plädoyer: Herr Steiner, Sie waren Bezirksanwalt, Bezirksrichter und arbeiten nun als Anwalt. Sie erlebten Strafverfahren also aus allen drei Perspektiven. Werden Ihrer Erfahrung nach beschuldigte Polizisten in Strafuntersuchungen anders behandelt als die übrigen Beschuldigten?
Bruno Steiner: Mit Sicherheit ja. Das gilt generell, und besonders auch dann, wenn es um gewalttätige Übergriffe auf Ausländer, insbesondere schwarze Mitbürger geht. Polizeibeamte sind nun einmal Spezialisten, was Einvernahmen betrifft. Sie kennen den Lauf des Verfahrens und wissen um die Auswirkungen ihrer Verhaltensweisen und ihrer Aussagen in der Untersuchung oder vor Gericht. Sie wissen sich zu verteidigen. Selbst altgediente und erfahrene Kriminelle erzielen kaum eine bessere Performance. Es gibt so etwas wie einen Bonus: im Zweifel jedenfalls für den Polizeibeamten.
Sind Polizisten bessere Menschen oder besteht eine behördliche Vermutung, dass Polizisten weniger Delikte begehen als andere Leute?
Polizeibeamte sind normale Menschen und sind auch als solche wahrzunehmen. Ich bin persönlich überzeugt davon, dass sie deutlich weniger Delikte begehen als andere Leute. Eine behördliche Vermutung besteht nicht, aber eine entsprechende Erwartung. Der Grossteil der Polizeibeamten besteht selbstverständlich aus integren und anständigen Leuten. Sie haben ihre Schwächen – wie wir alle. Ihre Arbeit stellt sie allerdings vor ganz besondere Herausforderungen.
Es gibt ja nicht nur persönlichkeitsbedingte Delikte, sondern auch situationsbedingte. Sind Polizisten vor solchen Delikten – zum Beispiel übermässige Gewaltanwendung nach einer Provokation – eher gefeit als andere Bürger?
Ich glaube, dass das tatsächlich der Fall ist. Die meisten Polizeibeamten sind vor situativ bedingten Delikten sehr viel besser gefeit als normale Bürger. Dies aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung und Professionalität, die ich ausdrücklich attestiert haben will. Polizisten müssen sich sehr viel mehr gefallen lassen als andere Bürger. Sie benötigen im Umgang mit ihrer oftmals schwierigen Kundschaft viel Einsteckvermögen. Aufreibender Dienst und anhaltende Spannungen im persönlichen Bereich oder im beruflichen Umfeld können früher oder später Fehlleistungen begünstigen. Wie überall, hat es aber auch bei der Polizei graue und schwarze Schafe. Gewalt hat ein verführerisches Potenzial und wirkt oft wie eine Droge. Das ist auch bei Polizeibeamten nicht anders. Der Versuchung, gewalttätig sein zu dürfen – und zwar in der faktischen Gewissheit, keine Konsequenzen befürchten zu müssen –, kann nicht jeder widerstehen.
Werden Tatbestandsaufnahmen bei Verletzungen infolge Polizeigewalt genauso sorgfältig und unparteiisch durchgeführt wie bei Körperverletzungen ohne Polizeibeteiligung?
Ich habe aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen keine Veranlassung anzunehmen, dass dem so ist. Ganz im Gegenteil. Übergriffe auf Bürger – so sie denn aufgeklärt würden – bedeuten nicht nur Nachteile für den gewalttätig gewordenen Beamten, sondern schädigen das Ansehen der Vorgesetzten, des Korps oder das Ansehen der Polizei schlechthin. So wäre es aus den verschiedensten Perspektiven besser, der Übergriff hätte überhaupt nicht stattgefunden. Und da es beispielsweise Rassismus bei der Polizei nicht geben darf, kann es auch die daraus resultierenden Gewalttaten gar nicht gegeben haben. Bei einem Gruppendelikt – und bei den meisten polizeilichen Übergriffen auf Normalbürger handelt es sich um solche – könnte es sich ein einzelner Beamter ohnehin nicht erlauben, reinen Tisch zu machen. Innerhalb des Kreises der Strafverfolger existiert so etwas wie eine Fehlerkultur leider nicht. Die Dunkelziffer dürfte ausgesprochen hoch sein.
