Wem dienen die Standesregeln? Das fragte im Dezember 1981 «Volk + Recht» auf ihrer Titelseite. Das Vorläufermagazin von plädoyer stellte diese Grundsatzfrage ab der Seite 6 in folgenden Kontext: Dienen die anwaltlichen Berufsregeln dem Publikumsschutz? Dienen sie also den Interessen der Klienten? Oder aber: Sichern sie ein möglichst ungestörtes Vorgehen der Strafjustiz ab? Und bezieht sich die Justiz bei der Auslegung der vagen berufsrechtlichen Generalklauseln vor allem deshalb auf berufsethische Vorstellungen über die Advokatur, um ein konsequentes Verteidigungsethos zu limitieren?
Diese intensive Auseinandersetzung erfolgte Anfang der 80er-Jahre aus aktuellem Anlass: Bis weit in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts sah sich in der Schweiz das Gros der Anwaltschaft in Strafsachen als «Diener des Rechts». Eintracht mit Behörden war wichtiger als eine pointierte Interessenvertretung der Beschuldigten. Eine junge Generation von Strafverteidigern, insbesondere aus dem Umfeld des 1975 gegründeten, politisch links ausgerichteten Zürcher Anwaltskollektivs und der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz, fing damals an, ihre Rolle anders zu sehen. Mit dem Risiko, zu ungeliebten Dienern des Rechts zu werden, setzte sie sich konsequent für die fragilen Beschuldigtenrechte ein. Und dieser Einsatz zog in der Folge auch aufsehenerregende Verfahren vor den kantonalen Aufsichtskommissionen über die Rechtsanwälte nach sich. Ein solcher Fall betraf Barbara Hug.
Die Erwägungen des Bundesgerichts im Disziplinarverfahren gegen Barbara Hug sind für den Umgang mit der Strafverteidigung bis heute symptomatisch (P 1331/79 der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung vom 6. März 1981, nicht publiziert). Die Zürcher Verteidigerin wurde durch die anwaltliche Aufsichtsbehörde disziplinarisch mit einer Busse bestraft, weil sie die Broschüre «Strafuntersuchung – was tun?» mitverfasst hatte. Diese Publikation wurde vom Zürcher Anwaltskollektiv herausgegeben. Es handelt sich um eine Anleitung, wie sich Beschuldigte in einer Strafuntersuchung am besten verhalten. Die Zürcher Aufsichtskommission erachtete einen solchen Leitfaden, der sich konsequent an den Verteidigungsrechten orientiert, für eine Rechtsanwältin als ungebührlich. Vorgeworfen wurde ihr ein Verstoss gegen § 7 des zürcherischen Anwaltsgesetzes. Dieser Paragraf verpflichtete die Rechtsanwälte, ihre Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben und sich durch ihr Verhalten in der Ausübung des Berufs und ihrem sonstigen Geschäftsgebaren der Achtung würdig zu zeigen, die ihr Beruf erfordere, und sich auf dringlicher Empfehlung zu enthalten.
Der aufsichtsrechtliche Entscheid konnte damals nur mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht angefochten werden. Das Bundesgericht wies das vom Strafverteidigungspionier Bernhard Gehrig für Barbara Hug verfasste Rechtsmittel ab. Zur Begründung führte es unter anderem aus, ein strafrechtlich Angeschuldigter sei zwar berechtigt, die Aussagen zu verweigern, um sich nicht selbst belasten zu müssen. Dieses Recht bedeute aber keineswegs, dass Lügen – nicht nur blosses «Leugnen», sondern unwahre Behauptungen und Einwendungen – «ohne Nachteil» gestattet sei. In der Broschüre fehle jeder Hinweis, dass der Richter hartnäckiges Schweigen als Uneinsichtigkeit deuten und bei der Strafzumessung berücksichtigen könne. Auf die positiven Folgen eines Geständnisses werde in der Broschüre überhaupt nicht hingewiesen, was eine einseitige Information und damit ein Verstoss gegen § 7 Absatz 1 des Zürcherischen Anwaltsgesetzes sei. Die Beschwerdeführerin verfehle im Ergebnis das selbst gesetzte Ziel, «jedem die Möglichkeit zu geben, die Rechte, die er als Angeschuldigter hat, zu kennen und wahrzunehmen», und vereitle das Ziel des Strafverfahrens, über Schuld und Unschuld und gegebenenfalls über das Mass der Strafe zu befinden. Die Sanktion entspreche daher einem öffentlichen Interesse, das dem privaten Interesse der Beschwerdeführerin vorgehe.
