Verfahrenstrennung war zulässig
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hat in einem aufwendigen und komplexen Wirtschaftsstraffall mit umfangreichen Akten (ca. 100 Ordner) zu Recht das Verfahren gegen einen von vier Angeklagten abgetrennt, nachdem dieser nicht zur Hauptverhandlung erschienen war und stattdessen am New Yorker Marathon teilgenommen hatte. Für das Bundesgericht war wesentlich, dass sich das Strafgericht, die anderen Angeklagten, alle Verteidiger, der Staatsanwalt und mehrere Zivilkläger auf die Hauptverhandlung vorbereitet und sich in den Fall eingearbeitet hatten. Eine Neuansetzung der Hauptverhandlung für alle Angeklagten war deshalb nicht angebracht und eine Abtrennung aus verfahrens- und arbeitsökonomischen Gründen sachlich gerechtfertigt.
Bundesgericht 1B_150/2017 vom 4.10.2017
Wohn- und Heimatgemeinde sind klageberechtigt
Kurz nach ihrer Scheidung gebar eine kosovarische Staatsangehörige ein Kind, welches von ihrem Schweizer Ex-Ehemann anerkannt wurde. Das Migrationsamt wollte die Kosovarin aus der Schweiz wegweisen, da es die Ehe mit dem Schweizer als Scheinehe einstufte. Da sie jedoch Mutter eines Kindes war, das zufolge Anerkennung das Schweizer Bürgerrecht hat, konnte die Frau nicht weggewiesen werden. In diesem Zusammenhang hat nun das Bundesgericht entschieden, dass sowohl die Heimatgemeinde als auch die Wohnsitzgemeinde berechtigt ist, die Anerkennung der Vaterschaft anzufechten. Zur Klärung der Abstammungsfrage erachtet es das Bundesgericht als verhältnismässig, dem Vater die zwangsweise Durchführung eines DNA-Gutachtens anzudrohen.
Bundesgericht 5A_590/2016 vom 12.10.2017
Fortbestand des Ehewillens massgebend
Hat das Zusammenleben einer Ehegemeinschaft mindestens drei Jahre gedauert und besteht eine erfolgreiche Integration, hat der ausländische Ehegatte einer Person mit Niederlassungsbewilligung Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung. Unterbricht das Ehepaar das Zusammenleben in der Schweiz durch Auslandaufenthalte, hat es aber insgesamt drei Jahre in der Schweiz zusammengelebt, ist die Dreijahresdauer nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG erreicht. Für die Berechnung der Dreijahresfrist können jedoch mehrere kürzere Ehegemeinschaften mit verschiedenen Partnern nicht zusammengerechnet werden. Eine Addition ist auch ausgeschlossen, wenn mehrere Ehen mit demselben Partner geschlossen werden. Entscheidend ist der Ehewille; mit der Scheidung wird der Wille zur Fortführung einer Ehe aufgegeben.
Bundesgericht 2C_394/2017 vom 28.9.2017
Hausverbot des Arbeitgebers war nicht missbräuchlich
Weil ein Angestellter eigenmächtig Ferien bezog und unerlaubt von der Arbeit fernblieb, wurde ihm ordentlich gekündigt. Gleichzeitig wurde er per sofort freigestellt; zudem erhielt er ein Hausverbot. Vor Bundesgericht argumentierte der Entlassene, die Kündigung sei verletzend und missbräuchlich gewesen, weil er sich wegen des Hausverbots nicht mehr habe von seinen «Giesserei-Kumpels» verabschieden können. Bereits das Baselbieter Kantonsgericht hatte entschieden, dass das Hausverbot für sich allein angesichts des Vertrauensverlusts keine missbräuchliche Kündigung zu begründen vermag. Es fehlt an der nötigen Schwere (Art. 336 OR). Allein der Umstand, dass es der Entlassene subjektiv verletzend empfand, dass er sich nicht von seinen Kollegen auf dem Betriebsgelände verabschieden konnte, genügt nicht für die Annahme einer missbräuchlichen Kündigung, meint auch das Bundesgericht.
Bundesgericht 4A_280/2017 vom 7.9.2017
Zutrittsregelung für Gewerkschafter zu restriktiv
Vor sechs Jahren erliess der Tessiner Staatsrat einen Beschluss über den Zutritt von Gewerkschaftern zu Gebäuden der öffentlichen Verwaltung. Dieser sieht vor, dass der Zutritt zu Verwaltungsgebäuden für gewerkschaftliche Aktivitäten grundsätzlich nicht erlaubt ist. Gesuche für allfällige Kontakte von Gewerkschaftern mit Kantonspersonal zu spezifisch arbeitsrechtlichen Fragen sind vorgängig an die Staatskanzlei zu richten. Laut Bundesgericht verstösst diese Regelung gegen die Bundesverfassung. Aus der Koalitionsfreiheit gemäss Art. 28 BV ergibt sich – unter Wahrung des guten Funktionierens der Verwaltung – ein Recht für Gewerkschaftsvertreter auf Zutritt zu Gebäuden der öffentlichen Verwaltung, um mit ihren Mitgliedern Kontakt zu pflegen oder neue Mitglieder werben zu können.
Bundesgericht 2C_499/2015 vom 6.9.2017
Erwin Sperisen muss entlassen werden
Der vor fünf Jahren in Genf verhaftete guatemaltekisch-schweizerische Doppelbürger Erwin Sperisen, dem vorgeworfen wird, in Guatemala zehn Morde begangen zu haben, hat vor Bundesgericht einen dreifachen Erfolg erzielt: Im Juni 2017 hiessen die Lausanner Richter eine Beschwerde gegen die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe teilweise gut. Und im September 2017 forderte das Gericht die Genfer Justiz auf, Erwin Sperisen schnellstmöglich aus der Haft zu entlassen. Der fortbestehenden Fluchtgefahr ist mit Ersatzmassnahmen entgegenzuwirken. Schliesslich hat das Bundesgericht die Genfer Justiz auch gerügt, weil sie die Bewilligung zu einem Filminterview verweigerte, welches das Schweizer Fernsehen mit Erwin Sperisen machen wollte.
Bundesgericht 1B_207/2017 und 1 B_344/2017 vom 20.9.2017
Keine Diskriminierung der Männer
Der Umstand, dass nur Männer eine Wehrpflicht haben und bei Verhinderung eine Ersatzabgabe zahlen müssen, steht an sich im Widerspruch zu Art. 8 Abs 2 und 3 der Bundesverfassung. Dass biologische und funktionale Unterschiede die Frauen grundsätzlich für den Militärdienst untauglich erscheinen liessen, wird dadurch widerlegt, dass Frauen freiwillig Militärdienst leisten können. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang aber, dass Art. 59 der Bundesverfassung die Wehrpflicht ausdrücklich und gewollt auf Männer beschränkt. Dies stellt eine in der Verfassung selber enthaltene Ausnahme – sog. lex specialis – von Art. 8 BV dar. Die Ungleichbehandlung ist also verfassungsmässig so gewollt. «Ob diese Regelung sachlich sinnvoll oder allenfalls zu ändern ist, hat nicht das Bundesgericht, sondern der Verfassungsgeber zu entscheiden.»
Bundesgericht 2C_1051/2016 vom 24.8.2017
Zürcher Kindergärtnerinnen beim Lohn nicht diskriminiert
Die im Zuge der Schulreform von 2008 vorgenommene neue Lohneinreihung der Zürcher Kindergartenlehrkräfte ist nicht zu beanstanden; es liegt keine Lohndiskriminierung vor. Laut Bundesgericht bestehen keine Anhaltspunkte für eine Schlechterbehandlung oder gar eine Geschlechterdiskriminierung der Kindergärtnerinnen gegenüber anderen, als männlich oder geschlechtsneutral definierten Berufsgruppen. Die Bewertung durch den Kanton hält sich im Rahmen des rechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums. Das Bundesgericht räumt ein, dass sich die Anforderungen an Kindergartenlehrpersonen in den vergangenen Jahren stark verändert haben. Dies trifft aber auf das ganze Lehrpersonal zu. Es hat eine Beschwerde des Verbands Kindergarten Zürich, des VPOD, des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands sowie von drei Einzelpersonen abgewiesen.
Bundesgericht 8C_696/2016 vom 19.9.2017
Lärm und Gestank halten sich in Grenzen
Die Fluglärm- und Schadstoffbelastung im Gebiet Meiringen und Umgebung war nicht übermässig. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Beschwerde der Stiftung «Giessbach dem Schweizervolk» abgewiesen. Diese hatte verlangt, es sei die Widerrechtlichkeit der in den Jahren 2006 bis 2015 durch die Flugbewegungen der F/A-18- und Tiger-Kampfjets verursachten Lärm- und Schadstoffimmissionen festzustellen. Ein Gutachten hatte ergeben, dass die Lärmbelastungsgrenzwerte eingehalten werden. Auch die Belastung durch Schadstoffimmissionen war weder übermässig noch widerrechtlich.
Bundesverwaltungsgericht A-3666/2015 vom 7.9.2017
Öffentlichkeitsprinzip geht vor
Die SBB, die BLS und weitere Schweizer Transportunternehmen müssen Einsicht in die Gefährdungen, Störungen und Sachschadenssummen gewähren, die in der «Neuen Ereignisdatenbank» erfasst worden sind. Eine wirksame Kontrolle der staatlichen Behörde, die das Öffentlichkeitsprinzip durch die Schaffung von Transparenz zu ermöglichen bezweckt, ist nur gewährleistet, wenn offengelegt wird, bei welchen Transportunternehmen es zu wie vielen und zu welchen Zwischenfällen auf welchen Strecken gekommen ist. An der Offenlegung von Zwischenfällen im öffentlichen Verkehr besteht ein erhebliches öffentliches Interesse. Dieses überwiegt das geltend gemachte Interesse an einer Zugangsverweigerung, welches darin gesehen wird, dass sich eine Offenlegung der Gefährdungen und Störungen negativ auf den Geschäftserfolg der Transportunternehmen auswirken könnte.
Bundesgericht 1C_428/2016 vom 27.9.2017
Leibstadt muss Daten bekanntgeben
Das Kernkraftwerk Leibstadt muss auf Geheiss des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats die Messdaten der an die Luft abgegebenen radioaktiven Stoffe herausgeben. Es handelt sich um Angaben zu Edelgasen, Aerosolen und Jod im Normalbetrieb und zu Edelgasen bei Störfällen. An der Bekanntgabe der Abluftdaten besteht ein erhebliches öffentliches Interesse, zumal sich gasförmige radioaktive Emissionen eines Kernkraftwerkes auf die Umwelt und den Menschen auswirken können. Das öffentliche Interesse an der Herausgabe der Daten ist höher zu gewichten als das private Interesse an einer Zugangsverweigerung. Erstritten hat das Urteil Greenpeace Schweiz.
Bundesgericht 1C_394/2016 vom 27.9.2017