Für Daniel Thürer ist klar: «Wie heute schon bei den Wirtschaftsjuristen wird es mehr und mehr zur spezifischen Kompetenz eines jeden Juristen gehören, mit verschiedenen Rechtssystemen, Rechtsordnungen und Rechtsinstituten umzugehen.» Der emeritierte Professor für Völker- und Europarecht setzte sich mit grossem Engagement dafür ein, dass an der Zürcher Uni die Disziplin transnationales Recht als Fach eingeführt wurde. Bereits vor zwei Jahren forderte er: «Die Rechtsausbildung muss wieder einen globalen Charakter gewinnen.» (plädoyer 2/13)
Heute wird die relativ neue Disziplin transnationales Recht an den Universitäten Basel, Zürich, Luzern, St. Gallen und Freiburg gelehrt. Die Uni Basel bietet das neue Gebiet als Vertiefungsrichtung auf Masterstufe seit 2005 an. Laut Sprecherin Karin Sutter-Somm studieren zurzeit lediglich acht Personen die Vertiefungsrichtung transnationales Recht. Das Fach biete sich besonders für Leute an, «die in den diplomatischen Dienst gehen oder bei einer international tätigen Organisation oder Firma arbeiten möchten».
In Zürich wird das Modul seit dem Herbstsemester 2013 gelehrt. Es handelt sich um ein Pflichtfach des Bachelorstudiums (Aufbaustufe) und wird in der Regel im fünften und sechsten Semester besucht. Das Modul umfasst Völkerrecht, Europarecht, Institutionen und transnationales Privatrecht sowie Übungen im transnationalen Recht. «Mit dem Modul wollen wir den Studierenden einen Einblick in grenzüberschreitende Sachverhalte und Problemstellungen sowie in die wichtigsten Instrumente für die Lösung einschlägiger Probleme geben», sagt Tanja Domej, Rechtsprofessorin an der UZH und Dozentin der Lehrveranstaltung «Übungen in transnationalem Recht».
Rechtsordnungen sind keine Inseln
Die Behandlung der Inhalte im Rahmen des Pflichtfachstudiums ist gemäss Domej unverzichtbar, «um Studierenden ein grundlegendes Verständnis der transnationalen Aspekte des Rechts zu vermitteln» und ihnen aufzuzeigen, dass Rechtsordnungen keine «Inseln» seien, die solche Aspekte einfach ausklammern könnten. Dies sei für jeden Juristen nicht nur im Sinn einer umfassenden juristischen Bildung bedeutsam, sondern gerade auch für die Praxis, sagt die Professorin. «Wer ein solches Grundverständnis hat, kann zumindest erkennen, dass ein entsprechendes Problem vorliegt, und dies zum Anlass nehmen, vertiefter in die Frage einzudringen oder eine spezialisierte Fachperson beizuziehen.» Fehle dieses Grundverständnis, würden grenzüberschreitende Bezüge womöglich «einfach ignoriert», was bedeute, «dass der betreffende Rechtsfall dann nicht sachgerecht erledigt wird».
“Lehrgänge mit nur nationalem Recht veraltet”
An der Universität Luzern wird transnationales Recht seit 2006 unterrichtet – und zwar mehrheitlich auf Englisch. Gemäss Kyriaki Topidi, Dozentin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, wächst die Besucherzahl für die Rechtskurse im transnationalen Recht stetig. «Der juristisch-akademische Lehrgang, der ausschliesslich auf nationalem Recht basiert, ist sowohl veraltet als auch unvollständig», sagt Topidi. Transnationale Probleme würden eine wachsende Herausforderung für die bisherigen Modelle juristischer Ausbildung darstellen. Betrachte man beispielsweise die Gebiete Transport, Handel, Terrorismus, Klimawandel oder Immigration, «bekommt man schnell eine erste Idee davon, wie das transnationale Recht für Anwälte und Jus-Studenten an Relevanz gewann».
