Wie unabhängig sind Richter am höchsten Gericht der Schweiz? Die Frage stellte zuletzt die Justiz-Initiative, die die Wahl der Bundesrichter von der Parteizugehörigkeit entkoppeln wollte. Doch viele Juristen sehen die richterliche Unabhängigkeit nicht in erster Linie durch die parteipolitischen Bindungen der Richter gefährdet – sondern vor allem durch die starke Stellung der Gerichtsschreiber am Bundesgericht.
Laut Artikel 24 des Bundesgerichtsgesetzes wirken die Gerichtsschreiber bei der Instruktion der Fälle und bei der Entscheidfindung mit und haben «beratende Stimme». Sie erarbeiten Urteilsanträge und redigieren die Entscheide – immer unter Verantwortung eines Richters.
Was nach einer im Hintergrund wirkenden Schreibkraft klingt, hat im Rechtsalltag weitaus mehr Einfluss. Der Zürcher Rechtsanwalt Peter Nideröst formuliert es so: «Wenn ich ein Urteil des Bundesgerichts lese, fällt mein Blick als Erstes auf die Zeile mit dem Namen des Gerichtsschreibers.» Am Bundesgericht sei der Einfluss der Gerichtsschreiber «enorm», einige von ihnen seien regelrechte «graue Eminenzen» mit jahrzehntelanger Erfahrung.
Gerichtsschreiber fachlich stärker als gewisse Richter
Nideröst reicht pro Jahr 10 bis 15 Mal eine Beschwerde ans Bundesgericht ein. Viele Richter, die weniger lang am Bundesgericht wirken, könnten erfahrenen Gerichtsschreibern fachlich nicht annährend das Wasser reichen – und würden sich dann auch nicht trauen, an Urteilsentwürfen einschneidende Korrekturen vorzunehmen. Der Zürcher Strafrechtsprofessor Marc Thommen, früher selbst Gerichtsschreiber am Bundesgericht, beschrieb die Situation dem «Tages-Anzeiger» einmal so: «Bei Referaten von erfahrenen Gerichtsschreibern verändern die Richter in 40 bis 50 Prozent der Fälle weder Punkt noch Komma.» Markus Felber, Jurist und langjähriger Bundesgerichtskorrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung», bezeichnet die Vorstellung, wonach die Bundesgerichtsurteile in erster Linie von den Richtern geschrieben würden, als «Illusion» und «Lebenslüge» – der sich vor allem auch das Bundesgericht selbst hingebe.
38 Richter für knapp 8000 Fälle
Im Jahr 2020 erledigte das Bundesgericht 7863 Fälle, die Anzahl Richter belief sich auf 38. Ein Richter erledigte im Durchschnitt also 207 Fälle – 17 pro Monat. Nicht berücksichtigt sind dabei die nebenamtlichen Richter und der Umstand, dass für viele Fälle drei Richter verantwortlich sind.
Bei den Gerichtsschreibern gab es rund 131,7 Stellen. Auf einen Richter kommen damit etwa dreieinhalb volle Pensen von Gerichtsschreibern. Die Zuteilung erfolgt je nach Abteilung unterschiedlich: In einigen werden die Gerichtsschreiber auf die einzelnen Richter verteilt und sind nur für diese zuständig. Andere Abteilungen arbeiten mit einem Pool, die Zuteilung erfolgt je nach Fall.
Nicht immer waren die Gerichtsschreiber derart in der Überzahl: 1875, als das Bundesgericht zum ständigen Gericht wurde, zählte es neun Richter und zwei Schreiber. «Entsprechend anders war der Aufgabenbereich der Gerichtsschreiber», sagt Felber. «Sie achteten auf die sprachliche Korrektheit der Urteile und verbürgten diese mit ihrer Unterschrift quasi notariell.» Mit den Jahren erhöhte sich die Zahl der Fälle, die Zahl der Gerichtsschreiber und ihr Aufgabenbereich. Auch die Zahl der Richter stieg kontinuierlich. Das Bundesgerichtsgesetz von 2005 erlaubt höchstens 45 ordentliche Bundesrichter – sieben mehr als heute.
