Über ein Dutzend Flüchtlinge sitzen in einem Schlauchboot und überqueren die türkische Grenze. Kaum sind sie auf griechischem Hoheitsgebiet, kommt ein Boot, gesteuert von zwei maskierten Männern, frontal auf sie zu. Im Video, das den Angriff festhält, sind Schreie zu hören. Die beiden Maskierten schlagen mit Stangen auf die Flüchtlinge ein.
Die Szene wurde im Juni 2020 von einem 16-jährigen Afghanen, der sich im Schlauchboot befand, aufgenommen. Die Maskierten, so erzählt es der Afghane, hätten danach mit Messern auf das Boot eingestochen und das Motorkabel durchgetrennt.
Maskierte benutzten Boot der Küstenwache
Die Menschen trieben im beschädigten Boot richtungslos auf dem Mittelmeer, ihrem Schicksal überlassen. Die Schläger waren mit einem Boot der griechischen Küstenwache unterwegs, wie später Mitarbeiter der beiden Investigativplattformen «Bellingcat» und «Lighthouse» publik machen.
Beamte der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex patrouillieren in der Ägäis jeweils nicht weit entfernt vom Geschehen. Sie schauen aus sicherer Entfernung zu, wie Flüchtlinge widerrechtlich und gewaltsam von griechischen Grenzwächtern in die türkischen Hoheitsgewässer zurückgedrängt werden. Dies belegen zahlreiche Videos, die Flüchtlinge und die türkische Marine aufzeichneten.
Dabei werden auch Waffen eingesetzt. Nicht selten fallen Schüsse. Die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović fasst es so zusammen: «Ein bisschen Gewalt ist natürlich nötig, wenn sie Pushbacks durchführen.»
Laut der Zürcher Migrationsexpertin Stephanie Motz sind die Grenzschützer und die Frontex auf dem Mittelmeer verpflichtet, die Flüchtlinge aus der Seenot zu retten. Das schreiben internationale Menschenrechte sowie das internationale Seerecht vor. Motz betont: «Das Rückschiebungsverbot gilt auch auf hoher See. Den Flüchtlingen muss ermöglicht werden, ein Asylgesuch zu stellen.» Pushbacks würden nicht nur gegen das Non-Refoulement-Prinzip, sondern auch gegen das Verbot der Kollektivausweisung und das Recht auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Beschwerde verstossen.
“Frontex beteiligt sich an illegalen Pushbacks”
Im Alltag auf dem Mittelmeer sind diese Menschenrechte Papier. «Frontex schaut bei illegalen Push-backs durch griechische Beamte nicht nur zu, sondern ist selbst an solchen beteiligt», sagt Beat Schuler. Der Jurist war von 2018 bis 2020 als Ethikberater in der UNHCR-Zentrale in Genf tätig und zuvor mehrere Jahre für das UNHCR als Rechtsschutzbeauftragter im Mittelmeerraum unterwegs. Er kennt die Situation vor Ort und arbeitete mit Grenzwächtern verschiedener EU-Mitgliedsstaaten zusammen. «Die Verstösse sind von internationalen Rechtsanwälten, Menschenrechtsorganisationen, Medien, NGOs und dem UNHCR dokumentiert und belegt.» Dass Frontex-Chef Fabrice Leggeri nicht sofort interveniert, als die ersten Berichte publik wurden, ist für den Juristen «unfassbar».
Frontex unterhält ein internes Kontrollbüro, das sich Grund- und Menschenrechtsfragen innerhalb der Einsätze widmet. Laut Schuler übergeht Leggeri die Berichte der Beauftragten: «Die ehemalige Grundrechtsbeauftragte Inmaculada Arnaez ist am internen Widerstand zerbrochen.» Der Frontex-Chef habe ihre Warnungen ignoriert, die Agentur sei in eklatante Menschenrechtsverletzungen involviert.
