plädoyer: Ein Drittel der Bevölkerung darf in der Schweiz nicht abstimmen – mangels Schweizer Pass. Vom Rest gehen rund 45 Prozent an die Urne. Das bedeutet: Faktisch sind 30 Prozent der Bevölkerung beteiligt. Deren Mehrheit, also 15,1 Prozent, kann bestimmen, was Recht ist. Ist das noch demokratisch?
Eva Maria Belser: Das ist in der Tat ein grosses Problem. Deshalb begreife ich, wenn Van Reybrouck sagt, die Demokratie sei in der Krise (siehe Unten). In der Schweiz ist es nicht so schlimm, wie die Zahlen nahelegen. Es sind nicht immer die gleichen 40 Prozent, die wählen und abstimmen. Nur etwa 10 bis 15 Prozent der Stimmberechtigten sind wirklich politikabstinent. Zudem können die Stimmberechtigten hier nicht nur wählen, sondern auch über Sachfragen abstimmen. Wer sich für eine Sachfrage interessiert, nimmt in der Regel auch an den Abstimmungen teil – soweit er oder sie den Schweizer Pass hat.
Andreas Glaser: Neben dem Bund gibt es noch die Kantone und Gemeinden, in denen die Stimmbürger vielfältig und direkt intervenieren können. Das führt zu einer Multiplikation der Partizipationsmöglichkeiten. Auch wenn weniger als 80 bis 85 Prozent mitmachen – es sind doch mehr als bei einer rein parlamentarischen Demokratie. Wer höhere Stimmbeteiligungen will, muss den Stimmzwang einführen – wie im Kanton Schaffhausen.
plädoyer: Die Hürde für den Erfolg einer Volksinitiative ist heute sehr hoch – vor allem wegen des Ständemehrs. Sollte die Schweiz diese Mitbestimmungsmöglichkeit erleichtern?
Belser: Nur wenige Volksinitiativen scheitern am Ständemehr. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind dennoch durchaus verbesserungsfähig. Die Bevölkerung kann bei einer Abstimmung nur Ja oder Nein sagen – also ihre Meinung nur sehr undifferenziert ausdrücken. Das Verhandeln und Ringen um Konsens und Kompromiss kann gar nicht stattfinden. Das kritisiert Van Reybrouck zu Recht und propagiert deliberative Formen der Demokratie – also andere Arten der Mitbeteiligung.
Glaser: Ich würde hier differenzieren. Vielen Initianten geht es nicht um einen Verfassungsartikel, in dem genau das steht, was sie wollen. Ich denke an die Hornkuh-Initiative, die wohl in der Hoffnung gestartet wurde, dass sie in einen Gesetzesartikel mündet. Vielen Bürgern genügt die Möglichkeit, eine Diskussion auszulösen. Sie sind froh, wenn ihr Anliegen von den Politikern gehört wird. Das verhindert «Wutbürger», die rein destruktiv gegen das System vorgehen wollen.
plädoyer: Die Schweizer Parteien haben eher wenig Mitglieder, zurzeit rund 350000, Tendenz sinkend. Das sind etwa fünf Prozent der Erwachsenen. Sie teilen die Posten in Regierungen, Parlamenten und Gerichten unter sich auf. Müsste man da nicht eher von Aristokratie als von Demokratie sprechen?
Glaser: Die tiefen Mitgliederzahlen von Parteien sind in der westlichen Gesellschaft allgemein ein Problem. Man will sich nicht mehr langfristig an eine Partei binden, sondern sich projektbezogen – etwa für ein Burkaverbot – engagieren und dann wieder aussteigen. Eine Parteimitgliedschaft ist mit Enttäuschungen verbunden. Man muss das ganze Programm mehr oder weniger mittragen. Das steht quer zum Zeitgeist. In vielen Staaten besteht das Problem, dass die Parteien den staatlichen Apparat quasi monopolisiert haben. Das ist auch bei den Richterstellen in der Schweiz und Exekutivämtern in den Kantonen der Fall. Aber mindestens auf Gemeindeebene ist es nicht nötig, dass man Parteimitglied ist.
