Verfassungsrecht
Grundrechte
Diskriminierung durch sexuelle Belästigung nach Art. 4 GlG. Boris Etter, SJZ 2022, S. 18 ff.
Der Autor setzt sich vertieft mit der Bestimmung von Artikel 4 des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann mit der Diskriminierung durch sexuelle Belästigung auseinander. Im Zentrum steht die Analyse des Artikels unter Einbezug von Fallgruppen und Entscheiden von Gerichten und Schlichtungsstellen, mit dem Zwischenergebnis einer eigenen Begriffsdefinition. Weiter werden ausgewählte Fragestellungen aus der Praxis eingehend beleuchtet, so unter anderem mögliche Handlungsorte, Homeoffice sowie Meldestellen bei sexueller Belästigung. Nach der Darstellung der Rechtsansprüche der betroffenen Personen wird das Thema von internen Untersuchungen bei sexuellen Belästigungen erörtert. Dazu kommen Ausführungen zu möglichen Ansatzpunkten bei einer künftigen Revision des GlG.
Grundrechte und Wirtschaft: Internationale Entwicklungen. Christine Kaufmann, AJP 11/2021, S. 1355 f.
2011 wurden erstmals international breit abgestützte Regeln über Wirtschaft und Menschenrechte und verantwortungsvolle Unternehmensführung geschaffen. Seither hat sich der Akzent von nicht verbindlichen Soft-Law-Instrumenten zu zunehmend verbindlichen Regelungen verschoben. Für die Autorin ist das eine Entwicklung, die auch die Schweiz betrifft und nach einer aktiven Mitgestaltung rufe.
Von Freiheit, Überforderung und Bumerangen. Markus Müller, ZBl 1/2022, S. 1 f.
Der Beitrag nimmt Bezug auf den aktuell vor allem in der Coronadebatte geführten Streit um das «richtige» Freiheitsverständnis. Eine verpflichtende solidarische Mitverantwortung eines jeden Freiheitsträgers für die Freiheiten der anderen fehle in der Bundesverfassung. Das «individuumszentrierte Freiheitsverständnis» habe sich zum Bumerang entwickelt, was die Covidkrise gnadenlos gezeigt habe. Auch aufgrund der Klimakrise gelte es, den Gesellschaftsvertrag in Bezug auf Freiheitsverständnis und Menschenbild zu überdenken. Die Mitverantwortung müsse der Bevölkerung bewusster gemacht werden – als Pflicht, die in der Verfassung zu verankern sei. Einen Platzhalter gebe es dafür mit Artikel 6 BV bereits.
Verwaltungsrecht
Ausländer- und Asylrecht
Ergänzungsleistungen und der ausländerrechtliche Familiennachzug. David Hongler, Jusletter vom 10.1.2022
Mit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) wurde eine neue Voraussetzung für den Familiennachzug eingeführt. Seit 2019 dürfen neu Ausländer, die Angehörige der Kernfamilie in die Schweiz nachziehen möchten, nicht nur keine Sozialhilfe, sondern auch keine Ergänzungsleistungen beziehen. Der Autor erläutert die Entstehungsgeschichte dieser neuen Voraussetzung und gibt eine Übersicht über Charakter und Rechtsnatur von Ergänzungsleistungen. Zudem diskutiert er vertieft die Frage, ob die neuen Gesetzesbestimmungen gegen die national und international verankerten Diskriminierungsverbote verstossen.
Umweltrecht
Ufervegetationsschutz durch Schutzzonenplanung – zum «Ob» und «Wie» eines kantonalen Vollzugsauftrags. Gregor Geisser, URP 7/2021, S. 699 ff.
Der Aufsatz baut auf einem Rechtsgutachten des Autors auf. Es kommt unter anderem zum Schluss, dass eine Festlegungsfrist für Ufervegetationsschutz besteht. Es wird eine Schutzzonen-Planungspflicht für bestehende und künftige Ufervegetationen postuliert, wie sie auch für andere Biotop-Arten besteht.
Übriges Verwaltungsrecht
Die Anwaltsprüfung im Kanton Basel-Stadt. Ein Erfahrungsbericht. Angelo Breda und Julian Powell, Jusletter vom 20.12.2021
Die beiden Autoren erzählen konkret über inhaltliche, zeitliche und finanzielle Einzelheiten der Anwaltsprüfung und erläutern die verschiedenen Prüfungsphasen. Ihr Fazit: Die Anwaltsprüfung im Kanton Basel-Stadt fordere eine aussergewöhnliche Investition an Geld, Zeit und Energie von den Kandidaten. Deshalb seien Reformen angebracht. Die Forderung ist an die Prüfungskommission gerichtet, denn sie verfüge über einen erheblichen Ermessensspielraum hinsichtlich Struktur und Modalitäten der Prüfung. So seien Anpassungen der Prüfungsausgestaltung weitgehend ohne Gesetzesänderung möglich.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Der Weg zu einem invaliditätskonformen Tabellenlohn. Gabriela Riemer-Kafka, Urban Schwegler, SZS 6/2021, S. 287 ff.
