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5. Vorbemerkungen 1
5.1 Ausgangslage
Art. 66a ff. StGB setzen Art. 121 Abs. 3 – 6 BV (Bestimmungen der sogenannten «Ausschaffungsinitiative») um. Stossrichtung dieser nicht direkt anwendbaren2 Verfassungsbestimmungen ist, dass kriminelle ausländische Personen die Schweiz zu verlassen haben, wenn sie wegen bestimmter Delikte verurteilt wurden. Die Gesetzesnormen sind aber, wie alle andern Gesetze auch, anhand der üblichen Auslegungsregeln zu interpretieren.
Nebst den klassischen Auslegungselementen (Wortlaut, Zweck, Systematik und Entstehungsgeschichte der Norm) gilt es dabei den Grundsatz der verfassungs- und völkerrechtskonformen Interpretation zu beachten. Dazu zählt, dass bei der Gesetzesanwendung (nebst Art. 121 Abs. 3 – 6 BV) auch dem übrigen Verfassungsrecht im Sinne der praktischen Konkordanz sowie den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz in geeigneter Weise Rechnung zu tragen ist. Dies ergibt sich schon aus den allgemeinen Auslegungsregeln3 und wird hier zusätzlich unterstrichen durch die Ablehnung der sogenannten Durchsetzungsinitiative durch Volk und Stände,4 wodurch die Gesetzesnovelle indirekt bestätigt und einem uneingeschränkten Ausweisungsautomatismus die Absage erteilt wurde.
Ausgangspunkt bleibt dennoch, dass im Rahmen der obligatorischen Landesverweisung, d.h. bei Vorliegen bestimmter, im Gesetz aufgeführter Anlasstaten (vgl. Art. 66a Abs. 1 StGB), die strafrechtliche Verurteilung im Regelfall (mit Ausnahmen wie der entschuldbaren Notwehr oder dem entschuldbaren Notstand; vgl. Art. 66a Abs. 3 StGB) im Sinne eines grundsätzlichen «Automatismus» zu einer Landesverweisung führen soll. Dabei ist verfassungsrechtlich gewollt und in Kauf zu nehmen, dass ausländische Straftäter anders behandelt werden als schweizerische. Diese Ungleichbehandlung lässt sich aufgrund der Staatsangehörigkeit und angesichts der den Schweizerinnen und Schweizern vorbehaltenen Niederlassungsfreiheit (Art. 24 BV) grundsätzlich rechtfertigen, jedoch nur so lange, als sachlich nachvollziehbar Gründe dafür erkennbar sind.5
Von einer obligatorischen Landesverweisung kann der Strafrichter ausnahmsweise absehen, wenn die Voraussetzungen von Art. 66a Abs. 2 StGB erfüllt sind. Bei der fakultativen Landesverweisung, die dann Anwendung finden kann, wenn eine Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Vergehens erfolgt, das nicht von Art. 66a StGB erfasst wird (vgl. Art. 66abis StGB), gibt es diese Wechselwirkung von Regel und Ausnahme zwar logischerweise nicht, da die Landesverweisung ohnehin ins Ermessen des Strafrichters gestellt ist. Dennoch hat der Strafrichter auf eine fakultative Landesverweisung zu verzichten, wenn er gestützt auf Art. 66a Abs. 2 StGB von einer obligatorischen Landesverweisung absehen würde.
Die neue Landesverweisung ist nicht mehr gleich ausgestaltet wie die altrechtliche nach Art. 55 aStGB. Es kann daher nicht unbesehen integral an die frühere Auslegung und Praxis angeknüpft werden. Im Unterschied zu früher ersetzt die neue Landesverweisung die ausländerrechtliche Wegweisung, womit die damals mögliche Kumulation gleichgerichteter Massnahmen (Dualismus) verhindert werden soll.6
Es gilt also zu beachten, dass die neue Landesverweisung nicht nur strafrechtlicher Natur ist, sondern auch die ausländerrechtliche Funktion übernimmt, was zwangsläufig Auswirkungen auf ihre Anwendung haben muss. Es handelt sich in diesem Sinne um eine strafrechtliche sichernde Massnahme mit migrationsrechtlicher Wirkung.7
Diese gemischte Rechtsnatur schliesst nicht aus, frühere Auslegungsgrundsätze wieder aufzunehmen, soweit sie angesichts der neurechtlichen Ausgestaltung der Landesverweisung für eine sinnvolle Umsetzung des Gesetzes geeignet erscheinen. Der Doppelcharakter führt jedoch dazu, dass sowohl strafrechtliche Grundsätze (wie das Verschuldens- oder das Resozialisierungsprinzip) als auch migrationsrechtliche Gesichtspunkte (etwa ordnungspolizeilicher Natur) zu beachten und miteinander in Einklang zu bringen sind. Für die dem früheren Dualismus eigene weitgehende Aufspaltung von straf- und ausländerrechtlichen Interessen8 besteht damit kein Raum mehr.