Belser: Das direktdemokratische System der Schweiz kennt allerdings zahlreiche parteiunabhängige Mitwirkungsmöglichkeiten und verschiedene Ventile. Wer furchtbar unzufrieden ist, kann eine Volksinitiative lancieren oder ein Referendum ergreifen. Das federt einen grossen Teil des Frustpotenzials ab, das wir in anderen Demokratien sehen. Kann man nur alle vier Jahre zwischen Parteien wählen, die sich manchmal nicht einmal klar unterscheiden, ist die Gefahr der Entfremdung viel grösser. Für die Demokratie sind die geringen Mitgliederzahlen der Parteien ein grosses Problem. Der Pool, aus dem man das politische und staatliche Personal schöpft, ist winzig. Viele, die sich engagiert für das Gemeinwohl einsetzen würden, stehen nicht zur Wahl. Deshalb ist die Kritik an Wahlen von Van Reybrouck überzeugend und richtig. Er schreibt von wenigen «oligarchischen Kreisen», aus denen das politische Personal rekrutiert wird. Auch wenn Wahlen in einer Demokratie zweifellos eine wichtige Rolle spielen, hat er recht, wenn er zum Nachdenken über komplementäre Mechanismen auffordert.
plädoyer: Schrecken die Parteien Leute ab, die an einer konstruktiven Diskussion und am Gemeinwohl interessiert sind?
Belser: Laut Van Reybrouck sollte man lieber den Leuten Macht anvertrauen, die sie gar nicht unbedingt wollen. Bei Wahlen stehen aber einzig Leute zur Verfügung, die Macht anstreben und die bereit sind, sich allem auszusetzen, was ein Wahlkampf mit sich bringt. Sind sie gewählt, wollen sie die Macht in der Regel möglichst lange behalten. Es gibt gute Gründe, staatliche Macht auch Personen anzuvertrauen, die sie gar nicht suchen. Aber diese Leute stehen nicht auf den Wahllisten der Parteien.
Glaser: Man sollte nicht Leuten politische Ämter anvertrauen, die gar keins wollen – sie werden nicht mitmachen. Den Amtszwang kennen wir in der Schweiz teilweise auf Gemeindeebene: Da werden Leute nach dem Zufallsprinzip in die Exekutive gewählt, gehen ihrem Amt dann ohne Freude nach oder ziehen deswegen aus der Gemeinde weg. Solange die Parteien offen sind, finde ich es nicht schlimm, dass man nur die Personen für Ämter wählen kann, die das auch wirklich wollen. Zudem hat unser politisches System Mechanismen wie die Kollegialregierung, die autokratisch veranlagten Personen – die es in der Geschichte des Bundesrats oder anderer Regierungen teilweise gab – entgegenwirken. Die Macht der Alphatiere wird begrenzt. Auf Regierungsebene müssen sich fünf oder sieben Leute einigen. Auch im Parlament haben wir kein klassisches Zweiparteiensystem. Es gibt wechselnde Koalitionen bei Themen wie Steuern, AHV etc.
plädoyer: Van Reybrouck kritisiert den permanenten Wahlkampf, der die Suche nach Lösungen erschwere. Wäre es sinnvoller, die Politiker nur für eine einzige Amtsdauer zu wählen? So würden sie sich nach der Wahl nicht gleich mit der Wiederwahl beschäftigen.
Belser: Der Spruch «Nach den Wahlen ist vor den Wahlen» war wahrscheinlich noch nie so wahr wie heute. Unterstützt durch permanente Volksbefragungen, versuchen die Volksvertreterinnen und Volksvertreter gar nicht, das Volk zu vertreten, sondern Befindlichkeiten aufzuspüren und die eigene politische Haltung ständig darauf abzustimmen. Das führt zur politischen Handlungsunfähigkeit. Ich bin aber gegen ein striktes Verbot der Wiederwahl. Wer sich bewährt, soll die Möglichkeit zur Wiederwahl haben.
plädoyer: In Parlamenten versammeln sich Interessenvertreter von Banken, Versicherungen, Bauern, Pharma- oder Rüstungsfirmen statt Bürger und Bürgerinnen, die sachliche und adäquate Lösungen suchen. Besteht da nicht Handlungsbedarf?
Belser: Dass Politikerinnen und Politiker Interessen vertreten, ist per se kein Problem. Das gehört zu ihrem Job. Das schweizerische Milizsystem ist darauf angelegt, Personen mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen ins Parlament zu holen. Nur haben wir in der Schweiz ein Problem, weil unsere Politikfinanzierung intransparent ist. Man weiss nicht wirklich, wer welche Interessen vertritt und wie Parteien und ihre Mitglieder finanziell gefördert werden. Zahlungskräftige Lobbys haben einen grossen, aber wenig durchschaubaren Einfluss auf die Politik. Arbeitslose, Straftäter oder ausländische Bevölkerungsgruppen können sich weniger gut organisieren und erhalten nicht das Gehör, das sie verdienen. Staatliche Entscheide sind deshalb nicht immer auf den Willen des Volkes zurückzuführen, wie es die Demokratie verlangt, sondern teilweise auf den Willen mächtiger Teile des Volks.
