Tiefere Suva-Rente wegen alten Skiunfalls
Ein 46-jähriger Förster erlitt einen Arbeitsunfall, der mehrere Operationen nach sich zog. Dabei kam eine Kniearthrose zum Vorschein. Eine Knieprothese wurde eingesetzt. Die Suva sprach ihm eine Invalidenrente von 20 Prozent zu. Sie ging nicht vom aktuellen Salär von 75'000 Franken aus, sondern nur von einem halb so hohen Lohn, den der Förster als 27-Jähriger verdient hatte, als er einen Skiunfall mit Bänderriss am selben Knie erlitt.
Gemäss Arztberichten verursachte der Skiunfall die Arthrose und damit die heutige Teilinvalidität. Vergeblich verlangte der Förster eine Berücksichtigung des aktuellen Lohns mit Hinweis auf BGE 148 V 286 und Artikel 24 Absatz 2 IVV. Laut Bundesgericht ist nicht ersichtlich, dass jene Ausnahme mit seinem Fall vergleichbar wäre.
Bundesgericht 8C_615/2023 vom 28.2.2024
Genfer Chefaufseher der Drohung schuldig
Ein Chefaufseher eines Genfer Gefängnisses ist Rechtshänder. Er schrieb mit der linken Hand einen anonymen Drohbrief. Heimlich warf er ihn 2020 in den Briefkasten des frisch angetretenen Gefängnisdirektors. Der Chefaufseher hatte dabei die Überwachungskameras vergessen – oder nicht mit ihrer Auswertung gerechnet. Er wurde wegen Drohung gegen Behörden und Beamte verurteilt, auf eine Bestrafung wurde verzichtet. Er erhob Beschwerde beim Bundesgericht und verlangte einen Freispruch. Erfolglos. Sein Verhalten erfüllte den Tatbestand von Artikel 285 StGB.
Bundesgericht 6B_386/2023 vom 28.3.2024
Betrieb muss AHV-Beiträge für Scheinselbständige zahlen
Die zivilrechtlichen Verhältnisse sind bei der Beurteilung, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt, nicht ausschlaggebend. Dasselbe gilt für die Frage, ob jemand von der Ausgleichskasse für anderweitige Tätigkeiten als selbständigerwerbend anerkannt ist. Entscheidend sind stets die wirtschaftlichen Gegebenheiten im Einzelfall. Vorliegend war eine Mitarbeiterin in einem Betrieb einzelzeichnungsberechtigt und erhielt während mehr als dreier Jahre monatlich 8000 Franken ausbezahlt, war aber nicht in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt. Der Betrieb muss rund 66 000 Franken AHV-Beiträge nachzahlen, das Bundesgericht wies eine Beschwerde dagegen ab.
Bundesgericht 9C_352/2023 vom 21.3.2024
Rayonverbot bei Covid-Demo war rechtswidrig
Es ist für das Bundesgericht nicht ersichtlich, weshalb ein Teilnehmer einer unbewilligten Demonstration von Covid-Massnahmenkritikern am 10. April 2021 in Schattdorf UR für die Dauer von zwei Tagen vom gesamten Kantonsgebiet hätte ferngehalten werden müssen. Ein Rayonverbot für Schattdorf und Altdorf hatte ausgereicht. Das Bundesgericht hält fest, dass die Wegweisungs- und Fernhalteverfügung rechtswidrig war, und spricht dem Betroffenen zulasten des Kantons Uri eine Entschädigung von 3000 Franken zu.
Bundesgericht 1C_519/2022 vom 15.3.2024
Scheinehe: Fehlender Protest bei Wohnungsdurchsuchung
Bei Verdacht auf Scheinehe ist eine Wohnungsdurchsuchung ein geeignetes Mittel zur Feststellung des Sachverhalts. Gemäss Bundesgericht genügt die Mitwirkungspflicht der Betroffenen gemäss Artikel 90 Ausländergesetz «als Grundlage eines Eingriffs in das Recht auf Achtung der Wohnung jedenfalls dann, wenn die Wohnungsdurchsuchung nicht zwangsweise, das heisst nicht gegen den klar geäusserten Willen der berechtigten Person erfolgt». Dementsprechend weist es die Beschwerde eines 45-jährigen Türken aus dem Kanton Zürich gegen die Nichtverlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung ab.
