Verfassungsrecht

Grundrechte

Der Polizeigewahrsam nach Zürcher Recht — Anmer­kungen aus grundrechtlicher Sicht. Patrice Martin Zumsteg, Sui generis 2023, S. 79 ff.

Der Autor eruiert beim Gesetzge­ber die Tendenz, auf Bundes­ebene vermehrt polizeiliche Haftgründe aufgrund von  Sicherheitsbeden­ken einzuführen. Im Rahmen der ­Polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) scheiterte zwar ein Vorstoss im Parlament.

Hingegen steht die Diskussion im Zusammenhang mit mutmasslich gefährlichen Personen nach Beendigung des Strafvollzugs noch an. Laut Autor ist für neue Massnahmen auf Bundesebene bereits die Verfassungsgrundlage fraglich. Er plädiert für eine grundrechtsfreundliche Anwendung.

Übriges Verfassungsrecht

Die CS-Übernahme und der «Fluch des Notrechts». ­Giovanni Biaggini, ZBl 6/2023, S. 309 ff.

«Schon wieder Notrecht», kommentiert der Autor einleitend – um kurz darauf festzuhalten, dass der Bundesrat mit dem CS-­Deal in neue Notrechtsdimensionen vorgestossen sei. So diene die CS-Verordnung auch dem Wohl eines Privatunternehmens, nämlich der UBS.

Ebenfalls sei neu, dass es nicht primär um öffentlich-rechtliche Gesetzesnormen geht, sondern vor allem auch Gesetzesbestimmungen privatrechtlicher Natur verdrängt werden sollen. Daraus resultiere eine «notrechtliche Zurücksetzung beziehungsweise Entrechtung einer Vielzahl Privater», unter anderem der betroffenen Aktionäre. 

Ist die «Schubert-Recht­sprechung» noch aktuell? Zur Frage des Verhältnisses zwischen Völker- und Landesrecht mit besonderem Blick auf BGE 148 II 169. Astrid ­Epiney, AJP 6/2023, S. 699 ff.

Völkerrecht geht Verfassungsrecht vor. Gemäss der sogenannten «Schubert-Rechtsprechung» des Bundesgerichts sind das Bundesgericht und die rechtsanwendenden Behörden jedoch ausnahmsweise an eine völkerrechtswidrige Praxis gebunden, wenn der Gesetzgeber «bewusst» die Nonkonformität mit dem Staatsvertragsrecht in Kauf genommen hat.

Die Autorin kritisiert die Schubert-­Praxis als überholt. Gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung gehe stets das Völkerrecht vor. Der neue BGE 148 II 169 bestätige diese Ansicht im Resultat, was eine positive Tendenz sei.

Verwaltungsrecht

Übriges Verwaltungsrecht

Gebühren(-freiheit) für Zugangs­gesuche gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz des Bundes. Raphaela Cueni, Recht 2/2023, S. 57 ff. 

Die Autorin begrüsst den Wechsel von der Gebührenpflicht zur grundsätzlichen Gebührenfreiheit für Zugangs­gesuche gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz. Sie kritisiert die Ausnahmeregel für besonders aufwendige Gesuche, die in einer Verordnung aber noch konkretisiert werden muss. 

Indépendance structurelle de l’avocat et du médecin: deux paradigmes opposés. Benoît Chappuis und Frédéric Erard, SJZ 2023, S. 575 ff.

Rechtsanwälte und Ärzte unterliegen bestimmten Berufspflichten, die ihnen gemeinsam sind, etwa der Sorgfaltspflicht oder dem Berufsgeheimnis. Im Gegensatz dazu gibt es grosse Unterschiede in Bezug auf die Unabhängigkeit. Während die Anforderungen an Rechtsanwälte insbesondere hinsichtlich der strukturellen Unabhängigkeit hoch sind, verfügen Ärzte über erhebliche Freiheiten.

Die Autoren rekapitulieren die kantonalen und eidgenössischen Rechtsgrundsätze, die diesen Bereich regeln, um die Ursachen und Grundlagen dieser Unterschiede aufzuzeigen.

Sozialversicherungs­recht

Das EGMR-Urteil Beeler und seine Folgen. Basile Cardinaux, SZS 3/2023, S. 115 ff.

Seit Jahrzehnten werden Witwer in der AHV diskriminiert. So verlieren sie etwa ihre Rente, wenn das jüngste Kind das 18. Alters­jahr erreicht – die Witwe nicht. Der EGMR hat jüngst erkannt, dass die Schweiz die Konvention verletzt (Urteil vom 11. Oktober 2022, 78630/12, Beeler c. Schweiz).

Der Beitrag zeigt auf, wie der Gesetzgeber die diskriminierungsfreie Witwerrente aus­gestalten könnte. Lesenswert ist auch die Kommentierung der Folgen des EGMR-Urteils für die Rechtsprechung: Schweizer Gerichte können sich nicht mehr hinter Artikel 190 BV verstecken, wenn es darum geht, sozialversicherungsrechtliche Leistungen zu beurteilen. Aufgrund von Artikel 8 ­in Verbindung mit Artikel 14 EMRK sind sie verpflichtet, konventionswidrige Leistungen zu korrigieren.

Arbeits- und sozialver­sicherungsrechtliche Probleme bei unbezahltem Urlaub. ­ Adrian von Kaenel, ARV 1/2023, S. 1 ff.

Der unbezahlte Urlaub bewirkt in erster Linie eine Suspendierung der arbeitsrechtlichen Hauptpflichten,  der Verrichtung der Arbeit und der Bezahlung des Lohns. Das ist meist unproblematisch. Was aber, wenn während dieser Zeit die Kündigung ausgesprochen wird?

Der Beitrag thematisiert verschiedene Lehrmeinungen. Weiter wird dargestellt, wie es sich mit sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen verhält, die während des unbezahlten Urlaubs entstehen könnten. Der Autor zeigt sozialversicherungsrechtliche Risiken auf und erläutert, welche versichert sind.

Strafrecht

Allgemeiner Teil

Ungleichbehandlung von ­Ausländerinnen und Ausländern im Straf- und Massnahmen­vollzug: Eine juristische Analyse der ­zulässigen Einschränkungen und deren Grenzen – am Beispiel der Wiedereingliederungsbemühungen. Benjamin Brägger, NKrim 1/2023, S. 4 ff. 

Der Autor geht einleitend davon aus, dass die Staatsangehörigkeit ein rechtmässiges und juristisch zulässiges Anknüpfungskriterium für Ungleichbehandlungen darstellt, sofern eine sachliche Rechtfertigung dafür vorliegt. Eine solche gesetzlich legitimierte Ungleichbehandlung habe der Gesetzgeber namentlich mit der Einführung der strafrechtlichen Landesverweisung im Jahr 2016 geschaffen. Diese habe grosse Konsequenzen für den Vollzug von Strafen und Massnahmen der Betroffenen. Zum Beispiel können sie anstelle einer kurzen unbedingten Freiheitsstrafe nicht mehr zu den besonderen Vollzugsformen der Halbgefangenschaft, der gemeinnützigen Arbeit und des Electronic Monitoring zugelassen werden. 

Übriges Strafrecht

Die Strafbarkeit humanitärer Hilfeleistungen. Die Notwen­digkeit einer Reform von Artikel 116 AIG im Lichte der aktuellen Rechtsentwicklung und dem Handlungsspielraum im internationalen Recht. Valeria Fischer, Forum poenale 3/2023, S. 205 ff.

Im Zentrum des Beitrags steht ­Artikel 116 Absatz 1 litera a AIG, der die altruistische Hilfe gegenüber ausländischen Personen bei rechtswidriger Einreise oder rechtswidrigem Aufenthalt unter Strafe stellt. Absatz 2 erlaubt die Qualifizierung bestimmter Fälle als «leicht» und damit eine Privilegierung. Diese stelle im geltenden Recht ein wichtiges Instrument zur differenzierten Beurteilung der Hilfeleistungen dar, so die Autorin.

Allerdings hat das Parlament den Absatz aufgehoben. Im Fazit hält die Autorin eine Entkriminalisierung humanitärer Hilfeleistungen und damit eine Revision von Artikel 116 AIG für angezeigt – nicht zuletzt deshalb, weil mit ­einer Pönalisierung kein Rechtsgut geschützt werde. Das internationale Recht lasse überdies Raum, humanitäre Hilfeleistungen von der Strafbarkeit auszunehmen – dies werde von der EU-Kommission sogar empfohlen. 

Privatrecht

Familienrecht

Kinder sind vermutungsweise lebensprägend. Cordula ­Lötscher, Fampra.ch 1/2023, ­S. 1 ff. 

Die Autorin kritisiert den Bun­des­gerichtsentscheid BGE 148 III 161, wonach eine Kurzehe, aus der ein Kind hervorgegangen ist, nicht mehr als lebensprägend gilt. Das Bundesgericht vermische den Betreuungsunterhalt mit den Grundsätzen der Lebensprägung und des nachehelichen Unterhalts. Dadurch würden berufstätige Mütter benachteiligt. 

Gebührender Unterhalt ­während der Trennung. Andrea Büchler, Fampra.ch 2/2023, S. 337 ff.

Das Bundesgericht entschied, dass die Lebensprägung bei der Festsetzung des gebührenden Unterhalts nach der Trennung keine Rolle spielt (BGE 148 III 358). Der Entscheid stehe im Widerspruch zu den Grundgedanken der Leitentscheide der letzten Jahre und widerspreche wichtigen Entwicklungen in der Gesetzgebung. Sie fordert, dass der eheliche Unterhaltsstandard auf zwei Jahre nach dem Trennungszeitpunkt befristet wird. 

Das Kindes- und Erwachsenenschutzverfahren – ein Plädoyer für eine gesamtschweizerische Vereinheitlichung mit Leitlinien für die inhaltliche Ausgestaltung. Sabine Kofmel Ehrenzeller, Fampra.ch 2/2023, S. 409 ff. 

Seit zehn Jahren ist das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft. Nach wie vor ist das Verfahren im ZGB nur rudimentär geregelt. Wegen unterschiedlicher kantonaler Regeln sieht die Autorin den Rechtsschutz der Betroffenen gefährdet. Sie fordert daher ein Bundesgesetz über das Kindes- und Erwachsenenschutzverfahren, das sich an den familienrechtlichen Verfahren mit Kinderbelangen gemäss ZPO orientieren sollte. 

Erbrecht

Auswirkungen des neuen ­Erb­rechts auf das Familienrecht: Handlungs- und Beratungs­bedarf in güter- und scheidungsrechtlicher Hinsicht. Sabine Herzog, Fampra.ch 1/2023, S. 91 ff.

Anfang Jahr trat das neue Erbrecht in Kraft. Die Autorin erläutert die Auswirkungen auf das Ehegüter- und Scheidungsrecht. 

Sachenrecht

Die individuellen Rechte der Stockwerkeigentümer und die diesbezügliche Rolle des Grundbuchs – ein Überblick.Das Vorkaufsrecht an Grundstücken. Anja von Niederhäusern-Risch, Roland Pfäffli. Der Bernische Notar 2/2023, S. 49 ff. und S. 64 ff.

Überblick über die Möglichkeiten der individuellen Rechtsausübung der Stockwerkeigentümer in Bezug auf ihre Eigentumsrechte sowie Überblick über die wichtig­s­ten Grundsätze des Vorkaufsrechts unter Einbezug der aktuellen Rechtsprechung.

Mietrecht

Mängelrechte des Vermieters bei der Rückgabe einer mangelhaften Mietsache, Nach­erfüllungs- und Schadenersatzansprüche des Vermieters und Schadenberechnung. Markus Vischer, AJP 6/2023, S. 673 ff.

Gibt ein Mieter die Sache bei Vertragsende in mangelhaftem Zustand zurück, hat der Vermieter Anspruch auf Schadenersatz. Dieser ist jedoch begrenzt auf den sogenannten Zeitwert. Der Autor kritisiert diese Praxis. Er fordert  einen Kosten­ersatz für eine Reparatur oder Ersatzanschaffung, soweit dieser nicht übermässig ist.

Übriges Privatrecht

Neues VVG. Ausgewählte ­Auswirkungen auf die ­Krankentaggeldversicherung, ­private Erwerbsunfähigkeitsversicherung und überobligatorische berufliche Vorsorge. Soluna Girón, Natalie Tuor, Have 2/2023, S. 117 ff.

Die Autoren beleuchten, wie sich das Anfang 2022 in Kraft getretene Versicherungsvertragsgesetz auf bestimmte Versicherungsbereiche auswirkt. Sie zeigen zudem Inkonsistenzen – etwa bei hängigen Versicherungsfällen oder den Verjährungsfristen.

Handels- und Wirtschaftsrecht

Wettbewerbs- und Kartellrecht

Verhaltenspflichten bei Finanzdienstleistungen im Aufsichts- und Zivilrecht. Thomas Werlen, Dusan Ivanovic, Luca Bartolomei, SJZ 2023, S. 519 ff.

Die Autoren beleuchten die sich aus dem Zivil- und Aufsichtsrecht ergebenden Verhaltenspflichten für Finanzdienstleister und deren Umsetzung in der Praxis. Dabei werden diese Aspekte vor allem unter dem Gesichtspunkt des Kundenschutzes analysiert. Im Ergebnis zeigt sich, dass trotz sub­stanzieller materiellrechtlicher Verhaltenspflichten dem Ziel des Kundenschutzes nur bedingt gedient ist.

Verfahrens- und Vollstreckungsrecht

Zivilprozessrecht

Die (übersteigerte) ­Substan­ziierungspflicht – der Albtraum jedes Klägeranwalts. Silvio Riesen, Have 2/2023, S. 165 ff.

Anhand eines Haftpflichtprozesses in einem Personenschadenfall erklärt der Autor, welche  Substanziierungsanforderungen klä­geri­sche Anwälte erfüllen müssen – und er kritisiert zu strenge Gerichte. Im Personenschadenfall seien typischerweise die Haftung, die medizinische Beeinträchtigung, die Kausalität sowie der erlittene Schaden strittig. Die Grundlage für die prozessualen Behauptungen würden meist diverse Unterlagen aus vorgelagerten polizeilichen Ermittlungs- oder Strafverfahren sowie aus den Sozialversicherungsverfahren bilden. 

Das Verweigerungsrecht im ­Zusammenhang mit der ­Tätigkeit eines unternehmens­internen Rechtsdienstes im ­Zivilprozess (Art. 167a nZPO). Was lange währt, wird endlich gut? Roman Huber. Stefanie Rigaux, SJZ 11/2023, S. 603 ff.

Der Schweizer Zivilprozess kennt bisher ein Berufsgeheimnis und Mitwirkungsverweigerungsrecht für Anwälte, die im Anwaltsregister eingetragen sind. Firmenjuristen sind hingegen zur Mitwirkung verpflichtet.

Das Parlament führte in der Frühjahrssession einen neuen Artikel 167a ZPO ein. Gemäss diesem können eine Prozess­partei und die Angestellten ihres firmeninternen Rechtsdiensts in Zivilprozessen die Mitwirkung und Herausgabe von Unterlagen verweigern.

Voraussetzung dafür ist, dass der Rechtsdienst von einer Person mit Anwaltspatent geleitet wird. Zudem muss die Tätigkeit des Rechtsdiensts als berufsspezifisch gelten. Die Autoren beleuchten die Entstehungsgeschichte des neuen Mitwirkungsverweigerungsrechts für Firmenjuristen und offene ­Anwendungsfragen – insbesondere, was als berufsspezifische Tä­tigkeit zu gelten hat. Auch die Rechtsfolgen einer unberechtigten Aussageverweigerung oder ­Aktenherausgabe sind Thema des Beitrags.

Die familienrechtlichen ­Ver­fahrensbestimmungen und das Rechtsmittelverfahren nach neuer ZPO. Claudia M. Mordasini, In dubio 2/2023, S. 78 ff.

Die ZPO-Revision bringt einige Änderungen für das Familienrecht. So werden Scheidungen mit strittigen Fragen neu nicht mehr im ordentlichen, sondern vereinfachten Verfahren durchgeführt. Das Verfahren soll dadurch laienfreundlicher werden.

Ungeklärt sind noch Fragen, wann welche Schritte mündlich durchzuführen sind. Auch auf alle Klagen von Kindern gegen ihre Eltern ist neu das vereinfachte Verfahren anwendbar.

Spürbare Änderungen bringen auch die Rechtsmittelverfahren mit sich. Die Autorin beurteilt die Revision grösstenteils als gelungen, da die Verfahren entschlackt werden und den Anwälten mit einer längeren Berufungsfrist bei Eheschutz- und vorsorglichen Massnahmen mehr Zeit gewährt wird.