Der europäische Rechnungshof rügte im Juni die mangelnde Kontrolle der Agentur. Im Bericht heisst es, die Frontex sei nicht imstande, «ein vollständiges und aktuelles Bild der Lage an den EU-Aussengrenzen zu erstellen». Kritisiert wurde auch die fehlende Berichterstattung über die Wirksamkeit von Einsätzen und deren Kosten. Die letzte Prüfung von aussen habe es im Jahr 2015 gegeben. Mit anderen Worten: Die Agentur operierte sechs Jahre lang im Blindflug.
Im Rahmen des Schengen-Abkommens sind sieben Schweizer Grenzschutzbeamte in Frontex-Missionen unterwegs. Sie schützen laut Simon Erny, Sprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung, die See- und Landesgrenze der EU an der griechisch-albanischen, griechisch-türkischen sowie der bulgarisch-türkischen Grenze und in Cagliari auf Sardinien. Zudem zahle die Schweiz 2021 knapp 24 Millionen Franken an das Budget von Frontex. Der Ständerat bewilligte im Juni als Erstrat eine Erhöhung der Zahlungen auf 61 Millionen pro Jahr.
Laut Erni ist die Schweiz nicht in Pushback-Vorwürfe verwickelt. Die Schweizer Beamten würden weder auf See noch in Frontex-Aufklärungsflugzeugen eingesetzt. Schweizer Beamte seien «verpflichtet, festgestellte Menschenrechtsverletzungen umgehend zu melden». Bis heute seien keine solchen Vorfälle rapportiert worden. Als Konsequenz der jüngsten Vorwürfe an die Frontex habe die Zollverwaltung Vorkehren getroffen: Würden Schweizer bei Frontex zu Pushbacks aufgefordert, «müssen sie sich diesen Befehlen widersetzen». In der Folge würde die Schweiz ihre Grenzschützer umgehend zurückziehen.
Befehlsverweigerung illusorisch
Beat Schuler genügt dies nicht. «Ich habe während meiner Arbeit auf dem Mittelmeer auch Schweizer Grenzbeamte getroffen.» Das Korpsdenken innerhalb von Frontex sei stark: «Es herrscht eine Art polizeilich-militärische Pflicht, sich an die Befehle zu halten.» Wer in solchen streng hierarchischen Situationen gearbeitet habe, wisse, dass es viel Courage brauche, sich Befehlen zu widersetzen. Schuler: «Niemand rapportiert Missbräuche und Menschenrechtsverletzungen. Niemand rapportiert gegen seinen Vorgesetzten.» Laut Schuler haben die Frontex-Leute Angst, den Job zu verlieren. Leggeri sei ein Hardliner. Das wüssten intern alle – Europa scheine ihn zu decken.
Eine interne Arbeitsgruppe der Frontex hat die Pushback-Vorwürfe untersucht und Empfehlungen abgegeben. Ein Whistleblowing-System soll sicherstellen, dass vertraulichen Meldungen sofort nachgegangen wird. Simon Erny sieht darin ein Indiz, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht. Für Beat Schuler hingegen ist das lediglich Tinte auf einem Papier. «Wenn es die Schweiz ernst meint, dass ihre Beamten Menschenrechtsverstösse rapportieren sollen, muss sie selbst ein Whistleblowing-System sicher- stellen.»
Für die Freiburger Migrationsrechtsprofessorin Sarah Progin sind die Schweizer Vorkehren zwar löblich, aber etwas blauäugig: «Befehlsverweigerung? Das ist schwierig in einer konkreten Situation. Sollen sie diese Leute retten, anstatt aus sicherer Entfernung zuschauen?» Für Progin ist klar: Was die Frontex macht, deckt sich mit der Politik der Europäischen Union. Deren Ziel sei klar: «Es sollen so wenige Flüchtlinge wie möglich in Europa ankommen.» Deshalb kooperiere man mit Libyen, mit der Türkei.