Glaser: Das Ungleichgewicht und die Intransparenz sind ein Problem. Aber bei den Berufsparlamenten im Ausland ist das nicht anders. Der VW-Konzern in Deutschland beeinflusst sogar die Reden eines Ministerpräsidenten, wie wir aus den Medien erfuhren. Und auf EU-Ebene weiss die fachspezialisierte Brüsseler Bürokratie alles und kann trotzdem nichts gegen den Lobbyismus tun. Auch bei ausgelosten Volksvertretern bestünde die Gefahr, dass sie beispielsweise von der Pharmaindustrie gekauft würden. Es gibt bei jeder Systemform zahlungskräftige Kreise, die ihre Interessen durchsetzen. Ausgeloste Personen haben nicht einmal eine Ideologie. Die Gefahr ist gross, dass sie ihr Amt verkaufen. Man muss in allen Systemen für Transparenz sorgen und schauen, wie man die Ungleichgewichte ausgleicht.
plädoyer: Der britische Soziologe Colin Crouch verwendet das Wort «Postdemokratie» für ein Gemeinwesen, in dem Wahlen stattfinden, aber die öffentliche Debatte so stark durch konkurrenzierende PR-Profis kontrolliert wird, dass nur noch die von ihnen ausgewählten Themen diskutiert werden. Das schaffe eine Atmosphäre der permanenten Hetze. Journalisten würden für Lug und Trug instrumentalisiert. Im Schatten dieser Show werde die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht, von gewählten Eliten, die vor allem Wirtschaftsinteressen vertreten. Ist die Gegenwart bereits postdemokratisch?
Belser: Das Vertrauen der Bevölkerung in die nationalen Parlamente und Regierungen in Europa liegt gemäss Van Reybrouck bei 27 Prozent! Das muss uns Sorgen bereiten. Unser Wahlsystem funktioniert vor allem für die erfolgreichen bürgerlichen und wohlhabenden Schichten. Und diese machen immer häufiger Alternativlosigkeit geltend. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass die Ungleichheit in den meisten Staaten zunimmt. Ungleichheit und das Gefühl, mit den eigenen Anliegen nicht gehört zu werden, produzieren Wut- und Frustbürger. Weder Wahlen noch Sachabstimmungen konnten verhindern, dass eine starke Entfremdung entstand. Das muss uns motivieren, nach Alternativen zu suchen. Van Reybrouck schlägt als Alternative ein Losverfahren vor – das ist interessant und ernst zu nehmen.
Glaser: Der Vertrauensverlust ist in vielen Staaten gross. Schweizer Zahlen zeigen aber, dass der Bundesrat nach wie vor hohes Vertrauen geniesst. Wir wollen heutzutage oft alles auf einen Nenner bringen: Die Entwicklungen in den USA, Grossbritannien, Polen, Ungarn oder der Schweiz sollen alle den gleichen Grund haben. Es gibt wohl eine journalistische Elite oder PR-Agenturen, die alles gerne zusammenmischen. So einfach ist es aber nicht. Man muss jedes Land und jedes Gemeinwesen genau analysieren und schauen, wo die Verschiebungen sind und wie sie verlaufen.
plädoyer: Gibt es nicht doch Gemeinsamkeiten? Aristoteles sprach von Demokratie, wenn Staatsämter durch Los vergeben werden. Und von Oligarchie, wenn sie durch Wahlen besetzt werden. Einverstanden?
Glaser: Man muss das historische Umfeld beachten. In einem gewissen Umfeld kann das Losverfahren sinnvoll sein. Aber früher war auch dieses sehr exklusiv. Frauen und Ausländer durften im alten Athen nicht mitmachen. Es war eine kartellierte Elite, aus der man das Personal ausloste. Im Zunftwesen oder Patriziat war es ähnlich: Das politische Personal wurde aus den guten Familien ausgewählt. Dieser Kreis war sehr klein, die Mehrheit der Bevölkerung war ausgeschlossen. Ich bin mit Van Reybrouck in der Diagnose in vielem einig – aber ich glaube, dass ein solches Losverfahren, wie er es sich vorstellt, nicht viel weiter führt.