Die Generalklausel, auf die sich die Busse abstützte, war offenkundig vage und wenig konturiert. Das Ermessen der Justiz war damit sehr gross und letztlich vor allem von paternalistischen, moralischen Vorstellungen über den Berufsstand der Advokatur geprägt. Diese Vorstellungen werden auch bei der Bewertung der Form ihrer Information für das ratsuchende Publikum ersichtlich. Barbara Hug wurde demnach im Ergebnis gebüsst, weil sie sich aufgrund ihrer Berufserfahrung und Berufsauffassung für eine nach ihrer Ansicht sinnvolle Wahrnehmung von Verteidigungsrechten einsetzte. Ihre Konsequenz beim Rat zur Aussageverweigerung ging der Strafjustiz deutlich zu weit. Dieses pointierte individuelle Verteidigungsethos mit einer durchaus markanten verteidigungsstrategischen Grundsatzpositionierung kollidierte mit den Vorstellungen der Justiz über die anwaltliche Berufsethik. Bezeichnenderweise wurde dabei die Frage gar nicht aufgeworfen, ob die Leser aus ihrer Beschuldigtensicht als ratsuchendes Publikum die Broschüre allenfalls hilfreich fanden oder finden könnten. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass die Justiz wisse, wie eine Anwältin ihre potenziellen Klienten sinnvoll «objektiv» zu orientieren habe und was für diese gut sei.
Zwei unterschiedliche Auffassungen standen damit in einer Wechselwirkung. Auf der einen Seite die Auslegung der Rechtsordnung durch die Justiz und vor allem deren Moralvorstellungen über die Advokatur. Auf der anderen Seite die individuelle Verteidigungsethik und die persönliche Berufsauffassung. Am Ende führte der Entscheid der Aufsichtskommission dazu, dass das konkrete berufspolitische Engagement von Barbara Hug mit einer Busse sanktioniert wurde.
Diese Busse war aber nicht die einzige Reaktion gegen das neue Verteidigungsverständnis, das sich konsequent für die Beschuldigten einsetzte. Die Berner Justiz entzog zur gleichen Zeit den vier Zürcher Anwälten Gian Andrea Danuser, Bernard Rambert, Edmund Schönenberger und Hans Zweifel im Nachgang zu einem Prozess gegen Mitglieder der Roten-Armee-Fraktion lebenslang das Patent. Nicht etwa, weil diese sich schlecht für ihre Klienten eingesetzt hätten. Die Vorwürfe waren anders: «Sie wurden wegen ihrer ‹fragwürdigen Gesinnung› und wegen ihres ‹unwürdigen› Benehmens mit dem Berufsverbot belegt – was eine über die Grenzen der Schweiz hinaus wohl einzigartige Sanktion bildet», wie «Der Spiegel» am 7. Januar 1980 berichtete. Immerhin erging es den vier Verteidigern vor Bundesgericht besser als Barbara Hug. Das höchste Gericht hob das Urteil der kantonalen Behörde auf und stellte in BGE 106 Ia 100 zum ersten Mal die Rolle der Verteidigung in Strafsachen als einseitige Verfechterin von Parteiinteressen deutlich klar. Der Anwalt sei nicht staatliches Organ und auch nicht ‹Gehilfe des Richters›, sondern Verfechter von Parteiinteressen und als solcher einseitig für seinen jeweiligen Mandanten tätig. Das gelte insbesondere für den Strafverteidiger. Ihm obliege es, dem staatlichen Strafanspruch entgegenzutreten und auf ein freisprechendes oder möglichst mildes Urteil hinzuwirken. Damit erfülle er die ihm als Mitarbeiter der Rechtspflege zukommende Aufgabe. Die vier Verteidiger veränderten mit dem erwirkten Bundesgerichtsentscheid in einem zentralen Punkt die Rechtsordnung. Denn mit dem Entscheid anerkannte die Justiz erstmals ein konsequentes, einseitiges Verteidigungsverständnis in der Schweiz.
