Die plädoyer-Leserschaft hat im Dezember wiederum Vorschläge für die Kürung des «Fehlurteils 2010» eingereicht. Als Jury engagierten sich Regina Aebi-Müller, Professorin für Privatrecht und Privatrechtsvergleichung in Luzern, Brigitte Tag, Professorin für Straf-, Strafprozess- und Medizinrecht in Zürich, und Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht in Zürich.
Ergebnis gut, Begründung stossend
Die drei Professoren waren sich bald einig: Ein im Ergebnis haarsträubendes Urteil gab es 2010 nicht. Harsch kritisierten sie allerdings bei einzelnen Vorschlägen die Begründungen. Als besonders stossend stach die Begründung des Bundesgerichts im Urteil über die Zwangsernährung von Bernard Rappaz hervor, weshalb der Entscheid 6B_599/2010 vom 26. August 2010 zum «Fehlurteil 2010» gekürt wurde mit dem ausdrücklichen Vermerk: Ergebnis gut, Begründung schlecht.
Der Walliser Hanfbauer wurde wegen Betäubungsmittel- und anderer Delikte zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Hungerstreik führte vorerst zu einer Unterbrechung des Strafvollzugs, einen zweiten Unterbruch lehnten die Walliser Behörden jedoch ab. Das Kantonsgericht und nun auch das Bundesgericht bestätigten die Verweigerung des Vollzugsunterbruchs.
Das Bundesgericht anerkennt in seiner Begründung, dass bei Lebensgefahr der Strafvollzug unterbrochen werden darf, und prüft, ob eine Zwangsernährung einem solchen Unterbruch vorgehen könne. Der Hungerstreik sei Teil der Meinungsäusserungsfreiheit, für deren Einschränkung es eine gesetzliche Grundlage brauche.
Dazu greift das oberste Gericht auf die Polizeigeneralklausel zurück: Staatliche Behörden könnten eine Zwangsernährung verfügen, wenn dies die einzige Möglichkeit sei, auf verhältnismässige Weise eine schwere, irreversible Schädigung der Gesundheit einer hungerstreikenden Person abzuwenden. Weil also eine Zwangsernährung möglich sei, sei die Verweigerung des Vollzugsunterbruchs rechtens.
Problematischer Bezug zur Zwangsernährung
Die Jury kritisiert, dass das Bundesgericht eine Zwangsernährung mittels Rückgriff auf die Polizeigeneralklausel erlaubt. «Auch im Strafvollzug haben urteilsfähige Menschen ein Selbstbestimmungsrecht», sagt Brigitte Tag. «Selbst wenn das in letzter Konsequenz bedeutet, dass er oder sie sich für den Tod entscheidet. Es geht nicht an, diese uralte Generalklausel hervorzuklauben, um eine Zwangsernährung zu rechtfertigen.» Dass zudem das Standesrecht der Ärzte, das sich für die Neutralität der Ärzte beim Hungerstreik ausspreche, im Ergebnis für unbeachtlich erklärt wird, sei schon sehr speziell. Thomas Gächter doppelt nach: «Wenn ein klar und unbedingt geäusserter Wille nicht mehr respektiert wird, sobald jemand in einem Hungerstreik seine Urteilsfähigkeit einbüsst, dann ist dieser Wille gar nichts mehr wert.» Auch in einem Sonderstatusverhältnis wie dem Strafvollzug habe man nicht die Pflicht, jemanden gegen seinen Willen am Leben zu halten.
Regina Aebi betont, die Jury sei mit dem Ergebnis - kein Unterbruch des Vollzugs - einverstanden. «Die Begründung hätte sich aber nicht auf die Möglichkeit einer Zwangsernährung stützen sollen», sagt Aebi, «sie hätte Rappaz einfach das Recht zugestehen müssen, sterben zu dürfen.» stoc
Weitere Urteile mit stossender Begründung:
Rückführung bei Kindsentführung
Urteil des EGMR, N°41615/07 «Neulinger & Shuruk c. Schweiz» vom 6. Juli 2010
Strassburg argumentiert mit der langen Zeitdauer gegen die Rückführung eines Kindes aus der Schweiz nach Israel, wo der besuchsberechtigte zweite Elternteil lebt. Dazu die Jury: Die Begründung hebelt die Haager Konvention über die internationale Kindsentführung aus. Wer ein Kind möglichst lang im Land behält, gewinnt so vor Gericht.
Schwere eines Verkehrsdelikts
Urteil 1C_224/2010 vom 6. Oktober 2010
Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts stuft eine Tempoüberschreitung als grobe Verkehrs-
regelverletzung ein, obwohl die strafrechtliche Abteilung zuvor auf einfache Verkehrsregelverletzung erkannt hat. Dazu die Jury: Die mangelnde Abstimmung der Abteilungen ist stossend.