Belser: Natürlich kann man einwenden, dass in Athen nur die Mitglieder einer privilegierten Gruppe für die Staatsämter ausgelost wurden. Trotzdem ist die Idee interessant, dass man eine Stichprobe aus der Bevölkerung nimmt und sie so zusammenstellt, dass sie repräsentativ ist – also Leute aus Stadt, Land, Männer, Frauen, sprachliche Gruppen etc. berücksichtigt werden. Und dann versucht man, gemeinsam Lösungen auszuarbeiten und Entscheide zu fällen oder zumindest vorzubereiten. Ein solches Verfahren hat den Vorteil, dass sich Volksvertreterinnen und Volksvertreter abgeschirmt vom Medienrummel und ohne Interesse an einer Wiederwahl fundiert mit Sachfragen auseinandersetzen können. Gerade das Informieren, Argumentieren und Debattieren kommt bei unseren Wahlen und Sachabstimmungen viel zu kurz. Eine Zustimmung sollte nicht bloss ein Ja zu einer Vorlage sein – sondern eine informierte Zustimmung, ähnlich wie bei medizinischen Eingriffen: Heute ist es selbstverständlich, dass eine Ärztin vor einer Operation zuerst über die Behandlung, die Alternativen und die Risiken des Nichtstuns informiert. So kann der Patient den Entscheid gut informiert fällen – eine uninformierte Zustimmung aus Angst oder Frust genügt nicht für den Eingriff.
Glaser: Damit bin ich nicht einverstanden. Das würde ja voraussetzen, dass es eine technokratisch richtige Lösung gibt: Man informiert zuerst, dann diskutiert man alles aus und kommt schliesslich zur richtigen Lösung. Ich denke, am Ende müssen vielmehr politische Fragen durch Mehrheitsentscheide geklärt werden. Ich bin nicht unglücklich, wenn ich eine Person wählen kann, die ich politisch einordnen kann und die dann professionell meine Meinung einbringt. Bei ausgelosten Personen ist das nicht der Fall. Sie sind einfacher zu beeinflussen.
plädoyer: Reybrouck schlägt ein Zweikammersystem mit einem ausgelosten und einem gewählten Gremium vor. Eine gute Idee?
Belser: Die Zeit ist dafür noch nicht reif. Interessant sind aber die realen Beispiele der letzten Jahre in Kanada, Island und Irland. Dort entwickelten zufällig bestimmte, aber nicht dazu gezwungene Bürgerinnen und Bürger Ideen für Wahlreformen und Verfassungstexte. Beeindruckend ist zum Beispiel Irland mit seiner mehrheitlich konservativen Rechtsordnung, die sich in der Präambel der Verfassung auf die Dreifaltigkeit beruft und Abtreibung verbietet. Dort entwarf ein Gremium aus 33 Politikerinnen und Politikern sowie 66 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern acht Verfassungsartikel, darunter einen über die Ehe von Homosexuellen. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde später in einer Volksabstimmung mit grosser Mehrheit angenommen – ausgerechnet im katholischen Irland! Das klappte nur dank der intensiven Auseinandersetzung des Gremiums mit diesen Themen und dank seiner guten Verankerung in Politik und Gesellschaft.
Glaser: In der Schweiz haben wir die Volksinitiative als Äquivalent. Bürger können sich für ein Anliegen zusammenschliessen. Das Proporzwahlrecht auf Bundesebene geht auf eine Volksinitiative zurück. Die Machthaber wollten am alten System festhalten.
plädoyer: Der Kanton Graubünden etwa hat noch immer kein Proporzwahlrecht.
Glaser: Ja, das sehe ich schon. Wir müssen abwarten, was da noch kommt. Es ist allerdings nicht so, dass das Proporzwahlrecht für alle Staaten und alle Kantone zwingend sein muss. Wenn es eine Mehrheit gibt, kann sie sich in jedem Fall durchsetzen. Viele Verfassungsräte in den Kantonen, welche die Kantonsverfassungen vorbereiteten, gehen in diese Richtung des Modellfalls in Irland.
plädoyer: Für Van Reybrouck ist die Auslosung effizienter als das Wahlverfahren, weil es kein parteipolitisches Gezerre gibt, keine Wahlspielereien und keine Medienschlachten. Soll Demokratie effizient sein?