Die Durchsuchung der Wohnung sei nicht gegen den Willen der Ehefrau erfolgt. Der Beschwerdeführer machte vergeblich geltend, seine Ehefrau habe irrtümlich angenommen, es handle sich um ein Strafverfahren. Zudem rügte er, im Ermittlungsbericht hätte festgehalten werden müssen, dass seine Frau die beiden Polizisten mit seinem Einverständnis freiwillig in die Wohnung gelassen habe.
Bundesgericht 2C_626/2022 vom 5.4.2024
Bei Fussfesseln zählt neu der unbedingt vollziehbare Teil
Bisher war bei teilbedingten Strafen die Höhe der Gesamtstrafe massgebend für den Einsatz elektronischer Fussfesseln. Eine solche elektronische Überwachung ist gemäss Artikel 279b Absatz 1 litera a StGB bei Freiheitsstrafen bis zwölf Monate vorgesehen. Neu ist nur noch der unbedingt vollziehbare Teil ausschlaggebend, so wie dies auch bei der Halbgefangenschaft gehandhabt wird. Nach dem entsprechenden zur Publikation vorgesehenen Entscheid 7B_261/2023 vom 18. März 2024 kommt die neue Praxis bei weiteren hängigen Fällen zur Anwendung. Das Bundesgericht macht klar, dass der Einsatz von Fussfesseln eine Kooperationsbereitschaft des Verurteilten bedingt.
So weist es einen zu sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilten Beschwerdeführer ab, der einen Rechtsanspruch auf den privilegierten Strafvollzug mit elektronischer Überwachung geltend machte. Die Berner Justiz hatte ihm die Fussfesseln verweigert, weil er Vorladungen missachtete und keine Arbeitstätigkeit von mindestens 20 Stunden pro Woche nachwies.
Bundesgericht 7B_1039/2023 vom 25.3.2024 und 6B_220/2023 vom 10.4.2024
Schadenersatzklage gegen Tessiner Anwälte ohne Erfolg
Ein Ehepaar verklagte eine Tessiner Bank auf 2,7 Millionen Franken Schadenersatz. Deren damaliger Direktor hatte den beiden vermeintlich sichere Investitionen empfohlen, das Geld aber abgezweigt. Die Zweite Zivilkammer des Appellationsgerichts Tessin wies die Klage ab. Das Ehepaar habe eine Entlastungserklärung unterzeichnet. Die beiden akzeptierten das Urteil und reichten Klage gegen die Anwälte ein. Sie hätten das Mandat fahrlässig geführt und die Entlastungserklärung nicht wegen Willensmangels angefochten.
Die Dritte und als Berufungsinstanz die Zweite Zivilkammer des Appellationsgerichts Tessin wiesen die Schadenersatzklage ab. Die Strategie der Anwälte – Unwirksamkeit der Entlastungserklärung in Bezug auf unbekannte Tatsachen statt Anfechtung wegen Willensmangels – sei durchaus vertretbar gewesen. Fahrlässigkeit liege nicht vor. Das Prozessrisiko sei von den Parteien zu tragen. Das Bundesgericht schützt den Entscheid.
Bundesgericht 4A_79/2022 vom 3.1.2024
Gleiche Partei oder gleicher Verein kein Ausstandsgrund
Ein Psychiater und eine Psychologin eines Walliser Spitals sind nicht befangen, bloss weil der Beschuldigte Kantonsparlamentarier ist, in der Gesundheitskommission Einsitz hat, den für die Aufsicht über das Spital zuständigen Staatsrat aus einer früheren Verbandstätigkeit kennt und der gleichen Partei angehört wie einer der Verwaltungsräte des Spitals. Denn dem Grossen Rat kommt nur die Oberaufsicht über das Spital zu.
Als Kantonsrat hat der Beschuldigte nicht einmal eine indirekte Weisungsbefugnis gegenüber den vorgesehenen Gutachtern und keinen Einfluss auf ihre Karrieremöglichkeiten. Auch die Zugehörigkeit zum gleichen Verband oder zur gleichen Partei begründet laut dem Bundesgericht für sich allein noch keinen objektiven Anschein einer Befangenheit. Es weist deshalb die Beschwerde der Privatklägerin und ihren Antrag auf ausserkantonale Begutachtung ab.
Bundesgericht 7B_204/2023 vom 27.2.2024
Pensionskasse hat Angaben zur Gesundheit gut zu prüfen
Eine Pensionskasse muss die Antworten der versicherten Person auf Gesundheitsfragen aufmerksam prüfen. Sie muss gegebenenfalls weitere Informationen einholen, um Unklarheiten zu beseitigen, die sich aus den Antworten ergeben. Das Bundesgericht heisst deshalb die Beschwerde einer 51-jährigen Zürcherin gut. Die Pensionskasse hatte ihr vorgeworfen, sie habe einst bei der Anstellung Gesundheitsfragen falsch beantwortet. Deshalb erhalte sie statt 96'720 Franken Invalidenrente gemäss Reglement nur 19'240 Franken nach BVG-Obligatorium.
Die Verneinung der Frage nach Krankheiten von Gehirn, Nerven oder Psyche sei eine Anzeigepflichtverletzung gewesen. Die Frau hatte an anderer Stelle jedoch angegeben, sie sei vor wenigen Jahren vom Hausarzt wegen «Überarbeitung» zu 50 Prozent zwei Monate arbeitsunfähig geschrieben worden.
Bundesgericht 9C_50/2023 vom 28.3.2024
Psychiater ist vor stationärer Massnahme anzuhören
Es ist im Rahmen einer Berufung gegen ein Strafurteil zwar möglich, eine ambulante therapeutische Massnahme durch eine stationäre zu ersetzen. Der Appellationshof des Kantonsgerichts Freiburg hätte aber zumindest den psychiatrischen Gutachter anhören müssen, der eine ambulante Therapie als «ausreichend» bezeichnet hatte. Zudem hätte der wegen Sexualdelikten zu einer Freiheitsstrafe von 42 Monaten verurteilte Täter die Möglichkeit erhalten müssen, Fragen zu stellen. Seine Beschwerde ans Bundesgericht wird gutgeheissen, der Fall geht zurück an die Vorinstanz.
Bundesgericht 6B_1309/2023 vom 2.4.2024
Kein herabgesetztes Beweismass bei Belästigung
Sind bei einer geltend gemachten sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz die Zeugenaussagen vage, bleibt die zeitliche Darstellung der Geschehnisse zweifelhaft und liegen Unstimmigkeiten vor, ist das nötige Beweismass für eine fristlose Entlassung aus wichtigem Grund nicht erreicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat einem Bundesangestellten wegen der ungerechtfertigten fristlosen Entlassung nach rund fünfjähriger Anstellung deshalb den Lohn bis zum Ende der ordentlichen Kündigungsfrist plus eine Entschädigung von drei Monatslöhnen zugesprochen. Der Bundesangestellte, der sich als Opfer einer Verschwörung sieht, hatte gemäss dem italienischsprachigen Urteil eine höhere Entschädigung von 65 000 Franken gefordert. Das Urteil kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Bundesverwaltungsgericht A-4782/2023 vom 22.4.2024
Vereine, die Kitas betreiben, sind steuerpflichtig
Bei einem Verein stehen die Erwerbszwecke im Vordergrund, wenn er mehrere Kindertagesstätten betreibt, ein übliches Betreuungsgeld verlangt und durchschnittlich 95'000 Franken Gewinn pro Jahr erzielt. Dass die erwirtschafteten Rücklagen nötig seien, um Unvorhergesehenes aufzufangen, sei nicht relevant, da dasselbe auch für Konkurrenten gelte, hält das Bundesgericht dem Zürcher Verein entgegen und macht klar, dass eine Steuerbefreiung solcher Vereine den Wettbewerb verzerren würde.
Bundesgericht 9C_328/2023 vom 18.3.2024