plädoyer: Heute sind Organentnahmen bei Verstorbenen nur zulässig, wenn die Personen vorab zugestimmt haben. Neu erlaubt das Gesetz Organentnahmen, wenn jemand vor dem Tod nicht widersprochen hat. Weshalb der Systemwechsel?

Mélanie Levy: Die Organspendenrate ist in der Schweiz tief – obwohl die Bevölkerung laut Umfragen zur Organspende eine positive Haltung einnimmt. Die Einführung der Widerspruchs­lösung könnte ein Mosaikstein sein, um die Spendenrate zu erhöhen. Länder wie Spanien, Portugal, Österreich oder Frankreich praktizieren die Widerspruchslösung seit vielen Jahren und haben deutlich höhere Spendenraten als die Schweiz. 

Franziska Sprecher: Es ist eine blosse Behauptung, dass sich die Spendenrate in der Schweiz mit Einführung der Widerspruchslösung erhöhen würde. Fakt ist aber: Es gibt bis heute keinen empirischen Nachweis dafür. Es werden seit Jahren systematisch Falsch­informationen verbreitet. In vielen zum Teil sehr grossen und ­aktuellen Vergleichsstudien mit über 35 Ländern wurde vergebens versucht, für diese Behauptung ­einen Nachweis zu erbringen. Trotzdem wird das neue Gesetz von den Befürwortern so verkauft.

plädoyer: Die Gegner der Revision sagen, eine Spende müsse eine freiwillige Gabe sein. Mit der Widerspruchs­lösung wechsle man zu einer Entwendung von Organen.

Levy: Organspende ist ein Akt der Solidarität. Auch bei der Widerspruchslösung kann einer Person ein Organ nicht ohne weiteres entnommen werden. Im Mai stimmt die Schweiz über eine erweiterte Widerspruchslösung ab. Das bedeutet: Die Angehörigen sind involviert. Niemandem wird automatisch ein Organ entnommen, nur weil im vorgesehenen zen­tralen Register kein Widerspruch eingetragen ist. Keine Transplantationsequipe entnimmt einem Patienten Organe, ohne vorher ein Gespräch mit den Angehörigen geführt zu haben.

Sprecher: Trotzdem braucht es für eine Organentnahme unbedingt ein ausdrückliches Ja des Spenders selbst. Es reicht nicht, mit den Angehörigen zu reden. Bei jedem medizinischen Eingriff – und sei er noch so klein – braucht es immer ein bewusstes und klares Ja der betroffenen Person. Und bei einem so wichtigen Thema wie der Organspende soll es plötzlich nicht mehr notwendig sein? Das ist systemwidrig. Rechtlich und ethisch vertretbar ist eine Organentnahme deshalb nur dann und kann als «Spende» bezeichnet werden, wenn jemand zu Lebzeiten seine ausdrückliche Zustimmung gab.

plädoyer: Was passiert, wenn ein Sterbender keine nächsten Angehörigen hat oder diese nicht sofort erreicht werden können? Bei Transplantationen muss es ja rasch gehen.

Levy: Das Gesetz hält klar fest, dass eine Organentnahme unzulässig ist, wenn ein Mensch keine nächsten Angehörigen hat oder diese nicht erreichbar sind.

plädoyer: Der Kreis der nächsten Angehörigen wird erst nach der Annahme des Gesetzes vom Bundesrat in einer Verordnung festgelegt, das gilt auch für die zeitlichen Vorschriften. Weshalb schreibt man die Modalitäten für die  Abklärung eines allfälligen Widerspruchs der Angehörigen nicht ins Gesetz?

Sprecher: Ich erachte es als sehr heikel, solche Bestimmungen dem Verordnungsgeber zu überlassen. Damit entzieht man sie der parlamentarischen Kontrolle. Ich bin  erstaunt, dass der Kreis der für die Transplantationsmedizin massgebenden Angehörigen überhaupt speziell definiert werden muss. Das Zivilgesetzbuch enthält im Zusammenhang mit medizinischen Massnahmen einen klaren Katalog, wer bei Urteilsunfähigkeit einer Person deren Vertretung ausübt. Ich sehe keinen Grund, für die Transplantationsmedizin von diesem Katalog abzuweichen. Und wenn, dann ist es in einem so sensiblen Bereich wie der Organentnahme doch Aufgabe des Gesetzgebers, die zentralen Aspekte wie die Definition der Ange­hörigen oder die Frist für einen allfälligen Widerspruch zu regeln.

plädoyer: Sind Bundesrat und Parlament mit dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen allzu salopp umgegangen?

