunahme der Kriminalität und der Gewalt bestätigt. Auch der Vergleich mit Europa (Wert für 2004: 9,9) scheint belegt. Problematisch daran ist, dass es sich wohl eher um eine Einschätzung der Gefährlichkeit der konkreten Situation durch die Opfer als um objektive Gefahren handelt.
Werden die Schlussfolgerungen für Tätlichkeiten und Drohungen durch die Zahlen der schweren Delikte - deren Konsequenzen objektiv leichter feststellbar sind - wie etwa Raub bestätigt? Keineswegs! Auch hier arbeitet die Studie unsauber. Raub stellt in Gottes Namen kein Delikt gegen die körperliche Integrität dar, sondern gegen die Freiheit und das Vermögen. Zudem behandelt die Studie Raub und Entreissdiebstahl als äquivalent, obwohl Letzterer gerade keine physische Einwirkung auf das Opfer darstellt. Die Gleichsetzung bläht also die Kategorie des Raubes ohne Notwendigkeit auf.
Aber all das hingenommen. Wie sehen denn die Zahlen für diese Deliktsgruppe (also Raub inklusive Entreissdiebstahl) aus? Die 5-Jahres-Prävalenz lautet: 1995: 1,6, 1997: 1,0, für 1999: 1,4, 2004: 2,1 und für 2011: 2,2. Es ist schon etwas wagemutig, hier von einer massiven Zunahme zu sprechen. Auch dass das Kriminalitätsniveau der Schweiz auf europäischem Niveau angekommen sei, überrascht, beträgt doch der europäische Wert der 5-Jahres-Prävalenz 3,7, entspricht also fast dem Doppelten des schweizerischen. Bei Tätlichkeiten und Drohungen haben wir also nach den Resultaten der Studie eine markante Zunahme, beim Raub hingegen (trotz des Einschlusses von Entreissdiebstählen) nicht.
Sind wir in der Schweiz bezüglich Gewalt also auf europäischem Niveau angelangt, wie der Autor in den Medien verkündet hat? Mitnichten. Zumindest wenn man der Studie und nicht ihrem Autor glaubt.
Kein belegbarer Einfluss der Strafgesetzbuch-Revision
Die Studie soll nach den Aussagen ihres Autors auch belegen, dass die Revision des AT StGB insbesondere auf die Gewaltkriminalität negativ, also fördernd, gewirkt habe. Leider gibt es hier in der Studie keinen Beleg, weil dazu schlicht nichts erhoben wurde.
Wieso wurden derartige Thesen mit empirischer Forschung verknüpft, wenn sie damit nichts zu tun haben? Das wahrscheinlichste Motiv sind (kriminal-)politische Gründe. Dazu passt letztlich auch die aktuelle Entwicklung: Hatten Kritiker der AT-Revision nicht behauptet, die «Präventionswirkung» des neuen AT sei geringer als die der alten Fassung - wider alle Vernunft, weil wir doch kriminologisch stabil wissen, dass Art und Höhe einer Sanktion auf die Rückfälligkeit kaum je Einfluss haben? Hatten sie nicht baldmöglichst eine empirische Evaluation der Wirkungen des neuen AT StGB verlangt?
Zur Erinnerung: Der revidierte AT ist per 2007 in Kraft getreten, also vor gerade mal vier Jahren. Und was ist herausgekommen? Nichts. Nichts! Keine Veränderung. Ach! Wer hätte das bloss gedacht. Sicherlich niemand, der einer stetigen, durch die Medien verbreiteten Propaganda Glauben schenkt, wonach Kriminelle extrem vernünftige Wesen sind und das Strafgesetz in erster Linie abschreckend wirkt.
Aber was solls. Empirie vermag doch Überzeugungen nicht zu ändern. Hätten sich die Rückfallquoten verändert, wäre das Beleg der These gewesen. Jetzt, wo sie es nicht tun, liegt es wohl doch daran, dass man noch zu wenig lange gewartet hat. Die Verschlimmerung wird schon noch eintreten. Der Halleysche Komet wird wiederkommen und die Welt wird untergehen. Wieder einmal.
Zum Schluss aber noch Tacheles: Nimmt die Gewalt nun zu oder nicht? Das ist mit diesen Daten schlicht nicht zu sagen. Vieles spricht dafür, dass sie es tut, aber eben nicht diese Studie. Nimmt denn wenigstens die Kriminalität insgesamt zu? Wohl kaum. Und hat das alles mit dem revidierten AT etwas zu tun? Nicht das Geringste. Ach, ist die Welt kompliziert.