Der Anspruch auf die IV-Rente hängt vom Einkommen ab, das dem Versicherten trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch zugemutet wird. Dieses Einkommen leitet die IV-Stelle aus Durchschnittswerten ab, die für die Entlöhnung der Tätigkeiten auf einem bestimmten Kompetenzniveau gelten. Je nach erlangten Fertigkeiten und Kenntnissen wird der Versicherte einem Kompetenzniveau von 1 bis 4 zugewiesen. Versicherte auf dem tiefsten Niveau haben oft Pech – bei den darin zusammengezogenen Tätigkeiten finden sich etliche mit körperlich schwerer Belastung, die für sie nicht mehr in Frage kommen. Unter dem Aspekt der Gleichbehandlung ist dies problematisch. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe stellt hier einen Ansatz vor: Dieser beseitigt wesentliche Verzerrungen, indem Tätigkeiten herausgefiltert werden, die von Versicherten mit gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr ausgeübt werden können.
Privatrecht
Familienrecht
Kontaktverweigerung, Kontaktabbruch und Kontaktanbahnung bei hochkonflikthaften Trennungen und Scheidungen sowie Elternbeziehungen. Patrick Fassbind, Joachim Schreiner und Jonas Schweighauser, Fampra.ch 3/2021, S. 675 ff.
In hochkonflikthaften Trennungsfamilien und bei nicht zusammenlebenden Eltern kommt es häufig zu Kontaktunterbrüchen und -abbrüchen. Das stellt die Praxis immer wieder vor grosse Herausforderungen. Der Beitrag zeigt auf, was die Ursachen sind und wie behördlicherseits und im Umgang mit den Eltern vorgegangen werden kann. Zudem vermitteln die Autoren Ideen, was in diesen Konflikten machbar und von den Strukturen her wünschbar wäre.
Arbeitsrecht
Die paritätische Kommission: Funktion, Kompetenzen und Verfahren. Christoph Senti, ARV-DTA 3/2021, S. 213 ff.
Gesamtarbeitsverträge gelten für rund 1,7 Millionen Angestellte in der Schweiz. Zentral für die Überprüfung, ob die vereinbarten Bedingungen eingehalten werden, sind die paritätischen Kommissionen. Diese üben die Kontrolle darüber aus, ob Mindestlöhne effektiv ausbezahlt werden. Oder sie gehen auf die Baustelle und prüfen die Einhaltung der Bestimmungen. Der Autor vermittelt eine gute Übersicht und zeigt aktuelle Fragen zu den Aufgaben der Kommissionen auf.
Sachenrecht
Betrachtungen zu den Fahrnisbauten. Lena Rutishauser, Baurecht 2021, S. 241 ff.
Artikel 677 ZGB umschreibt Fahrnisbauten als «Hütten, Buden, Baracken u. dgl.», die «ohne Absicht bleibender Verbindung auf fremden Boden aufgerichtet sind». Ohne dass dazu eine Baurechtsdienstbarkeit zu errichten ist, kann über Baute und Grundstück gesondert verfügt werden. Der Beitrag geht dem Begriff der Fahrnisbaute auf den Grund. Dazu setzt er sich mit dem für das Sachenrecht zentralen Akzessionsprinzip auseinander und zeigt, wann eine Baute von diesem Prinzip erfasst wird und welche Bauten ihm nicht unterliegen.
Übriges Vertragsrecht
Kooperative Vertragsgestaltung. Alle gewinnen oder alle verlieren. Patrick Schurtenberger, Baurecht 2021, S. 311 ff.
Die Schweizer Baubranche ist von Misstrauen und Konflikten geprägt, die nicht selten im Gericht enden. Dies ist nicht zuletzt dem Interessenkonflikt geschuldet, der dem klassischen Bau- und Planervertrag zugrunde liegt. Der Autor zeigt auf, wie dieses Spannungsverhältnis mittels alternativer, auf eine intensivierte Kooperation abzielender Vertragsmodelle überwunden werden kann.
Das direkte Forderungsrecht im revidierten VVG – ein praxistaugliches Instrument? Benjamin Schumacher, Patrick Dummermuth und Lukas Bubb, Have 4/2021, S. 355 ff.
Die Autoren geben einen Überblick über die Neuerungen zum direkten Forderungsrecht, das während der Teilrevidierung des VVG (ab 2022 in Kraft) stark ausgebaut wurde. Der Beitrag beleuchtet verschiedene Fragen, die sich künftig stellen dürften, unter anderem zum Direktprozess zwischen geschädigter Person und Versicherung im Bereich der freiwilligen Haftpflichtversicherung.
Rechtsprechung und ausgewählte Rechtsfragen 2021. Roland Pfälli, Der Bernische Notar 4/2021, S. 253 ff.
Guter Überblick über die Rechtsprechung und die Rechtsanpassungen betreffend ZGB, OR, Grundbuchrecht, Abgaberecht und weitere Gebiete (Lex Koller, Baurecht, VVG), soweit sie für die notarielle und grundbuchliche Praxis von Relevanz sind.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Wettbewerbs- und Kartellrecht
Zum neuen Geodiskriminierungsverbot im UWG. Leander D. Loacker, Lara Blumer, SJZ 2021, S. 1055 ff.