Levy: Natürlich haben wir das Recht, über unseren Körper selbst zu bestimmen. Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung ist ein fundamentales Schutzgut. Auf der ­anderen Seite gibt es auch das Recht auf Leben. Dieses Recht steht auch Menschen zu, die lange auf der Warteliste für ein neues Organ stehen. Der Staat ist gemäss Artikel 35 der Bundesverfassung verpflichtet, Grundrechte zu realisieren. Es gibt ein Recht darauf, dass der Staat Massnahmen ergreift, um die Rechte von Patienten zu verwirklichen. Also ist er auch verpflichtet, die Organspende aktiv zu fördern. Die neutrale Information zu Organspenden, wie das Bundesamt für Gesundheit es bis heute gemacht hat, genügt nicht.

Sprecher: Sowohl Menschen, die auf ein Organ warten, wie Menschen, welchen Organe entnommen werden, sind Träger von Grundrechten. Ihre Würde und ihre Persönlichkeitsrechte ver­dienen den gleichen Schutz. Im Moment liegt aber der Fokus der ganzen Diskussion primär auf den Empfängern. Sie wollen ein Organ. Es gibt aber kein Recht auf ein Organ. Auch ist die Einführung der Widerspruchsregelung ein massiver Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der sterbenden Person. Seit Jahrzehnten ist die aufgeklärte Einwilligung (informed consent) zentraler Bestandteil des Gesundheitsrechts. Diese Einwilligung soll jetzt für bestimmte Patienten, die nicht mehr selbst für sich sprechen können, stark eingeschränkt werden, und zwar im Interesse von Dritten.

plädoyer: Laut der Bundes­verfassung können Grundrechte aus bestimmten Gründen eingeschränkt werden.

Sprecher: Eine Einschränkung muss verhältnismässig sein. Das heisst: geeignet, erforderlich und zumutbar. Die Widerspruchslösung scheitert bereits an der Eignung. Bis heute fehlt ein Nachweis, dass mit der Einführung der Widerspruchslösung tatsächlich die Zahl der verfügbaren Organe erhöht würde. Sie ist auch nicht erforderlich, weil weniger einschränkende Massnahmen zur Verfügung stehen. Insbesondere eine Erklärungslösung, welche die nationale Ethikkommission anstelle der aus ihrer Sicht ethisch nicht vertretbaren Widerspruchsregelung vorgeschlagen hat. Und zuletzt fehlt es auch an der Zumutbarkeit. Der gesetzgeberische Zweck, der Transplantationsmedizin zu mehr Organen zu ver­helfen, überwiegt bei weitem nicht das verfassungsrechtlich verbürgte Recht jedes Menschen, über das eigene Sterben und den Umgang mit dem eigenen Körper selbst zu bestimmen.

Levy: Punkto Geeignetheit muss ich klarstellen: Auch wenn wir keine empirischen Studien haben, die einen direkten Zusammenhang zwischen der Widerspruchslösung und einer höheren Organspenderate aufzeigen, so sehen wir doch einen starken Zusammenhang. Länder mit der Widerspruchslösung haben deutlich höhere Organspenderaten als die Schweiz. Auch während der Pandemie wurde übrigens ins Selbstbestimmungsrecht eingegriffen: Das Gesundheitspersonal in Spitälern musste sich zum Teil ­impfen lassen, um Patienten nicht zu gefährden. Die Idee einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts zum Wohle einer anderen Person ist also ein präsenter Ansatz im öffentlichen Gesundheitsschutz.

Sprecher: In der Pandemie wurde aber auch klar, dass wir keine allgemeine Impfpflicht einführen wollen. Wir haben in der Schweiz eine freiheitliche Kultur. Die Widerspruchsregelung ist eine staatliche Strategie zur Verhaltens­änderung (Nudging), die nicht zur Schweiz passt. Das ist nicht unser Staats- und Menschenbild. Ich verstehe nicht, weshalb ein Mensch am Lebensende weniger wert sein soll. Wir wissen so wenig über den Tod. Wer als Angehöriger schon einmal einen Menschen in den Tod begleitet hat, weiss, wie  hochsensibel dieser Bereich ist. Warum sollen wir hier einen derart massiven Eingriff in den Sterbeprozess erlauben?