In Artikel 128 wurde diese Praxis später in der eidgenössischen Strafprozessordnung unmissverständlich kodifiziert. Dieser Artikel verweist aber auch heute darauf, dass der einseitige Einsatz für die Interessen der beschuldigten Person «in den Schranken von Gesetz und Standesregeln» zu erfolgen habe.
Heute wird der Rat zur Aussageverweigerung, anders als Ende der 70er-Jahre, einhellig als unbedenklich eingestuft. Es besteht Konsens, dass dieser Rat in vielen Situationen sinnvoll ist. Die Autoren der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv, welche den Ratgeber «Strafuntersuchung – was tun?» demnächst in sechster Auflage herausgeben, werden kaum dafür gebüsst werden. Wie in den letzten vier Auflagen wird die Aussageverweigerung als mögliche Verteidigungsstrategie vertreten sein. Von Auflage zu Auflage fanden neben den Risiken auch zunehmend die Chancen einer mit der Verteidigung diskutierten Einlassung Raum. Der Rat zum Geständnis steht dabei allerdings weiterhin nicht im Vordergrund.
Die Grenzen der Verteidigung bleiben indes strittig. Wie vor 40 Jahren werden sie in der Wechselwirkung von zwei Polen vermessen: Auf der einen Seite stehen die Vorstellungen der Justiz über angemessenes Verteidigungshandeln und über die anwaltliche Berufsethik, die bei der Auslegung der vagen berufsrechtlichen Generalklauseln herangezogen werden. Auf der anderen Seite steht das individuelle Berufsethos und die Maximierung der Klienteninteressen. Die damaligen Entscheide sind daher paradigmatisch und vermögen den Blick auf heutige anwaltsrechtliche und anwaltsethische Fragen, namentlich zu Grenzziehung bei der Verteidigungstätigkeit, nach wie vor zu schärfen.
Bereits die Grenzen der Verteidigung, welche sich aus der Strafprozessordnung selbst ergeben, sind unklar und bedürfen der Auslegung. Das Gesetz beantwortet nicht klar, ob beispielsweise die Verteidigung an psychiatrischen Explorationsgesprächen zugegen sein darf – was bis heute verneint wird. Die Prozessordnung garantiert hingegen scheinbar klar ein Recht zur Teilnahme an Einvernahmen von Mitbeschuldigten. Dieses Recht wird am Ende dennoch ausgehöhlt. Die Verteidigung wird demnach nach wie vor eher als Störfaktor und nicht als konstitutive Akteurin des Strafverfahrens angesehen. Und die Frage, wo die strafbare Begünstigung für Verteidigungstätigkeit beginnt, dürfte schon manchem Praktiker den Schlaf geraubt haben.
Nahezu unverändert präsentiert sich die Sachlage betreffend die Generalklausel in Artikel 12 litera a des Anwaltsgesetzes, wonach der Anwalt sorgfältig und gewissenhaft zu handeln habe. Wenig mit juristischer Auslegung, sondern eher mit freier Rechtsfindung hat es zu tun, wenn Anwälten gestützt darauf in einer reichhaltigen Rechtsprechung weitgehend untersagt wird, potenzielle Zeugen zu kontaktieren oder der Verteidigung eine sogenannte limitierte Wahrheitspflicht auferlegt wird. Vollständig überwunden ist die Tendenz nicht, das Berufsrecht mittels einer die Verteidigung begrenzenden Auffassung von anwaltlicher Berufsethik auszulegen. Die berufsrechtlichen Generalklauseln als Basis der Einschränkungen sind in all den Jahren nicht präziser geworden. Sie werden weiterhin in einer nicht genau vorhersehbaren Art und Weise zur Limitierung der Verteidigung herangezogen. Die Rechtsprechung verstösst wohl gegen das Gebot der ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage nach Artikel 36 der Bundesverfassung, stürzt jedenfalls aber die Verteidigung durch diese Rechtsunsicherheit heute wie damals in ein latentes Dilemma. Der Berufsstand kennt die Grenzen des zulässigen Handelns nie genau: Tritt die Verteidigung offensiv auf, riskiert sie im Einzelfall berufs- oder gar strafrechtliche Sanktionen. Ist sie dagegen zaghaft und schöpft sie den Spielraum zur einseitigen Interessenswahrung nicht aus, den sie bis strikt an die Grenzen des Legalen zu wahren hat, droht sie gegen das Auftragsrecht zu verstossen.