5.2 Migrationsrechtliche Tragweite
Die Gesetzesnovelle enthält nicht nur neue strafrechtliche Bestimmungen, sondern auch solche im Ausländer- und Asylrecht. Das unterstreicht die auch migrationsrechtliche Komponente der neuen Landesverweisung.
Migrationsrechtlich entfaltet die Landesverweisung eine kombinierte Entfernungs- (wie die Weg- und Ausweisung nach Art. 64 ff. AuG bzw. Art. 44 ff. AsylG) und Fernhaltewirkung (wie das Einreiseverbot nach Art. 67 AuG); insofern ist sie vergleichbar mit der altrechtlichen Ausweisung gemäss Art. 10 ANAG und der ebenfalls altrechtlichen Landesverweisung nach Art. 55 aStGB. Ordentliche Wirkung einer Entfernungsmassnahme ist die Pflicht, die Schweiz zu verlassen, in der Regel freiwillig, bei Bedarf zwangsweise durch behördliche Ausschaffung. Die Undurchführbarkeit des Entfernungsvollzugs führt im Normalfall unter bestimmten Voraussetzungen zur vorläufigen Aufnahme (nach Art. 83 ff. AuG), was bei der neuen Landesverweisung allerdings gesetzlich ausgeschlossen ist (Art. 83 Abs. 9 AuG). Die ordentliche Wirkung einer Fernhaltemassnahme ist das Verbot, in die Schweiz einzureisen.
6. Die Härtefallklausel
6.1 Auslegungsgrundsätze
6.1.1 Ausgangslage
Art. 66a Abs. 2 StGB lautet wie folgt: «Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.»
Der Gesetzgeber hat mit seiner Formulierung klar zum Ausdruck gebracht, dass bei Vorliegen einer Anlasstat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 AuG in der Regel eine Landesverweisung zu verhängen ist. Ein ausnahmsweises Absehen davon ist nur dann zulässig, wenn die Landesverweisung beim verurteilten Ausländer zu einem schweren persönlichen Härtefall führen würde. Der Strafrichter wird festlegen müssen, was er unter dem unbestimmten Rechtsbegriff «schwerer persönlicher Härtefall» versteht.
Nachdem die Landesverweisung zumindest in ihrer Auswirkung auch eine migrationsrechtliche Komponente enthält und der Begriff des «Härtefalles» aus dem Migrationsrecht bekannt ist und umfassend konkretisiert wurde, drängt es sich auf, die Umschreibung des schweren persönlichen Härtefalles gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB in Anlehnung oder zumindest unter Berücksichtigung der migrationsrechtlichen Härtefalldefinition9 vorzunehmen. Angesichts der unterschiedlichen Funktionen ist der strafrechtliche aber nicht mit dem migrationsrechtlichen Härtefall identisch. Unabhängig davon ist nicht leichthin von einem Härtefall auszugehen, da der Strafrichter nur ausnahmsweise von der Landesverweisung absehen darf.
Der Gesetzgeber hat die Härtefallregel zwar als Kann-Norm ausgestaltet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Strafrichter völlig frei eine Landesverweisung auch dann aussprechen kann, wenn einiges auf einen Härtefall und ein nicht überwiegendes öffentliches Interesse hindeutet. Einerseits hat der Strafrichter die Voraussetzungen des Härtefalls von Amtes wegen zu prüfen und sich dabei zwingend mit den vorgebrachten Argumenten des Betroffenen sowie den sich aus den Akten ergebenden Härtefallaspekten auseinanderzusetzen, um seiner Begründungspflicht nachzukommen; andererseits ist bei der Anordnung einer Landesverweisung eine mit supranationalen Normen vereinbare Rechtsprechung anzustreben.
Art. 66a Abs. 2 StGB gilt primär für die obligatorische Landesverweisung. Liegt ein Härtefall vor, ist dieser aber auch für die fakultative Landesverweisung beachtlich, wobei dem nicht zwingenden Charakter der fakultativen Landesverweisung bereits dadurch Rechnung zu tragen ist, dass diese nur mit Zurückhaltung angeordnet werden sollte (vgl. auch hinten Ziff. 6.1.4 f.).
