Interessenkonflikt durch Ex-Staatsanwalt in Kanzlei
Ein Strafverteidiger gerät in einen Interessenkonflikt im Sinn von Artikel 12 litera c Anwaltsgesetz, wenn ein ehemaliger Staatsanwalt als Mitarbeiter in seine Kanzlei eintritt, der einst im selben Fall ein Strafverfahren eröffnete und Untersuchungshandlungen vornahm. Das Bundesgericht bestätigt eine entsprechende Verfügung der Waadtländer Staatsanwaltschaft, die dem Verteidiger das Mandat untersagte.
Der Anwalt habe die Kenntnisse des Ex-Staatsanwalts bewusst oder unbewusst nutzen können. Ziel sei nicht, Kanzleien die Beschäftigung ehemaliger Staatsanwälte zu verbieten, betont das Bundesgericht. Nötig sei aber ein Verzicht auf Mandate, mit denen ein Mitarbeiter oder Partner in seinem früheren Amt als Staatsanwalt befasst war.
Bundesgericht 7B_215/2024 vom 6.5.2024
Doppelte Verlustscheine sind aus dem Register zu löschen
Aus dem Betreibungsregister sind Verlustscheine aus Pfändung zu entfernen, wenn sie später in einen Konkurs eingebracht wurden, der mit einem neuerlichen Verlustschein endete. Ob ein Kanton darauf verzichtet, ein Verlustscheinregister zu führen, ist dabei unerheblich. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde eines Genfer Schuldners gut. Er hatte dem Betreibungsamt vergeblich beantragt, auf die doppelte Auflistung unter der Rubrik «Nicht getilgte Verlustscheine nach Pfändung» zu verzichten und den Registereintrag «28 Pfändungsverlustscheine mit Fr. 56'601.60» zu ändern auf «12 Verlustscheine mit Fr. 21'519.80».
Bundesgericht 5A_118/2024 vom 21.5.2024
Epidemieversicherung muss bei Covid-19 nicht zahlen
Das Bundesgericht hebt ein Urteil des Handelsgerichts St. Gallen auf, das einem Gastronomiebetrieb für die Coronapandemie eine Entschädigung aus der Epidemieversicherung der Helvetia zusprach. Versichert seien gemäss Vertrag Massnahmen, die verfügt wurden, um «die Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch Lebensmittel, Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände» zu verhindern. Wie das Wort «durch» klarmache, so das Bundesgericht, «hat die Gefährdung von diesen Sachen als solchen auszugehen, mithin von Lebensmitteln, Gebrauchs- oder Verbrauchsgegenständen».
Nicht genannt werde die Gesundheitsgefährdung durch Menschen. Somit sei die bundesrätlich angeordnete Betriebsschliessung wegen des Coronavirus nicht versichert. Zudem bestätigt das Bundesgericht ein Urteil des Handelsgerichts Zürich. Dieses verneinte bei fast wörtlich gleicher Deckungsklausel eine Leistungspflicht aus der Betriebsunterbrechungsversicherung der Allianz.
Bundesgericht 4A_467/2023 und 4A_498/2023 vom 6.5.2024
Ohne Antrag kein Zins bei der Haftentschädigung
Bei einer Genugtuung für eine ungerechtfertigte Untersuchungs- und Sicherheitshaft gemäss Artikel 429 StPO muss der Zins von 5 Prozent explizit beantragt werden. Sonst wird ein impliziter Verzicht angenommen. Im konkreten Fall bestätigt das Bundesgericht im Übrigen den von der Aargauer Oberstaatsanwaltschaft gewählten Ansatz von 200 Franken pro Tag für die ersten sechs Monate der Haft, von 100 Franken für die nächsten sechs Monate und von 75 Franken für die restlichen 126 Tage. Es heisst die Beschwerde des gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte unrechtmässig Inhaftierten teilweise gut, weil die Vorinstanz nicht prüfte, ob neben der Genugtuung auch eine Entschädigung der wirtschaftlichen Einbussen auszurichten ist.
Bundesgericht 6B_34/2018 vom 13.5.2024
Arbeitslosenkasse rechnete bei Frühpension falsch
Bei einer Frühpensionierung mit freiwilligen Leistungen im Rahmen eines Sozialplans darf die Arbeitslosenkasse die Altersrente der Pensionskasse von ihren Leistungen abziehen, nicht hingegen die von der Pensionskasse ausgerichtete «AHV-Überbrückungsrente». Im konkreten Fall hatte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich einem 58-jährigen Frühpensionierten beide Leistungen vom Taggeld abgezogen – sowohl die Altersrente von 4368 Franken pro Monat als auch die AHV-Überbrückungsrente von 2141 Franken. Mit seinem Urteil schützt das Bundesgericht die vom Sozialversicherungsgericht Zürich als bundesrechtswidrig bezeichneten Vorgaben des Staatssekretariats für Wirtschaft zur Anrechnung solcher Leistungen.
Bundesgericht 8C_425/2023 vom 21.5.2024
Polizei muss DNA-Proben in zwei Fällen vernichten
Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Ehrverletzungsdelikte und Betäubungsmittelkonsum sind keine schweren Delikte, die eine erkennungsdienstliche Erfassung und die Entnahme von DNA-Proben rechtfertigen. Wegen Unverhältnismässigkeit muss die Luzerner Polizei deshalb die 2022 von einer Hausbesetzerin nach damaligem Recht erstellten DNA-Proben und die Dokumentation von Körpermerkmalen und Fingerabdrücken vernichten. Ebenfalls als unverhältnismässig stuft das Bundesgericht die Erstellung eines DNA-Profils in einer Zürcher Strafuntersuchung wegen Geldwäscherei, Datenbeschädigung und (Kinder-)Pornografie ein. Zwar bestünden konkrete Anhaltspunkte für weitere Delikte einer gewissen Schwere, allerdings lediglich im Bereich der Cyberkriminalität. Ein DNA-Profil sei bei deren Auswertung nicht zweckdienlich.
Bundesgericht 7B_335/2023 und 7B_336/2023 vom 3.5.2024, 7B_176/2023 vom 24.5.2024
Migrationsamt bei Vorschuss überspitzt formalistisch
Das Genfer Migrationsamt verfiel in überspitzten Formalismus, als es auf eine Beschwerde nicht eintrat, weil der Kostenvorschuss mit einer falschen Referenznummer überwiesen worden war. Die Frist lief bis am 11. Oktober 2023. Die 500 Franken waren am 27. September überwiesen worden. Die IBAN war korrekt, die Fallnummer und die Beteiligten waren aufgeführt. Bloss hatte sich die Anwältin der Beschwerdeführer bei der Referenznummer vertan und statt 0127 die Endziffer 0128 eingetippt. Dadurch schrieb die Kantonsbuchhaltung das Geld dem Konto des Steueramts statt des Migrationsamts gut.
Bundesgericht 2C_135/2024 vom 7.5.2024
Zulässige Kündigung bei krankem Bundesbeamten
Eine Kündigung erfolgt nicht zur Unzeit, wenn ein Bundesangestellter wegen Meinungsverschiedenheiten mit anderen Angestellten krankgeschrieben ist. Das Bundesgericht bestätigt die Einschätzung der Vorinstanz, dass es sich um eine «arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit» und nicht um Mobbing handelte, wogegen der Arbeitgeber hätte aktiv werden müssen. Der 58-jährige Berufsoffizier hatte angegeben, er habe anders als seine Kollegen kein Weihnachtsgeschenk erhalten, und sein Chef habe ihn nicht angerufen, um zu fragen, wie es ihm gehe.
Bundesgericht 1C_595/2023 vom 26.3.2024
Revision der Invalidenrente nach fünf Jahren zulässig
Die Invalidenversicherung darf nach fünf Jahren die zugesprochene Vollrente halbieren, obwohl sich der Gesundheitszustand der Versicherten nicht wesentlich verändert hat. Ein Revisionsgrund ist gegeben, wenn der damals ausschlaggebende RAD-Arzt die Versicherte nicht persönlich untersuchte und er sich angesichts unklarer Berichte der Fachärzte zu sehr auf den Hausarzt abstützte. Das Urteil im Fall einer 34-jährigen kaufmännischen Angestellten aus dem Kanton Zürich erging nach öffentlicher Beratung mit drei gegen zwei Stimmen.
Bundesgericht 8C_426/2023 vom 16.4.2024
Öffentliche Verhandlung mit Replik rechtzeitig beantragt
Das Aargauer Versicherungsgericht muss eine öffentliche Verhandlung über den Anspruch eines Buben auf eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung ansetzen. Der Antrag der Eltern war nicht verspätet. Nachdem sie die Beschwerdeantwort der IV-Stelle am 21. April 2023 erhalten hatten, nahmen sie das ihnen nicht explizit eingeräumte Replikrecht wahr und beantragten am 28. April die öffentliche Verhandlung. Ein Gericht verletzt das rechtliche Gehör, wenn es «nur wenige Tage» nach der Mitteilung entscheidet. Vor Ablauf von zehn Tagen darf nicht von einem Verzicht aufs Replikrecht ausgegangen werden.
Bundesgericht 8C_739/2024 vom 21.5.2024
Rechtsvertreter werden im Urteil nicht anonymisiert
Eine Zuger Anwältin verlangte als Rechtsvertreterin eines Suva-versicherten Betriebs, ihr Name sei im Entscheid über ein Fristwiederherstellungsgesuch zu anonymisieren. Das Bundesgericht lehnt dies ab. Anwälte nehmen eine besondere Aufgabe im Dienst der Rechtspflege wahr, die ihrerseits dem Öffentlichkeitsprinzip unterliegt. Die wegen schwerer Migräne um zwei Tage verpasste Beschwerdefrist wird nicht wiederhergestellt. Anwälte müssen sich so organisieren, dass die Fristen auch bei einer Verhinderung gewährt bleiben.
Bundesgericht 8C_72/2024 vom 14.5.2024