Levy: Die Argumentation ist ­fragwürdig, mit der Einführung des Widerspruchsrechts würden wir den Menschen am Lebens­ende ihre Würde und ihren Schutz ­nehmen. Diese Argumente haben mit der Widerspruchslösung nichts zu tun. Die Abläufe im Spital, die einen Hirntod feststellen, werden mit der Widerspruchslösung nicht geändert.

plädoyer: Wann der Hirntod genau eintritt, ist medizinisch umstritten. Bis 2011 mussten Ärzte mindestens zweimal im Abstand von mindestens sechs Stunden den Hirntod fest­stellen. Neu nur noch einmal. 2017 verkürzte man  die Wartezeit zwischen dem ­Herzstillstand und der Organentnahme von zehn auf fünf Minuten. Darf der Sterbe­prozess auf die Bedürfnisse der Trans­plantationsmedizin abgestimmt werden?

Sprecher: Die Öffentlichkeit weiss viel zu wenig über die Vorgänge bei Transplantationen und den Hirntod. Hier muss man viel mehr aufklären. Deutschland beispielsweise lehnt die Organentnahme nach Herzstillstand ganz ab, weil sich viele medizinische und ethische Fragen eröffnen. Es stellen sich fundamentale Fragen, auch im Bereich der Religion. Je nach Religion geht man anders mit dem Tod um.

Levy: Für eine Organspende kommen nur Patienten in Frage, die sich ganz am Lebensende befinden und keine Hoffnung auf Genesung mehr haben. Die meisten Organe werden heute Patienten entnommen, bei denen der primäre Hirntod festgestellt wurde. Das sind etwa Patienten nach einem Autounfall, die eine sehr schwere Verletzung ihres Gehirns erlitten, der Körper funktioniert aber noch. Diese Patienten werden an eine Beatmungsmaschine angeschlossen und erhalten Medikamente, um sie in einem stabilen Zustand halten zu können, bis der Hirntod festgestellt wird. Erst nachher darf man die Organe entnehmen. Daneben gibt es die Feststellung des sekundären Hirntodes, nach einem Kreislaufstillstand. Auch in diesen Fällen hat der Patient keine Aussicht auf Heilung. Wenn die medizinische Equipe zusammen mit den Angehörigen beschlossen hat, die Maschinen abzuschalten, wird das getan, und das Herz hört auf zu schlagen. In solchen Fällen muss man nun anstatt zehn Minuten neu fünf Minuten warten, bis man in den Operationssaal gehen kann, um die Organe zu entnehmen.

plädoyer: Vorbereitende Massnahmen sind bereits während der Abklärung des Widerspruchs zulässig. Wie ist es zu rechtfertigen, dass auch Personen, die einer Organentnahme widersprochen haben, solchen Eingriffen unterzogen werden?

Levy: Ein Patient, bei dem man die vorbereitenden medizinischen Massnahmen nicht vornimmt, erreicht im Normalfall den Hirntod gar nicht. Die meisten Patienten am Lebensende, bei denen lebenserhaltende Massnahmen abgesetzt werden, versterben an einem Organversagen oder an einem Herzkreislaufstillstand. So  gibt es keinen Zustand, wo der Körper noch funktioniert, aber der Hirntod festgestellt werden kann. Ohne die vorbereitenden medizinischen Massnahmen gibt es keine Transplantationsmedizin. Diese Massnahmen, die nicht im Interesse des sterbenden Patienten vorgenommen werden, sind eng abgesteckt und dürfen für die sterbende Person nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sein.