Die Aufsichtskommissionen über die Rechtsanwälte bedienen sich bei der Auslegung von vagen Generalklauseln im Berufsrecht offenbar bis heute eines Vorverständnisses über die anwaltliche Berufsethik. Daher wäre eine Reflexion nicht nur des Berufsrechts im engeren Sinne, sondern auch der anwaltlichen Berufsethik unabdingbar. Denn die Berufsethik, beziehungsweise genauer: die Vorstellung der Justiz über sie, prägen das Berufsrecht noch immer entscheidend mit.
Die anwaltliche Berufsethik unterscheidet sich von der Berufsethik anderer Professionen. Sie meint zwar wie jede Berufsethik zunächst zweierlei: zum einen die persönliche, subjektive Berufsethik, zum anderen einen für alle Berufsleute geltenden Verhaltenskodex. Die Besonderheit der anwaltlichen Berufsethik liegt allerdings darin, dass sie sich in zahlreichen anspruchsvollen Spannungsfeldern bewegt: Die Advokatur ist privatwirtschaftlich organisiert, ihr kommt aber eine wichtige öffentliche Funktion zu: Wirtschaftsbürgerliche Optimierungsinteressen und staatsbürgerliche Verantwortung stehen in latenter Spannung. Die Advokatur müsste im bürgerlichen demokratischen Rechts- und Sozialstaat allen Rechtsunterworfenen den Zugang zum Recht möglichst gleichwertig gewährleisten. Die Empirie zeigt immer wieder, dass Anspruch und Realität gerade für wenig Privilegierte ganz erheblich auseinanderklaffen.
Im Innenverhältnis hat ein Anwalt zudem den Mandanten ein absolut loyaler Beistand zu sein. Dieser Anspruch gilt gerade bei der Wahrnehmung der Verteidigung in der Ausnahmesituation eines Strafverfahrens. Ohne gelebte Fürsorge nehmen Verteidiger weder die Betroffenen als Subjekt gebührend ernst, noch können sie mit den Klienten in der Beratung auf Augenhöhe eine Strategie für das Vorgehen im Verfahren festlegen. Fürsorge resultiert primär aus einer inneren Haltung, die nicht oder nur sehr begrenzt justiziabel ist. Im Ergebnis geht es daher bei der Advokatur als Berufsstand wie beim einzelnen Individuum auch um ein kognitives und emotionales Ringen für ein gelebtes Ethos, das sich zumindest an seinen Rändern exakten juristischen Konturen entzieht, gleichzeitig aber von höchster staatsrechtlicher und politischer Relevanz ist.
Die Reflexion zur anwaltlichen Berufsethik würde sich deshalb in einer Zwischenzone bewegen, von Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie, Staatstheorie (respektive allgemeinem Staatsrecht), der politischen Philosophie, Wirtschaftsethik, aber auch und ganz entscheidend von der Kultur eines helfenden und beratenden Berufs, die erst noch im professionellen Selbstverständnis zu etablieren ist. Das Terrain wäre solid zu ergründen, damit die Berufsregeln überzeugend angewendet werden können. Weil eine solche ernsthafte Vermessung aber kaum stattfindet und wohl noch länger auf sich warten lässt, ist vorderhand von der gleichen Grundsatzfrage wie vor rund 40 Jahren auszugehen: Wem dienen diese Standesregeln (in heutiger Terminologie: Berufsregeln)?