Polizisten arbeiten selten allein, es besteht also nach einem Vorfall mit Verletzungen in der Regel Kollusionsgefahr. Weshalb wird trotzdem praktisch nie U-Haft angeordnet, damit sich die Beschuldigten nicht absprechen können?
Die Idee, dass U-Haft gegenüber gewalttätig gewordenen Polizeibeamten angeordnet werden könnte, amüsiert mich nachgerade. Mir ist kein einziger solcher Fall bekannt. Wieso Leute einsperren, wenn mehr oder weniger feststeht, dass sie unschuldig sein müssen? U-Haft würde für einen Beamten schon beinahe das Aus bedeuten. Vorführung in Ketten wäre undenkbar, Transporte im Gefängniswagen eine totale Erniedrigung. Ich möchte jenen tapferen Staatsanwalt kennenlernen, der sich eine solche Inhaftierung erlaubt. Seine Tage im Kreise der Strafverfolger wären wohl gezählt.
Wie laufen denn die Ermittlungen in Verfahren gegen Polizisten?
Auf den Punkt gebracht: Die Beamten sitzen nach solchen Vorfällen zusammen und erstellen gemeinsam ihren Wahrnehmungsbericht für die Vorgesetzten. Der verfasste Ereignisablauf wird später den entsprechenden polizeilichen Rapporten zugrunde gelegt. Damit ist die Sache schon aufgegleist. Es wird quasi von Amtes wegen kolludiert. Es ist dienlich, entsprechend früh die immer gleichen Anwälte einzuschalten, die ihr Metier übrigens ausgezeichnet beherrschen. Besonders stossend: Die beschuldigten Beamten führen oft noch Ermittlungen gegen das Opfer und erstellen Rapporte über die bei solchen Übergriffen zumeist behauptete Gewalt und Drohung gegen Beamte. Ganz nach dem Motto «Angriff ist die beste Verteidigung». In diesen Verfahren führen ausgerechnet die gewalttätig gewordenen Beamten Einvernahmen mit ihren Opfern durch und fordern allenfalls noch ein Geständnis ein. Es gilt offenbar, die Schuld frühzeitig und definitiv dem Opfer zuzuschieben und so allfällige Strafverfahren gegen Polizisten im Keim zu ersticken.
Strafverteidiger behaupten, Polizisten hätten bei Strafverfahren gegen sie nicht selten Einblick in die Einvernahmeprotokolle von Mitbeschuldigten und Geschädigten, so dass sie ihre Aussagen abstimmen können. Stimmt das?
Das ist so. Und wie abgestimmt wird! Es findet selbstverständlich ein reger Austausch statt – auch wenn immer das Gegenteil beteuert wird. Die fehlbaren Polizeibeamten setzen darüber hinaus zuweilen alle Hebel in Bewegung, um Informationen über das Opfer und dessen Schwächen zu erhalten. Hier wirkt Gruppendruck ebenso wie kollegiale Solidarität. Die Folgen einer Verurteilung sind für Polizeibeamte existenzgefährdend, auch geringfügigere Strafen sind der Karriere nicht förderlich. Also gilt das Konzept: Wehret den Anfängen, und zwar rigoros.
Strafverteidiger mit Erfahrung in Verfahren gegen Polizisten werfen den Staatsanwaltschaften vor, dass der Grundsatz, wonach im Zweifel Anklage zu erheben ist, in Verfahren gegen Polizisten besonders häufig verletzt werden soll.