Sprecher: Es sind erhebliche Eingriffe. Es geht nicht nur um die Verabreichung von Medikamenten. So werden beispielsweise Organe von Patienten mittels Sonden gekühlt. Der Sterbeprozess wird durch die vorbereitenden Massnahmen verändert. Das alles geschieht im Interesse einer anderen Person. Mit einer Widerspruchsregelung gehen wir das ­Risiko ein, dass diese invasiven Massnahmen ergriffen werden, obwohl noch nicht klar ist, ob ein Widerspruch vorliegt. Es kann also sein, dass vorbereitende Massnahmen ergriffen werden, obwohl die später beigezogenen Angehörigen Nein sagen. Weil sie wissen, dass der Patient das nicht will. 

Levy: Der Staat hat die Pflicht, Organtransplantationen zu ermöglichen. Deshalb ist klar: Vorbereitende medizinische Mass­nahmen müssen in einem eng begrenzten Rahmen für eine Transplantation ergriffen werden können.

plädoyer: Wie stark darf der  Staat in die Gesundheit der Bevölkerung eingreifen?

Levy: In der Transplantations­medizin ist der Staat sehr zurückhaltend. Überall, wo wir ein Problem der öffentlichen Gesundheit haben – etwa während einer Pandemie, beim Übergewicht von Kindern, beim Rauchen oder bei übertragbaren Krankheiten wie etwa Aids ist der Staat sehr aktiv. Es wird uns permanent gesagt, dass wir mehr Broccoli essen und mehr Sport treiben sollen. Das Nudging ist in der öffentlichen Gesundheit sehr präsent. Also sollte es doch auch im Bereich der Organspende so sein. Bei der Widerspruchslösung hat der Bund eine verstärkte Informationspflicht. Er muss über das Widerspruchsregister aufklären, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen müssen alle erreicht werden. 

Sprecher: Es ist unrealistisch, dieses Ziel zu erreichen. Das haben wir in der Pandemie in aller Deutlichkeit gesehen. Viele Leute verstehen die Landessprachen nicht, verstehen die Informationen nicht oder wollen sich schlicht nicht mit ihrem Sterben befassen. Die Widerspruchsregelung würde unweigerlich dazu führen, dass man sozial Schwachen gegen ihren Willen Organe entnimmt, weil sie zu Lebzeiten mit niemandem darüber gesprochen haben und nicht wussten, dass sie ihren Widerspruch hätten in einem amtlichen Register hinterlegen müssen. Wir nehmen unbedacht einen Systemwechsel in Kauf, ohne die Bevölkerung wirklich zu informieren.

Levy: Liegt weder ein Widerspruch noch eine Zustimmung zur Spendebereitschaft vor, müssen die Angehörigen gefragt werden. Die Widerspruchslösung ist im Übrigen nichts Neues in der Schweiz. Vor dem Transplanta­tionsgesetz gab es 26 kantonale ­Gesetze im Bereich der Organspende. Die Hälfte der Kantone hatte die Widerspruchslösung. Man kann also nicht von einem Systemwechsel sprechen. 

Sprecher: Das ist so nicht korrekt. Es gab auch Fälle – wie der Kanton Zürich – die von einer Widerspruchs- zu einer Zustimmungsregelung wechselten, ohne dass die Zahl der Organent­nahmen sank. 1999 wurde Artikel 119a der Bundesverfassung zur Transplantationsmedizin vom Volk angenommen. Sowohl im Vorfeld dieser Abstimmung wie auch während der Ausarbeitung des Transplantationsgesetzes wurde die Art der Zustimmung zur Entnahme von Organen diskutiert. Über alle Parteigrenzen hinweg war man sich in der Bevölkerung einig, dass eine Organspende nur nach einer freiwilligen, klar geäusserten Einwilligung rechtsgültig erfolgen soll. Das heutige Parlament hat dies bei der Ausarbeitung der Revision einfach ausgeblendet. Das ist für mich unfassbar.

Levy: Gesellschaftliche Werte entwickeln sich. Die Transplantationsmedizin und die Organspende sind hier keine Ausnahme.

Mélanie Levy, 40, Assistenzprofessorin für ­Gesundheitsrecht und Co-Direktorin des Instituts für Gesundheitsrecht an der Universität Neuenburg. Mitglied Ethikgremium von Swisstransplant.

Franziska Sprecher, 44, Assistenzprofessorin für Staats- und Verwaltungsrecht und Direktorin am Zentrum für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen an der Universität Bern. Mitglied Abstimmungskomitee «Nein zur Organentnahme ohne Zustimmung».