Anfang 2022 trat mit Artikel 3a UWG ein Verbot der Geodiskriminierung im Fernhandel in Kraft. Von Anfang an heftig umstritten und (nicht nur) in Bundesbern reichlich ungeliebt, stellt die lauterkeitsrechtliche Verankerung dieser Massnahme gegen die notorisch-problematischen «Schweiz-Zuschläge» einen durchaus überraschenden Grosserfolg für die Initianten der Fair-Preis-Initiative dar. Die Autoren zeichnen das politische Werden dieser UWG-Bestimmung nach, analysierten deren Anwendungsbereich samt Rechtsfolgen und behandeln eingehend die besonders kritische Frage ihrer Durchsetzung im grenzüberschreitenden Kontext.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Die Pflicht der Privatklägerschaft zur Entschädigung der obsiegenden beschuldigten Person im Rechtsmittelverfahren. Kastriot Lubishtani, Andrés Payer, SJZ 2021, S. 1155 ff.
Die Frage, wann der Privatklägerschaft die Verteidigungskosten der beschuldigten Person im Rechtsmittelverfahren auferlegt werden können, ist in Artikel 432 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 436 Absatz 1 StPO geregelt. Das Bundesgericht hat diesen gesetzlichen Rahmen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ergänzt und die Entschädigungspflicht der Privatklägerschaft erweitert – dies allerdings in einer schwankenden Rechtsprechung. Der vorliegende Beitrag analysiert diese Entwicklung.
Zivilprozessrecht
Sammelklagen in der Schweiz? Ein gut zu überlegender Paradigmenwechsel. Sandrine Rudolf von Rohr und Isabella Wijnberg, Jusletter vom 10.1.2022
Gemäss Botschaft des Bundesrats von Ende 2021 sollen in der Schweiz Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes eingeführt werden. Diesen vom Bundesrat angedachten Paradigmenwechsel nimmt die Autorin zum Anlass, eine niederländische Rechtsanwältin zu interviewen, die in den Niederlanden mit dem kollektiven Rechtsschutz Erfahrungen gesammelt hat.
Europarecht
Wirtschafts- und Sozialrecht
Patient KVI: Herzmassage durch den Europäischen Gesetzgeber? Sridar Paramalingam, Jusletter 17.1.2022
Das knappe Scheitern der Konzernverantwortungsinitiative am Ständemehr am 29. November 2020 ist für den Autor «ein Zeichen, dass das schweizerische Stimmvolk den Verantwortlichkeitsrahmen für international tätige Unternehmen verdichten möchte». Auch das Europäische Parlament hat im März 2021 einen Entschluss mit Empfehlungen an die EU-Kommission zur Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen erlassen. Dieser beinhaltet einen ausformulierten Richtlinienvorschlag. Mittels einer Gegenüberstellung des Inhalts der KVI, des Gegenvorschlags und des Richtlinienvorschlags des EU-Parlaments versucht der Autor zu ermitteln, ob der europäische Gesetzgeber den Forderungen der Konzernverantwortungsinitiative doch noch zum Durchbruch verhelfen könnte. Sein Fazit: Die Ablehnung der KVI dürfte für manche Schweizer Unternehmen wohl eher eine kurze «Verschnaufpause» als das Ende des «KVI-Marathons» sein. Es sei zu erwarten, dass die neue Richtlinie der EU eine ähnliche Wirkung auf das Schweizer Recht entfalten wird, wie es die KVI getan hätte.
Übriges Europarecht
Klimabeschwerden: Zulässigkeitshürden vor dem EGMR. Helen Keller und Réka Piskoty, AJP 11/2021, S. 1367 ff.
Mit den ersten vier Klimabeschwerden sieht sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) damit konfrontiert, seine Rechtsprechung auf die menschenrechtlichen Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. Der Beitrag zeigt auf, wie die prozessualen Hürden bewältigt werden können, um der wohl grössten Herausforderung des 21. Jahrhunderts für die Ausübung der Menschenrechte zu begegnen.
Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte
Die Aufklärung ist vorbei. Marcel Alexander Niggli, Contra Legem 3/2021, S. 4 ff.
Der Autor wirft einen kritischen Blick auf die Gesellschaft, den Staat und seine Gesetze und stellt in allen Bereichen eine bedrohliche Entwicklung fest. Mittels einzelner Beispiele zeigt er auf, wie sich illiberale, freiheitsfeindliche sowie kollektivistische Tendenzen immer mehr breitmachen. Den Grund dafür sieht er in der Unwilligkeit, «Unsicherheit nur schon zu ertragen, in der stetig abnehmenden Fehlertoleranz gegenüber allen, die Risiken eingehen». Sie würden in der Sehnsucht nach einem wohlig-warmen und beschützten Zuhause liegen, wofür das bisschen Mündigkeit noch so gerne hingegeben werde. «Was wir erleben, ist eine freiwillige Rückkehr in die selbstverschuldete Unmündigkeit auf allen Ebenen. Die Freiheit ist uns offenbar nicht mehr viel wert. Oder umgekehrt: Wir sind die Freiheit offenbar nicht wert.»