Bei der Beantwortung dieser Frage hat in den letzten 40 Jahren zweifellos eine gewisse Gewichtsverschiebung von der Absicherung einer ungestörten Justiz hin zugunsten des Publikumsinteresses stattgefunden. Sichtet man allerdings die dominierende Auslegung des Anwaltsgesetzes, wird man weiterhin kaum den Eindruck gewinnen, der Einsatz für den konsequenten Publikumsschutz oder konkrete Beschuldigtenanliegen dominiere über Gebühr. Denn aus einem solchen Blickwinkel betrachtet wäre die Beurteilung der Zulässigkeit von Verteidigungshandeln recht einfach: Sollen das Berufsrecht und die Berufsethik nicht die störungsfreien Abläufe der Strafjustiz, sondern die Klienten des Anwalts stützen, wären etwa Verstösse gegen die Loyalität zum eigenen Mandanten oder übersetzte Rechnungsstellung sehr streng zu ahnden. Dagegen dürften vage Generalklauseln nicht mehr als rechtliche Legitimation für die Einschränkung des Verteidigungsspielraums herangezogen werden. Die Vermutung drängt sich deshalb auf: Wäre die Auslegung des Rechtsgebiets nicht mehr einer möglichst ungestörten Justiz, sondern effektiv derjenigen des ratsuchenden Publikums verpflichtet, käme es wohl nochmals zu einer Veränderung der verteidigungsrechtlichen Gravitationskräfte wie vor rund 40 Jahren.
Um damit zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Der Entscheid 106 Ia 100 hat zweifellos etwas von einem justizhistorischen Drama mit persönlichem und berufspolitischem Happy-End: Vier Anwälte setzen sich konsequent im Einzelfall aufgrund ihrer politischen Überzeugung für gesellschaftliche Feindbilder ein, riskieren damit sogar ihre berufliche Zulassung, gewinnen den Prozess gegen den drohenden Patententzug und verändern dadurch en passant das Koordinatensystem der Strafverteidigung. Die Sanktionierung von Barbara Hug scheint dagegen als eine Art unfreiwillig humoristische Anekdote. Bei Lichte betrachtet ist der Fall aber ebenfalls keine Kleinigkeit: Denn auch Barbara Hug riskierte mit ihrem Engagement ihre persönliche Haut. Nicht wegen der 600 Franken Busse. Sondern weil sie sich über den Einzelfall hinaus eindeutig rechtspolitisch mit einer pointierten Information des Publikums positionierte. Damit machte sie beispielsweise einen persönlichen Rollen- und Seitenwechsel in die Strafjustiz mit Anfang 30 definitiv unmöglich. Aus einer verteidigungsethischen Haltung nahm sie dezidiert das Risiko auf sich, eine damals geltende Norm zu überschreiten. Mit dieser Berufsauffassung wollte sie – in ihrer eigenen, geradezu liebevollen Formulierung – der Institution Strafjustiz einen Schubs geben (Bruno Glaus / Karl Lüönd, Läufer, König, Mietmaul, Zürich 2005, Seite 89).
Einer so verstandenen Verteidigung geht es damals wie heute nicht um die bloss formale Absicherung des Rechtsstaates, somit einem Anliegen, das alle professionellen Akteure in Strafverfahren teilen sollten. Was sich alle unablässig und wechselseitig an beruflichen Fortbildungen als gemeinsame Zielsetzung versichern. Eine so verstandene Verteidigung geht über den Einsatz für die lediglich formale Absicherung des Rechtsstaats im Sinne einer korrekten Gesetzesanwendung hinaus. Sie ist nicht ausschliesslich eine austauschbare berufliche Rolle, sondern vielmehr – in den Worten von Max Alsberg, dem bekanntesten Verteidiger der Weimarer Republik – auch und gerade eine ethische Mission: Im Einzelfall ausschliesslich für die Interessen der konkreten beschuldigten Person, in rechtsdogmatischen Debatten für eine Straflimitierungs- statt Strafverfolgungsdogmatik, in rechtspolitischen Auseinandersetzungen für die Begrenzung staatlichen Strafens und Kontrollierens, insgesamt auf jedem Feld für die fragilen Grund- und Verteidigungsrechte der Rechtsunterworfenen. Wie diese Mission umzusetzen ist, hat Barbara Hug ebenfalls pointiert formuliert (Hans Baumgartner / René Schuhmacher, Ungeliebte Diener des Rechts, Zürich 1999, Seite 63): «Ob ‹liberales› oder repressives Strafrecht: Für die Verteidigung gibt es kein moralisches Tabu.»