Das letzte Wort zu neuen Richterstellen hat die Bundesversammlung. Das Bundesgericht könnte einen entsprechenden Antrag stellen. Weshalb geschieht das trotz der vielfach beklagten hohen Falllast nicht? Das Bundesgericht will dazu auf Anfrage nichts sagen. Regina Kiener, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Zürich, die auch zum Thema richterliche Unabhängigkeit publiziert hat, meint zur Frage der angemessenen Richterzahl: «Es gilt, einen guten Mittelweg zu finden: Einerseits muss der Zugang zur Justiz unbedingt gewährleistet sein. Ein Gericht muss so organisiert sein, dass die Parteien innert angemessener Frist ein Urteil erhalten.» Andererseits sollten die Richter möglichst den Überblick über die Rechtsprechung haben – über die eigene und über jene der Kollegen. «Eine gewisse Einheit und Kohärenz der Rechtsprechung muss sichergestellt sein», sagt Kiener.
Die Professorin hält das Verhältnis von Richtern und Gerichtsschreibern grundsätzlich für gut austariert. Zwar würden sich bei der heutigen Gerichtsorganisation und -praxis gewisse Fragen stellen, weil die Gerichtsschreiber im Alltag in der Tat eine starke Rolle hätten, im Gegensatz zu den Richtern aber demokratisch nicht legitimiert seien. «Allerdings besteht die Gefahr, dass Wahlen das Amt verpolitisieren würden», so Kiener. Ohnehin hätten Gerichtsschreiber keine Entscheidungsbefugnis. «Die Richter tragen die Verantwortung für die Urteile. Darauf kommt es an.»
Eitelkeit einzelner Richter als Korrektiv
Auch Markus Felber übt keine grundsätzliche Systemkritik: «Es ist tatsächlich so, dass das juristische Know-how von Gerichtsschreibern oft stärker ausgeprägt ist als jenes vieler Richter.» Das sei kein Nachteil: «Die Qualität der Rechtsprechung wäre nicht besser, wenn sich die Richter stärker einmischen würden», sagt er. Rechtsanwalt Nideröst teilt diese Sichtweise: «Richter haben den Hang, eher politisch zu entscheiden, Gerichtsschreiber gewichten die fachliche Perspektive höher.»
Sein Kollege Marc Spescha, ebenfalls Rechtsanwalt in Zürich, argumentiert ähnlich: «Dass sich Richter fundiert begründeten Urteilsentwürfen von qualifizierten Gerichtsschreibern anschliessen, ist rechtsstaatlich nicht zu beklagen. Es spricht für die Qualität der Rechtsprechung, wenn sich das bessere Argument durchsetzt – unabhängig davon, von wem es stammt.»
Die fehlende demokratische Legitimation der Gerichtsschreiber erachtet Markus Felber als unproblematisch, solange die Richter die grossen Leitlinien der Rechtsprechung vorgeben. Dies geschehe in der Praxis durchaus. Bei Fällen, welche die Richter grösstenteils durch die Gerichtsschreiber bearbeiten liessen und selbst nicht vertieft prüften, handle es sich um Massen- und Routinefälle. «Die Frage, wer effektiv entscheidet, stellt sich dann, wenn es wirklich um etwas geht.»
Die Gefahr, dass sich Gerichtsschreiber zu übermächtigen grauen Eminenzen hochstufen, ist gemäss Felber klein: «Bundesrichter legen grundsätzlich viel Wert auf Hierarchien und Distanz und haben im Laufe der Jahrzehnte immer wieder versucht, den Einfluss von Gerichtsschreibern zurückzubinden.» Anwalt Spescha formuliert es so: «Die meisten Richter sind eitel genug, um sich nicht zum Anhängsel eines Gerichtsschreibers degradieren zu lassen.»
“Perlen vor die Säue geworfen”
Es gibt aber auch Stimmen, die Unverständnis an der Bundesgerichtsorganisation äussern. Und andere, die diese gar für rechtspolitisch hochproblematisch halten. Rainer Schweizer, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, früher selbst nebenamtlicher Richter am Bundesgericht, kann nicht verstehen, weshalb sich das Bundesgericht nicht für eine Aufstockung der Richterstellen stark macht. Er verweist auf den Obersten Gerichtshof für Zivil- und Strafsachen in Österreich, dem 60 Richter angehören und neben dem noch der oberste Verwaltungsgerichtshof mit fast 70 Gerichtsmitgliedern besteht. Das Schweizer Modell nennt er im internationalen Vergleich einen Sonderfall: «Dass sich einige Richter beharrlich gegen eine Aufstockung stemmen, ist nicht nachvollziehbar.» Vielleicht, so die Vermutung, soll der Bundesrichterposten auch exklusiv bleiben. Dabei täte eine Aufstockung Not: «Die Situation ist heute so, dass ein Bundesrichter kaum mehr selbst Fälle bearbeitet», sagt Schweizer. Auch komme es aus Ressourcegründen viel zu selten vor, dass komplexe Fälle von einem Richter mit den Gerichtsschreibern in Gruppenarbeit behandelt werden. Würde die Zahl der Richter erhöht, könnte sich dies wieder ändern, ist Schweizer überzeugt.
Ein amtierender Gerichtsschreiber am Bundesgericht, der anonym bleiben möchte, nennt plädoyer einen weiteren Punkt, den er für hochgradig heikel hält: Die fehlende fachliche Qualifikation einiger Richter. «Eines der grössten Probleme am Bundesgericht ist, dass mehrere Richter in Rechtsgebieten arbeiten, die ihnen eigentlich fremd sind.» Zwei Beispiele: Der im Juni neu ans Bundesgericht gewählte Stephan Hartmann lehrt an der Universität Luzern Privatrecht und Privatrechtsvergleichung – gehört nun aber der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung an und muss unter anderem über ausländerrechtliche Fälle entscheiden. Und Christoph Hurni, im September 2020 ans Bundesgericht gewählt, ist ein ausgewiesener Experte für Zivil- und internationales Privatrecht. Er muss sich als Mitglied der strafrechtlichen Abteilung nun aber hauptsächlich mit dem Strafgesetzbuch auseinandersetzen. «Das ist unverständlich, da werden Perlen vor die Säue geworfen», beklagt der Gerichtsschreiber. Dass bei der Besetzung vakanter Richterstellen heute primär auf den parteipolitischen Proporz und weniger auf fachliche Eignung abgestellt wird, war auch ein Kernargument der Befürworter der Justiz-Initiative.
Treffen fachfremde Richter auf hochspezialisierte und erfahrene Gerichtsschreiber, wird nicht nur der kritisierten «Gerichtsschreiberjustiz» Vorschub geleistet. Auch die Homogenität und Kohärenz der Rechtsprechung drohe dadurch Schaden zu nehmen, so der Gerichtsschreiber: «Klare juristische Massstäbe ergeben sich eben nicht nur durch Leitentscheide, sondern auch durch die Vielzahl an kleineren, vermeintlich weniger bedeutenden Urteilen. Auch sie sind wichtig für die Vorinstanzen, die stringente Vorgaben erwarten.» Gerade bei der stark belasteten strafrechtlichen Abteilung liege da einiges im Argen.
“Arbeits- und Faultiere gleichermassen”
Der Gerichtsschreiber stellt sich auf den Standpunkt, dass das heutige System mit wenigen Richtern und einer hohen Zahl an Gerichtsschreibern funktionieren könnte, wenn alle Richter den Arbeitseifer der fleissigsten unter ihnen an den Tag legen würden. Dies sei jedoch nicht der Fall. «Es gibt zu viele Bundesrichter, die den charakterlichen Anforderungen, die das Amt an sie stellt, nicht gewachsen sind», sagt er.
Gemäss Markus Felber gebe es am Bundesgericht in Lausanne und Luzern gleichermassen «Arbeits- und Faultiere». Dies sei in anderen Berufszweigen zwar nicht anders. Doch bestehen für Richter am höchsten Gericht der Schweiz gewisse Anreize, sich in eine goldene Hängematte zu legen: Gerichtsschreiber müssen sich gegenüber ihren Vorgesetzten verantworten, zum Beispiel für die Anzahl bearbeiteter Fälle. Eine solche Rechenschaftspflicht gibt es für die Richter nicht: Sie sind einzig der parlamentarischen Aufsicht unterworfen, die im Arbeitsalltag keine Rolle spielt. Eine andere externe oder interne Aufsicht existiert nicht.