Die Schweiz ist mitverantwortlich
Der Basler Migrationsexperte Peter Uebersax stimmt ihr zu: «Offiziell geht es um den Grenzschutz und die Abwehr von Kriminalität und Terrorismus. Abgehalten werden dadurch aber durchaus erwünscht auch Flüchtlinge und Kriegsvertriebene.»
Auf legalem Weg an ein Visum zu kommen, sei «weitgehend illusorisch.» Das Botschaftsasyl gebe es nicht mehr, das humanitäre Visum, wie es die Schweiz und andere Staaten kennen, werde nur «sehr selten gewährt», sagt Uebersax: «Das ist ein Widerspruch. Einerseits wollen wir, dass möglichst wenige Geflüchtete kommen, andererseits sagen wir: Flüchtlinge müssen geschützt werden.» Uebersax erinnert daran, dass die Türkei alleine fast vier Millionen Flüchtlinge aufnahm, im Vergleich zu knapp sieben Millionen der ganzen EU inklusive Grossbritannien.
Laut Sarah Progin ist dokumentiert, dass Geflüchtete widerrechtlich abgeschoben werden. Dafür trage die Schweiz als Frontex-Mitglied eine Mitverantwortung. «Wir können uns dem Vorwurf der Verletzungen von Menschenrechten nur entziehen, wenn wir alles getan haben, damit sie nicht stattfinden.» Aber das werde nicht gemacht. Die Schweiz sei auf der gleichen Linie wie die anderen EU-Staaten. In die Seenotrettung werde nicht investiert – aber in das permanente Ausbauen und Stärken der Grenzschutzanlagen, das Einsetzen von hochentwickelten Drohnen. «Dabei könnte man ein Dutzend weitere Boote finanzieren, die auf dem Mittelmeer patrouillieren und die Leute auffangen. Aber das will man nicht.» Der gemeinsame Tenor aller Frontex-Mitglieder sei: «Grenzschutz um jeden Preis.»
Frontex: Jahresbudget von 626 Millionen Euro
Die Frontex ist als europäische Agentur für den Grenz- und Küstenschutz zuständig. Mit Sitz in Warschau wurde sie 2004 mit dem Ziel gegründet, länderübergreifende Einsätze an den EU-Aussengrenzen zu organisieren und zu koordinieren. Die Schweiz ist über das Schengen-Dublin-System automatisch Frontex-Mitglied. Frontex arbeitet entweder im Rahmen von «Gemeinsamen Operationen» mit Grenzschützern des jeweiligen Landes zusammen. Oder sie hilft aus, wenn ein Land den «Notfallmechanismus» auslöst. Dann unterstehen die Beamten dem Kommando der nationalen Grenzschutzbehörde.
Die Agentur wuchs seit der Gründung stark. 2005 betrug das Budget sechs Millionen Euro. 2020 waren es bereits 626 Millionen Euro. Für die Jahre 2021 bis 2027 will die Kommission das Budget auf über 5 Milliarden Euro erhöhen. Als EU-Agentur wird sie aus dem EU-Budget und durch Beiträge der assoziierten Schengenländer finanziert. Die Schweiz muss 4,5 Prozent beisteuern.
Bis 2027 soll die Agentur über eine eigene Einsatztruppe von 10 000 Grenzschützern verfügen. Diese Erweiterung ist geplant, obwohl aktuell mehrere Untersuchungen von «OLAF», der europäischen Antikorruptionsbehörde, laufen: Frontex soll Millionen ausgegeben haben für Software, die nicht funktioniert, ohne die verantwortlichen Unternehmen dafür in die Pflicht genommen zu haben.
Laut Frontex-Experte Bernd Kasparek bestand der Auftrag von Anfang an auch darin, die «Forschung von Universitäten und Rüstungsunternehmen zu vernetzen». Lobbyismus, vielleicht sogar Korruption, ist laut Kasparek in diesem Netzwerkgedanken beinahe schon angelegt, da es bei der Aufrüstung der EU-Aussengrenze um viel Geld gehe.