Belser: Demokratie soll in erster Linie legitim sein und durch geregelte Verfahren Entscheide hervorbringen, die dem Willen einer Mehrheit entsprechen. In der Schweiz gibt es viele Mechanismen, die das sicherstellen, die Konsensdemokratie nimmt auf viele Meinungen und Interessen Rücksicht. Schaut man aber über die Schweiz hinaus, sind Tendenzen einer Oligarchisierung unübersehbar. Immer mehr erfolgreiche Politiker gehören zu den Reichsten des Landes. Die politische Macht konzentriert sich vielerorts zunehmend auf wenige Familien oder Gruppen. Das sind Anzeichen dafür, dass in der Politik keine Chancengleichheit besteht. Grosse Medien, aber auch PR-Agenturen haben oft eine unglaubliche Macht. Gemeinsam haben sie einen bestimmenden Einfluss auf die Agenda. Sachthemen, die grosse Bevölkerungsgruppen betreffen und beschäftigen, gehen dabei leider oft unter. In der Schweiz hatte man eine Zeit lang das Gefühl, es gehe nur noch um Kampfhunde, Rauchen und Tücher auf den Köpfen von Frauen, nicht um die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Lands. Hier stellt sich die Frage: Cui bono?
Glaser: Das ist der Preis der Vielfalt: Solche Themen kamen häufig über Volksinitiativen auf die Agenda. Der Bundesrat beschäftigt sich dagegen mit Steuergeldern, Kampfflugzeugen oder der AHV. Die Schweiz hat im Vergleich zum Ausland ein sehr starkes Parlament. Einzelne Parlamentarier können Initiativen lancieren oder Gesetze gegen den Willen des Bundesrats machen. Solange nicht ausgeschlossen ist, über alle Themen zu diskutieren und sie auf das politische Programm zu bringen, mache ich mir keine Sorgen.
Belser: Trotzdem würde mich interessieren, was passiert, wenn eine Volksinitiative zunächst in einem ausgelosten oder gemischten Gremium landet. Was wäre herausgekommen, wenn man beim Minarettverbot oder bei der Masseneinwanderungsinitiative in aller Ruhe eine Auslegeordnung gemacht und sich gefragt hätte, welches Anliegen hier vorgebracht wird und wie es sich am besten verwirklichen liesse? Wahrscheinlich ging es den Initianten ja nicht um Türme an Moscheen. Vielleicht führten die Bedenken gegen die Einwanderung oder Ängste vor Terrorismus zu einer Verfassungsnorm, welche diese Bedenken und Ängste gar nicht aufnimmt, sondern Minderheiten diskriminiert. Hätten wir aber in einem zusammengewürfelten Gremium die wirklichen Sorgen herausgearbeitet und uns Gedanken gemacht, wie wir sie in etwas übersetzen, das den Anliegen tatsächlich Rechnung trägt, wäre sehr wahrscheinlich eine viel bessere Verfassungsnorm entstanden als die heutige.
Van Reybrouck: Lieber auslosen als wählen
Wahlen führen letztlich zu aristokratischen und oligarchischen Verhältnissen: Die Macht liegt bei einer kleinen Elite. So die Kernthese des niederländischen Historikers David Van Reybrouck in seinem Buch «Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist». Er belegt mit vielen Beispielen aus der Geschichte, dass ein Losverfahren zu vermehrter Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess und zu besseren Lösungen führt. Die Kombination von politischer Gleichheit und Demokratie geht auf das alte Athen zurück, wo mehrere Hundert durch das Los ausgewählte Leute grundlegende Entscheidungen trafen. Eine solche Demokratie wäre laut Van Reybrouck legitimer, effizienter und weit weniger korruptionsanfällig.
Er untermauert seine These mit aktuellen Beispielen aus Irland, Island, Kanada und den Niederlanden.
David van Reybrouck,
«Gegen Wahlen»,
Wallstein-Verlag, Göttingen 2017
Andreas Glaser, 39, Professor an der Universität Zürich, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht. Vorsitzender der Direktion des Zentrums für Demokratie in Aarau.
Eva Maria Belser, 47, Professorin an der Universität Freiburg. Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht und Co-Direktorin des Instituts für Föderalismus. Zudem Inhaberin des Unesco-Lehrstuhls für Demokratie und Menschenrechte sowie Mitglied des Direktoriums beim Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR).