Verfassungsrecht

Klima vor Gericht.

Helen Keller, Unser Recht, 14.11. 2023

Die Autorin thematisiert die ­Tendenz, dass sich immer mehr Menschen vor nationalen oder interna­tionalen Gremien auf ihre Grund- und Menschenrechte berufen, um den Klimawandel zu­bekämpfen, sowie die damit ­verbundene Diskussion um die ­«demokratische Legitimation» von Gerichten. Im Beitrag werden die hängigen Klimafälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)  und damit verbundene Zulässigkeitsfragen behandelt, und es wird ein Blick in die Zukunft gewagt.

Fazit: «Das Verfahren vor dem EGMR ist nicht auf ein globales gesellschaftliches Problem ausgerichtet, selbst wenn es ­einen menschenrechtlichen Kern aufweist.» Wer zu grosse Hoffnung in den EGMR setze, könnte bei den ersten Klimaurteilen enttäuscht sein. Und die Hoffnung, der EGMR könne mit einem Urteil für globale Klimagerechtigkeit sorgen, dürfte überhöht sein.

Verwaltungsrecht

Ausländer- und Asylrecht

Der Entzug des Bürgerrechts. Eine Einordnung der Schweizer Praxis.

Barbara von Rütte, Sui generis 2023, S. 95 ff.

Die Autorin analysiert die beiden ersten Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundes­gerichts zur neu geschaffenen M­öglichkeit des Entzugs des Schweizer Bürgerrechts. Sie ordnet diesen kritisch ein und fordert die Ansetzung einer höheren Schwelle für den Entzug.

Baurecht

Mit Fake-Zahlen den Rechtsschutz aushebeln? Baueinsprachen sind oft ­erfolgreich.

Martin Killias, ZBl 11/2023, S. 569 f.

Aufhänger des Beitrags ist ein Zitat des Swiss-Life-CEOs, wonach «90 Prozent der Baueinsprachen missbräuchlich» seien. Die der Aussage zugrunde liegende Studie basiert auf 1762 Verfahren, die das Zürcher Baurekursgericht zwischen 2011 und 2012 erledigte. Martin Killias führt demgegenüber die Zahl der im Jahr 2011 abgeschriebenen Verfahren (52 Prozent) ins Feld – Abschreibungen wegen Rückzugs oder Gegenstandslosigkeit.

Er kommt zum Schluss, dass Rechtsmittel im Baurecht oft erfolgreich seien und  sich die Politik mit «abwegigen Interpretationen fragwürdiger Zah­len mobilisieren lasse». Eine Ständerätin forderte nur zwei Tage nach dem CEO-Zitat den Bund auf zu prüfen, ob für Einsprachen ein Kosten­risiko eingeführt werden sollte. Für den Autor wäre ein Abbau des Rechtsschutzes kein Weg, «um Qualität und Akzeptanz von Neubauten zu erhöhen».

Steuerrecht

Schiedsgerichtsbarkeit in Steuersachen – Praktikable Alternative für die Schweiz?

Olivier Margraf, ASA 3/2023, S. 101 – 105.

In Portugal haben Steuerpflichtige die Wahl, einen Steuerstreit vor der staatlichen Gerichts­barkeit oder vor einem Schiedsgericht auszutragen. Der Autor schlägt für die Schweiz die Einführung eines Schiedsverfahrens für strittige Fragen im interkantonalen Doppelbesteuerungsrecht vor. Das Verfahren könnte als «Baseball-Arbitration» ausgestaltet werden, indem jede Partei dem Schiedsgericht einen Lösungsvorschlag vorlegt. Darauf legt das Gericht seinem Entscheid einen der beiden Vorschläge zugrunde.

Übriges Verwaltungsrecht

Cloud – alles Risiko? Recht­li­che Vorgaben für die Ausla­ge­rung von Datenbearbeitun­gen in die Cloud.

Dominika Blon­ski, SJZ 20/2023, S. 991 ff.    

Werden Datenbearbeitungen durch öffentliche Organe in die Cloud ausgelagert, ist zunächst die Rechtsfrage zu beantworten, ob überhaupt ausgelagert werden darf. Erst im zweiten Schritt werden anhand einer Risikoanalyse die  angemessenen organisatorisch-technischen Massnahmen festgelegt und die Frage geklärt, wie ausgelagert werden kann.

Die Regulierung der anwalt­lichen Rechtsberatung ­ausserhalb des «Anwalts­monopols».

Nicolas Diebold, AJP 11/2023, S. 1247 ff.

Der Autor publiziert mit seinem Beitrag sein Gutachten, das er im Auftrag der  Rechtsberatungsfirma Ylex AG erstellt hat. Das schweizerische Anwaltsgesetz verpflichtet Anwälte, die Klienten in Zivil- und Strafsachen vor Behörden vertreten, sich im Berufsregister des jeweiligen Kantons einzutragen und sich an die Berufsregeln zu halten. Das Anwaltsgesetz des Kantons Zürich verlangt auch von Anwälten, die Klienten nur beraten oder aussergerichtlich vertreten, sich an die Regeln zu halten. Zudem müssten sie ihre Tätigkeit der Aufsichtskommission melden.

Die Ylex AG ist eine Tochterfirma der Coop Rechtsschutz AG. Sie erbringt Rechtsberatungsdienstleistungen ausserhalb des Monopolbereichs. Letztes Jahr warb sie mit Werbespots für sich. Die Zürcher Anwaltskommission leitete ein Verfahren wegen Verletzung der Berufsregeln ein, vor allem wegen der nicht vorgenommen Meldung der Ylex-Anwälte bei der Aufsichtsbehörde und wegen unzulässiger Werbung. Für den Autor ist dies ein schwerwiegender Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit.

Der Elefant im Raum: Zur ­kantonalrechtlichen Ausdehnung der Berufsregeln auf die ­beratenden Anwältinnen und An­wälte im Kanton Zürich, ­Besprechung des Urteils der Zürcher Aufsichtskommission KG220058 vom 6.7.2023.

Lorenz Droese, Franco Strub, AJP 11/2023, S. 1320 ff.

Die Zürcher Aufsichtsbehörde über die Anwälte stellte ein Disziplinarverfahren gegen eine Anwältin ein, die für eine Beratungsfirma arbeitet, die Kunden anwaltlich berät, jedoch nicht vertritt. Begründung: Die Anwältin arbeite nicht als unabhängige Anwältin im Sinne des Anwaltsgesetzes. Die Autoren kritisieren die Begründung des Entscheids. Die Aufsichts­kommission habe es verpasst, die Grundsatzfrage zu klären, ob die kantonalen Regeln verfassungskonform sind oder nicht.

Sozial­versicherungsrecht

AHV, IV, EL und ALV

Das Phänomen Lohnträgerschaft: Wann liegt Schein­unselbständigkeit vor?

Kurt Pärli und Joël Kämpf, Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge 5/2023, S. 229 ff.

Es kommt oft vor, dass ein Arbeitgeber verlangt, dass Angestellte  sich als selbständigerwerbend ausgeben und selbst mit den Sozialversicherungen abrechnen. Immer öfter tritt allerdings auch die umgekehrte Konstellation auf: Selb­stän­dig­erwerbende schlüpfen in die Rolle von Angestellten. Als Arbeitgeberin fungiert eine Drittfirma. Diese rechnet bei den Sozialversicherungen ab, wobei sie das Hono­rar als Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit deklariert. So ist der Selbständig­erwerbende vor Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit geschützt. Der Beitrag zeigt Möglichkei-
ten auf, wie über Drittfirmen abgerechnet werden kann, wann dies zulässig ist und wann nicht.

Strafrecht

Tierschutzdelikte im Kontext religiöser Praktiken in der Schweiz.

Vanessa Gerritsen, SKP Info 2/2023, S. 20 ff.

Bräuche können zu Konflikten mit dem Tierschutzrecht führen, etwa mit Artikel 26 des Tierschutzgesetzes (Tierquälerei). Die Autorin nennt als Beispiele das rituelle, aber auch das unfachmännische Schlachten (zum Beispiel vor Feiertagen) oder das Unterlassen von Kastration und Sterilisation. Um der Problematik zu begegnen, spricht sie sich für Prävention, aber auch eine konsequentere Strafverfolgung sowie eine solide Schulung der Strafverfolgungsbehörden aus.

Privatrecht

Familienrecht

Wanderung im Gebirge – ­Zwischenhalt mit Routen­planung.

Peter Dörflinger, ZKE 2/2023, S. 91-112

Der Titel des Beitrags ist eine Metapher. Inhaltlich geht es um das revidierte Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, das vor elf Jahren in Kraft trat. Peter Dörflinger beschreibt einige «Baustellen», zum Beispiel, dass in der Praxis die Vertretungsbeistandschaft zur Einkommens- und Vermögensverwaltung praktisch ausnahmslos auf das ganze Einkommen und Vermögen statt nur auf Teile davon angeordnet wird. Im zweiten Teil fordert der Autor Verbesserungen in diversen Bereichen, etwa die Einführung eines bundesrechtlichen Verfahrensgesetzes.

Prosoziale Regelabweichungen als Ursache für hohe Massnahmenzahlen im Kindesschutz.

Matthias Kuhn, ZKE 2/2023, S. 134 – 154.

Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, dass die Behörden bei einer Kindesschutzmassnahme zuerst eine einvernehmliche Lösung mit den Eltern suchen müssen, bevor sie eine Massnahme anordnen. Im Kanton Bern werden deutlich mehr Kindesschutzmassnahmen angeordnet als in anderen Kantonen. Bern liegt 26 Prozent über dem Durchschnitt. Gründe für die Miss­achtung des Subsidiaritätsprinzips sieht der Autor in der ­fehlenden Spezialisierung der Sozialdienste und der tieferen Entschädigung für die Abklärung der Kindswohlgefährdung bei ­einer einvernehmlichen Lösung.

Sachenrecht

Grundbuchbeschwerde und anwendbares Verfahrensrecht.

Nathalie Ducrey, Der Bernische Notar 23/2023, S. 95 ff.

Der Beitrag befasst sich mit der Frage des Verfahrensrechts, das im Rahmen der Grundbuchbeschwerde auf kantonaler Ebene zur Anwendung gelangt.

Arbeitsrecht

Das Arbeits(un)fähigkeits­zeugnis.

Laura Kunz und ­Pia Meier, Jusletter.ch vom 13.11.2023

Die Autorinnen setzen sich mit den Anforderungen an Arbeitsunfähigkeitszeugnisse im Kontext des Arbeits-, Privatversicherungs- und Sozialversicherungsrechts auseinander. Neben den rechtlichen Grundlagen werden Kontroversen aus der Praxis wie arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit thematisiert. Weiter wird die aktuelle Entwicklung in Rechtsprechung und Gesetzgebung bezüglich des Beweiswerts beleuchtet. Haben Arbeitnehmende in Grossraumbüros und bei  Desk Sharing spezielle ­individuelle Rechte?

Isabelle Wild­haber, Stefanie Debrunner-Epprecht, Sui generis 2023, S. 189 ff.

Die beiden Autorinnen gehen der Frage nach, welche besonderen Massnahmen Betriebe vorkehren sollten, um die Persönlichkeit der Angestellten zu schützen. Sie sehen den Betrieb in der Pflicht, bauliche und organisatorische Massnahmen zum Schutz der Gesundheit zu treffen.

Übriges Vertragsrecht

Die zusätzliche Vergütung im Werkvertrag bei ausser­ordentlichen Umständen – ein Diskussionsbeitrag.

Hans Rudolf Spiess, Baurecht 5/2023, S. 258 ff.    

Artikel 373 Absatz 2 OR und der mit dieser Gesetzesbestimmung korrespondierende Artikel 59 der SIA-Norm 118 haben an Bedeutung zugenommen. Nicht so sehr in der Gerichtspraxis, aber doch in der Diskussion darüber, wie das Ende alter Gewissheiten werkvertraglich aufzufangen ist. Handelt es sich um aus­serordentliche Umstände, und ist das entstandene Ungleichgewicht ausreichend erheblich, um eine Mehrvergütung oder die Beendigung des Werkvertrags zu rechtfertigen? Der Autor wendet sich gegen das bisherige, sehr restriktive Verständnis und plädiert für mehr Offenheit.

Handels- und Wirtschaftsrecht

Die neue Arbeitswelt und der Ruf nach mehr individueller Haftung als Gründe für einen Wandel im Verständnis der Compliance von Banken.

Othmar Strasser, SJZ 21/2023, S. 1035 ff.    

Der Autor geht der Frage nach, wie sich die neue Arbeitswelt mit agilen Methoden und der Ruf nach Stärkung der individuellen Verantwortlichkeit für das Management von Banken auf die Organisation und die Com­pliance-­Aufga­ben ­einer Bank auswirken. Er kommt zum Schluss, künftige Herausforderungen seien nur mit einem proaktiven Grundverständnis von Compliance zu meistern.

Verfahrens- und Vollstreckungsrecht

Strafprozessrecht

Das Ende des Haftbeschwerde­rechts der Staatsanwaltschaft und das prozessuale Versagen des Bundesgerichts – zugleich Besprechung der Bundesgerichtsentscheide 1B_614/2022 und 1B_628/2022 vom 10.1.2023.

Niklaus Ruckstuhl, Forum poenale 5/2023, S. 374 ff.

In der revidierten StPO ist festgehalten, dass nur die verhaftete Person gegen Haftrichterentscheide des Zwangsmassnahmengerichts Beschwerde führen kann. Die Beschwerdebefugnis der Staatsanwaltschaft ist explizit ausgeschlossen. Das Bundesgericht folgte der Auffassung des Parlaments und gab das «qua Richterrecht eingeführte Beschwerderecht» auf. Es hob zwei Entscheide des aargauischen Obergerichts auf, das auf Haftbeschwerden der Staatsanwaltschaft eingetreten war.

Weiter wies das Bundesgericht die Sache zur neuen Beurteilung an das zuständige Gericht zurück, obwohl dieses sich innert Monatsfrist bereits zweimal für die Beendigung der Haft ausgesprochen hat. Für den Autor des Beitrages ist das unverständlich. Ebenso, dass das Bundesgericht das Begehren um Feststellung der Unrechtmässigkeit der Haft trotz Gutheissung der Beschwerde nicht behandelt.

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

Immaterialgüterrechte als ­unterschätzte Arrestobjeke.

Philipp Groz, Adrienne Hennemann, ZZZ 63/2023, S. 268 – 275

In den Niederlanden liess ein Gläubiger zur Sicherung der Vollstreckung einer Forderung gegen den russischen Staat verschiedene Vodka-Marken verarrestieren. In der Schweiz kommt die Verarrestierung von Immaterialgüterrechten selten vor. Die Autoren erläutern die Voraussetzungen der Arrestlegung von Patenten, Marken und Designs und das Verfahren bis zur Arresteinsprache.

Unentgeltliche Rechtspflege im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht.

Linda Probst, BlSchK 4/2023, S. 177 – 187.

Seit dem BGE 118 III 27 ist klar, dass die unentgeltliche Rechtspflege auch in einem Betreibungsverfahren beansprucht werden kann. Die Autorin erläutert die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege und deren Umfang sowie die Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes.

Europarecht

Der Entwurf einer neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie aus schweizerischer Sicht.

Bernhard A. Koch, Pascal Pichonnaz, SJZ 12/2023, S. 627 ff.

Die EU-Kommission stellte im September 2022 den Vorschlag ­einer neuen Produkthaftungsrichtlinie vor. Dieser soll die ­bisherige Richtlinie von 1985 moder­ni­sie­ren und vor allem an die Erfordernisse einer digitalen Welt anpassen. Nach einer Vorstellung der wesentlichen geplanten Änderungen gehen die Autoren des Beitrags der Frage nach, ob und inwieweit auch in der Schweiz das Produktehaftpflichtgesetz angepasst werden muss, damit dieses Gesetz den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht werden kann. In vielerlei Hinsicht wird dies wohl nötig sein, um ein angemessenes Haftungsregime für digitale Produkte gewährleisten zu können.