Es ist ein permanentes Wunder, dass die Justiz im Alltag überhaupt noch funktioniert», sagt Christophe Régnard, der Vorsitzende des französischen Richterverbands Union Syndicale des Magistrats (USM) über den Mangel an Personal und Krediten. Oft müsse man sich auf die wichtigsten und unvermeidlichen Ausgaben konzentrieren. «Den heruntergekommenen Gerichtssaal renovieren oder die jetzigen Büro-stühle ersetzen, die uns Rückenschmerzen verursachen, das wäre ein Luxus», seufzt ein Gerichtspräsident aus der Provinz.
Er versichert, solche Verhältnisse seien in den ländlichen Regionen fern der Hauptstadt keine Ausnahme. Und ganz so neu ist das auch nicht. In einer europäischen Vergleichsstudie von 2008 lag Frankreich bei den Pro-Kopf-Ausgaben für die Justiz (und einem Anteil von 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) unter 43 Nationen auf dem 35. Rang.
Justizreform mit dem Rotstift
Wie ihm diese arme Justiz mit ihren ständigen Geldnöten peinlich ist, schildert René Panatonni, der Präsident des grossen Berufungsgerichts von Aix-en-Provence. Da er zu drakonischen Prioritäten bei den Ausgaben gezwungen ist, werden die Zahlungsfristen für andere Aufwendungen wie ärztliche und psychiatrische Gutachten, Übersetzungen oder DNA-Analysen immer länger. Im letzten Jahr haben sich an seinem Gericht offene Rechnungen im Betrag von 300 000 Euro angehäuft. Die 25 000 Euro, die sein Gericht den Banken wegen dieser Zahlungsschwierigkeiten bezahlen musste, entsprächen drei Vierteln des Lohns einer Mitarbeiterin. Diese konnte er nun nicht anstellen, klagt Panatonni.
Verantwortlich für diese oft prekären Zustände sind laut Christophe Régnard von der USM nicht nur die ungenügenden Kredite, die im Staatshaushalt der Justiz insgesamt gewährt werden. Dazu beigetragen hat auch die umfassende Reorganisation der «Carte judiciaire» von 2007 unter der damaligen Ministerin Rachida Dati. Sie musste nicht zuletzt wegen anhaltender Proteste der Betroffenen im Gerichtswesen zurücktreten. Das Sanierungswerk wurde von ihren beiden Nachfolgern Michèle Alliot-Marie und jetzt Michel Mercier zwar etwas entschärft, was die Zusammenlegung von Gerichtsorten angeht. Doch die Reform wurde fortgesetzt.
Ursprünglich sollte es in jeder der 22 Regionen auf dem europäischen Festland Frankreichs nur noch je ein Berufungsgericht und pro Departement nur noch ein erstinstanzliches Zivilgericht (Tribunal de grande instance) geben. Auch über 50 als überzählig eingestufte Handelsgerichte sollten dem Rotstift zum Opfer fallen. Was auf dem Papier logisch aussah, trug indes der historisch gewachsenen Realität vor Ort und dem Wunsch der Bürger nach einer möglichst zugänglichen Rechtsprechung im Alltag kaum Rechnung.
Anwälte protestieren mit Hungerstreik
So sollte beispielsweise das Gericht von Moulins im Departement Allier am Rande des Zentralmassivs mit dem rund 50 Kilometer entfernten Gerichtsort von Cusset bei Vichy zusammengelegt werden. Gegen diese ihrer Meinung nach völlig willkürliche Anordnung protestierten - wie in mehreren ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls - mehrere Anwälte mit einem Hungerstreik. Wegen der ungenügenden öffentlichen Transportmittel und der grossen Distanz für die Bürger sei diese Fusion unzumutbar, machten sie geltend. Natürlich mussten sie auch um die Zukunft ihrer eigenen Advokaturen in Moulins fürchten.