Was heisst hier häufig? Wohl fast immer, gerade wenn es um massive Übergriffe auf Ausländer geht. In dubio pro duriore gilt nicht! Die protektionistischen Tendenzen und das Schonverhalten bei der untersuchenden Staatsanwaltschaft wie auch der Beschwerdekammer des Obergerichts sind evident. Die Opfer bleiben spätestens auf dem Rechtsweg auf der Strecke. In einem Fall bemühe ich mich seit fünf Jahren um eine Anklage. Nach wiederholter Anrufung des Bundesgerichts soll sie nun erhoben werden – ausgerechnet von jenem Staatsanwalt, der die Sache erfolgreich verschleppt hat und auf Teufel komm raus einstellen wollte. Bei den oft nur rudimentär angedachten, häufig verschleppten oder gar bewusst in die Irre geführten Untersuchungen, in denen vornehmlich den entlastenden Momenten nachgegangen wird und Beweisanträge der Kläger kaum je ernsthaft geprüft werden, hat der Staatsanwalt mit seiner Einsicht oftmals sogar Recht, dass eine Verurteilung nicht zu erwarten sei. Er kennt das von ihm gebaute fragile Beweisfundament und auch die generelle Unlust der Gerichte, auf einer solchen Basis Polizeibeamte zu verurteilen.
Amnesty International spricht von einer De-facto-Straflosigkeit der Polizei in der Schweiz.1 Sehen Sie dies auch so?
Diese Feststellung deckt sich exakt mit meiner Erfahrung. Solche Strafuntersuchungen als Opfervertreter führe ich nur noch im Sinn einer experimentellen Jurisprudenz. Das sage ich meinen Klienten auch, die dieses Risiko eingehen wollen. Wir führen einen Kampf, obwohl wir wissen, dass wir ihn mit einiger Gewissheit verlieren werden.
Gemäss Amnesty fehlt in der Schweiz ein unabhängiges und unparteiisches Verfahren für die Bearbeitung von Klagen gegen die Polizei. Einverstanden?
Das sehe ich auch so. Solange Strafverfolger gegen Strafverfolger aus dem gleichen Strafverfolgungsapparat ermitteln, wird sich an dieser offenkundigen und beschämenden Dysfunktion der Strafjustiz nichts ändern. Manchmal denke ich, dass es einen stillen Konsens hinsichtlich einer gewissen Form von Immunität der Beamten gibt, die nur selten durchbrochen wird. Das System schützt in erster Linie das System und nicht den betroffenen Bürger. Das ist eine ebenso banale wie bittere Wahrheit und gilt in besonderer Weise für die Strafverfolger. Der Bürger – solange er nicht selber betroffen ist – will seine Ruhe. Er will nichts von Mauscheleien und solchem Zeugs hören. Meist betrifft es ja ohnehin Ausländer. Doch auch der brave Schweizer muss wissen: Man kann bei einem solchen Übergriff leicht zum Ausländer werden – zum Neger im hässlichsten Sinn dieses Unworts.
Würde eine behördenunabhängige Strafverfolgungskommission etwas bringen, zusammengesetzt zum Beispiel aus Professoren und Anwälten? Mit Kompetenzen wie eine Staatsanwaltschaft?
Durchaus! Die Asymmetrie gerade bei der Verfolgung gewalttätiger Polizeiübergriffe auf Bürger könnte so korrigiert werden. Ganz wegbringen wird man sie nie. Zu tief sitzt diese Form von Protektion in den Knochen. Insbesondere gehört die herrschende Omertà gebrochen. Die Strafverfolger, und dazu gehören auch Staatsanwaltschaft und Gerichte, die sehr wohl um die unerfreulichen Zustände wissen, sollten endlich aufhören, die Öffentlichkeit zu sedieren. Polizeiliche Gewalt ist ein Problem. Ein Anflug von Redlichkeit wäre schon ein Teil der Lösung. In leichten Fällen zumindest sollte man eine Form der Mediation zwischen Beamten und Opfern ermöglichen. Auch Polizeibeamte sind nur Menschen. Wenn sie Fehler machen, dann sollen sie sich nicht gleich stigmatisiert oder in ihrer beruflichen Existenz gefährdet sehen. Gerade dieser Umstand führt zu jener schier unglaublichen Verhärtung und jener Verbissenheit, mit der sich Beamte gegen Vorwürfe zu Wehr setzen. Entschuldigung und Vergebung sind immer noch eine gute Sache, besser jedenfalls als diese letztlich erbärmlichen, nie enden wollenden Strafverfahren.
1 Amnesty International: «Polizei, Justiz und Menschenrechte, Polizeipraxis und Menschenrechte in der Schweiz – Anliegen und Empfehlungen von AI», Bern 2007.