Für Markus Müller-Chen, Dekan der juristischen Fakultät an der Universität St. Gallen (HSG), ist transnationales Recht ein «schillernder Begriff». Jeder scheint laut dem Dekan darunter etwas anderes zu verstehen. Deshalb biete die HSG dazu nicht einen einzelnen Kurs an, sondern einen «Master in International Law», der alle Disziplinen umfasse, die sich mit grenzüberschreitenden, wirtschaftsrechtlichen Sachverhalten befassen, unabhängig von ihrer Rechtsnatur und den involvierten Akteuren. «Es sind dies vor allem das Europarecht, das Völkerrecht und die Rechtsvergleichung», sagt Müller-Chen.
Dass das transnationale Recht immer mehr an Bedeutung gewinnt, zeigt sich auch an der Gründung des «Center for Transnational Legal Studies» (CTLS) in London. Es wurde 2008 von neun Rechtsfakultäten gegründet (Esade, Spanien; Georgetown, Washington; Hebräische Universität Jerusalem, Israel; King’s College, London; Nationaluniversität Singapur; Universität Melbourne, Australien; Universität Toronto, Kanada; Universität Turin, Italien sowie der Universität Freiburg). Das Center empfange pro Partneruniversität je 14 Studenten, sagt Pascal Pichonnaz, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Freiburg. Jedes Jahr unterrichte auch ein Freiburger Professor am CTLS. Zurzeit ist das Rechtsprofessor Marcel A. Niggli.
Die Unternehmen seien heute global ausgerichtet, so Pichonnaz: «Ein guter Jurist muss sein eigenes Recht kennen, vor allem, um seine eigene Herkunft zu verstehen. Dann muss er das Umfeld – das juristische wie auch das kulturelle, soziale und politische – verstehen, damit er in der Lage ist, sein Verständnis einer bestimmten Situa-tion oder eines Problems juristisch zu erklären und das Verständnis des anderen zu verstehen.»
“Pacta sunt servanda” in China weniger gebräuchlich
Laut Pichonnaz spricht man über juristische Angelegenheiten mit einem Amerikaner nicht gleich wie mit einem Chinesen oder einem Singapurer, auch wenn man im gleichen Unternehmen arbeite. Als Beispiel nennt er religiöse Aspekte, die oft eine Rolle spielten. «Oder wenn man einen Vertrag mit einer chinesischen Partei abschliesst, heisst es nicht unbedingt, dass dieser Vertrag ohne Änderungen für die ganze vorgesehene Dauer gelten wird.» Nach einer Weile werde man eine Bitte um Neuverhandlung bekommen. Die andere Partei könne dann nicht einfach sagen, der Vertrag gelte (pacta sunt servanda), weil keine neuen Ereignisse – die eine Änderung rechtfertigten – hinzugekommen seien. Die Partei müsse vielmehr neu verhandeln, sonst scheitere das ganze Geschäft.
Da die Schweiz viele international tätige Unternehmen aufweise müsse diese Fähigkeit bei den Studenten unbedingt entwickelt werden. Transnationales Recht brauche man heute fast überall und in jedem Gebiet, so der Dekan: Schon bei einer Scheidung in der Schweiz brauche man immer öfter ein Verständnis von transnationalem Recht. Wichtig sei es aber vor allem im Bereich des Wirtschaftsrechts, des internationalen Rechts oder auch bei NGOs.
Es geht also um eine intellektuelle Einstellung des Juristen. Daniel Thürer: «Die Fähigkeit von Wissenschaftern und Praktikern, in offenen Systemen des Rechts zu denken und sich darin zu bewegen, wird für die Zukunft immer wichtiger.» Fälle mit komplizierten Konstellationen würden häufiger. «Was wir heute machen, ist eher Blockdenken, immer nur von einer Disziplin aus.» Viel wichtiger sei es, dass Juristen lernen, strategisch und in grösseren Zusammenhängen zu denken.