Am Schluss hat jedoch das oberste Verwaltungsgericht bei der Prüfung der zahlreichen (und meist abgewiesenen) Rechtsmittel für die Beibehaltung des Gerichtsorts Moulins entschieden. Dies ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass sich dort auch eine Strafvollzugsanstalt mit einem Sicherheitstrakt für besonders gefährliche Häftlinge befindet. Die Nähe des Gerichts und eines Haftrichters erschien daher von Vorteil. Das Justizministerium schloss sich diesem Urteil schliesslich an.
Im März 2010 demonstrierten die französischen Richter und Gerichtsbeamten in ihren Roben auf der Strasse gegen die simplifizierte «Carte judiciaire». Ende September begannen sie einen Bummelstreik. Dem Aufruf von siebzehn Berufsverbänden und Gewerkschaften entsprechend sollen die Richter laut Vorschrift maximal sechs Stunden ihre Arbeit einstellen. Oder aber sie sollen Gerichtstermine ablehnen, wenn ein Gerichtsschreiber fehlt. Denn dies sei immer häufiger und vor allem in Familienangelegenheiten, bei Jugendrichtern oder Entscheidungen über den Strafvollzug der Fall. Ein strikter Dienst nach Vorschrift soll der Bevölkerung und den politischen Behörden verdeutlichen, wie dramatisch die Lage durch den zu engen finanziellen Spielraum geworden ist. Unter diesem Druck hat das Ministerium Zusatzkredite von 50 Millionen Euro für die schlimmsten Notstände bewilligt.
Staatsführung mischt sich in die Justiz ein
Von einem tiefer sitzenden «Ma-laise» und wachsenden Spannungen mit der politischen Macht spricht Clarisse Taron von der Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature (SM). Es gehe dabei nicht nur um eine finanziell stiefmütterlich behandelte Justiz, sondern auch um die «unerträglichen Einmischungen» der Staatsführung, die damit die in Frankreich von Montesquieu «erfundene» demokratische Gewaltentrennung in Frage stellt. Diese figuriert auch in der Menschenrechtserklärung von 1789 als Artikel 16: «Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.»
Staatspräsident Nicolas Sarkozy gab oft ein schlechtes Beispiel ab. So kritisierte er mehrfach öffentlich richterliche Entscheide. Oder er machte sie gar für die Straffälligkeit von Wiederholungstätern verantwortlich. So rechtfertigte er Pläne für eine Verschärfung des Strafrechts und eine Justizreform zulasten der Kompetenz der Richter oder der Rechte der Verteidiger. Es war in diesem Kontext keine Überraschung, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 23. November 2010 aufgrund einer Klage der Anwältin France Moulin die französische Verhörhaft (Garde à vue) und generell die mangelnde Unabhängigkeit von der politischen Exekutivgewalt in Frankreich bemängelte. Wie schon in einem Urteil von 2008 kritisierte der EGMR die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft vom Justizministerium.
In den Gesetzen ist die Einflussnahme der politischen Exekutive eigentlich klar definiert und begrenzt. Doch in der Realität - vor allem in spektakulären oder brisanten Affären - erteilt das Justizministerium ungeniert per Telefon über die Generalstaatsanwaltschaft (Parquet) Anweisungen. Dies schildert in der von der Gewerkschaft SM herausgegebenen Zeitschrift «J'essaime» in allen schockierenden Details ein Magistrat der «Direction des affaires criminelles et des grâces» (DACG). Über diese Schaltstelle im Ministerium lässt das Kabinett des Ministers sich über gewisse Verfahren oder Ermittlungen informieren und gibt den Staatsanwaltschaften Anweisungen. Das betrifft auch die Entscheidung, ob in bestimmten Fällen, die von der Staatsführung mit grösstem Interesse verfolgt werden, gegen ein Urteil Berufung eingelegt wird oder nicht.
Direkter Draht der Minister zur Justiz
Manchmal aber gehe der Draht direkt zum Minister: «Eines Tages hat uns eine Generalstaatsanwaltschaft informiert, dass bei einem Politiker der Regierungspartei eine Hausdurchsuchung vorgesehen war. Der zuständige Büroleiter der DACG war so mutig, dass er das Kabinett des Ministers erst nach der Durchsuchung orientieren wollte. Den betroffenen Generalstaatsanwalt aber hatten vorher bereits die Mitarbeiter des Ministers in Kenntnis gesetzt!», erzählt dieser Magistrat, der anonym bleiben will. Er kritisiert den mangelnden Mut vieler Vertreter der Staatsanwaltschaft in der Provinz, die - um nicht negativ aufzufallen - gleich im Voraus um Rat oder Order bitten. Allen ist bewusst, dass die Nominierung, Beförderung oder Versetzung zur Machtbefugnis des Staatspräsidenten gehört, der an der Spitze der Exekutive steht.
Wie ein Sandkorn in einem geölten Getriebe wirkt jedoch selbst in politisch spektakulären Voruntersuchungen der unabhängig agierende französische Untersuchungsrichter. Er hat bei seinen Ermittlungen nicht nur weitgehende Kompetenzen, sondern kann auch gegen den expliziten Wunsch der Staatsanwaltschaft Anklage erheben oder ein Verfahren einstellen. Im Unterschied zum Staatsanwalt bezieht er keine Anweisungen aus dem Ministerium. Diese Handlungsfreiheit des «Petit juge», wie der Untersuchungsrichter im Volksmund heisst, setzt ihn insbesondere bei Fehlentscheidungen der öffentlichen Kritik aus.
Sarkozy gegen Untersuchungsrichter
Ausgehend von einem speziell krassen Justizirrtum im Pädophilie-Prozess von Outreau, bei dem aufgrund einer einseitig geführten Strafuntersuchung 13 Personen zu Unrecht angeklagt und erstinstanzlich verurteilt worden waren (plädoyer 3/06), verlangte Präsident Sarkozy im Kernpunkt seiner im Januar angekündigten Justizreform kurzerhand die Abschaffung dieser von Napoleon eingeführten Institution des Untersuchungsrichters. Die gerichtliche Voruntersuchung und Anklage sollte inskünftig allein in der Befugnis der Staatsanwaltschaft liegen.
Damit versuche die Staatsführung, sich die Justiz vollends gefügig zu machen, protestierten Richter, Anwälte und Bürgerrechtsorganisationen. «Die Regierung will mit den unabhängigen Untersuchungsrichtern abrechnen, die es seit zwanzig Jahren wagen, Politiker und Wirtschaftskapitäne vor Gericht zu stellen», kommentierte die Gewerkschaft SM.
Gerade in der Bettencourt-Affäre zeigt sich, dass in Frankreich nur ein Untersuchungsricher eine unabhängige Ermittlung garantieren kann: Der ehemalige Minister Eric Woerth wird verdächtigt, Bargeldspenden von der Milliardärin Liliane Bettencourt für die Regierungspartei UMP oder den Präsidentschaftskandidaten Sarkozy entgegengenommen und seinen Einfluss zur Anstellung seiner Gattin in der Vermögensverwaltung der L'Oréal-Erbin missbraucht zu haben. Doch dem Staatsanwalt Philippe Courroye von Nanterre fehlt nicht nur die Unabhängigkeit des Untersuchungsrichters, sondern er ist zudem mit dem Staatschef befreundet.
Auch die gemässigtere USM hat wegen «grundlegender Differenzen» die Justizreform abgelehnt. Justizminister Mercier hat angekündigt, dass Sarkozys Wunsch nach der Abschaffung des Untersuchungsrichters auf unbestimmte Zeit vertagt werde. Er möchte so das Verhältnis zu den aufgebrachten Magistraten glätten. Diese wollen indes mehr als Gesten des guten Willens und setzen vorerst ihren Bummelstreik gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen an mehreren Gerichten fort.