6.1.2 Zwei-Stufen-Regelung
Nachdem ein Absehen von der Landesverweisung bei Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalles nur dann in Betracht fällt, wenn das öffentliche Interesse an der Landesverweisung die privaten Interessen an einem Verbleib nicht überwiegen, hat der Strafrichter festzulegen, worin er das öffentliche und das private Interesse erblickt, wie hoch er die Interessen im konkreten Einzelfall veranschlagt und ob er das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz mindestens als gleich hoch einstuft wie das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung. Nur wenn er Letzteres bejaht, steht ein Absehen von der Landesverweisung gestützt auf Art. 66a Abs. 2 StGB zur Diskussion. Überwiegt das öffentliche Interesse, bleibt es selbst dann bei der Landesverweisung, wenn diese einen schweren persönlichen Härtefall bewirkt.
Art. 66a Abs. 2 StGB normiert in diesem Sinne unseres Erachtens zwei kumulativ erforderliche Voraussetzungen (Härtefall und nichtüberwiegendes öffentliches Interesse), die beide erfüllt sein müssen, damit von der Landesverweisung abgesehen werden kann. In einem zweistufigen Verfahren ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob überhaupt ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt. Falls dem so ist, und nur dann, ist in einem zweiten Schritt eine Gegenüberstellung der öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen und zu klären, ob von der Landesverweisung effektiv abgesehen werden kann, weil das öffentliche Interesse nicht überwiegt. Wie noch zu zeigen sein wird, besteht eine Kongruenz hinsichtlich der bezüglich des Härtefalles zu beachtenden Aspekte mit den für die Quantifizierung des privaten Interesses zu berücksichtigenden Gesichtspunkten. Liegt ein Härtefall vor, impliziert dies immer ein erhebliches privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz.
Das Absehen von der Landesverweisung wurde durch den Gesetzgeber demnach so konzipiert, dass ein gleich grosses oder gar überwiegendes privates Interesse allein nicht genügt. Eine solche Situation könnte sich beispielsweise dann ergeben, wenn der Betroffene wegen einer relativ geringfügigen Anlasstat verurteilt wird und das öffentliche Interesse entsprechend tief zu veranschlagen ist. Kann der Betroffene kein grosses privates Interesse geltend machen, genügt dies zwar allenfalls, um das öffentliche Interesse zumindest aufzuwiegen, nicht aber, um einen schweren persönlichen Härtefall zu bewirken. Würde Art. 66a Abs. 2 StGB so ausgelegt, dass trotz fehlenden Härtefalles einzig aufgrund einer Interessenabwägung von einer Landesverweisung abgesehen wird, hätte dies zur Folge, dass dem Härtefall keine eigenständige Bedeutung zukäme, was kaum in der Intention des Gesetzgebers lag.
6.1.3 Besondere Regelung für ausländische Personen der zweiten Generation
Art. 66a Abs. 2 StGB verlangt, dass der Geburt und dem Aufwachsen in der Schweiz besonders Rechnung zu tragen ist. Folgt man der Zwei-Stufen-Theorie, liegt ein schwerer persönlicher Härtefall immer dann vor, wenn der Betroffene in der Schweiz geboren oder hier aufgewachsen ist. Zudem ist den Betroffenen im Rahmen der zwingend vorzunehmenden Interessenabwägung ein entsprechend grosses privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz zuzubilligen.
6.1.4 Obligatorische und fakultative Landesverweisung
Auch wenn die Härtefallklausel gesetzessystematisch in Art. 66a Abs. 2 StGB und damit unter der Marginalie der obligatorischen Landesverweisung normiert wurde, ist sie auch bei der Prüfung der nichtobligatorischen Landesverweisung gemäss Art. 66abis StGB zu beachten. Gleiches gilt, wenn die Landesverweisung im Wiederholungsfall gestützt auf Art. 66b StGB ausgesprochen werden soll.
Dem Strafrichter steht es frei, auf die fakultative Landesverweisung ohne weitere Begründung zu verzichten. Zieht er sie aber in Betracht und liegt ein Härtefall vor, muss gleich wie bei der obligatorischen Landesverweisung ein überwiegendes öffentliches Interesse vorliegen, damit eine fakultative Landesverweisung ausgesprochen werden darf. Überdies sind die im Heimatland schlechteren Resozialisierungschancen bei der fakultativen Landesverweisung mit Blick auf das Vorliegen eines Härtefalles stärker zu gewichten, da bei in der Schweiz klar besseren Resozialisierungschancen gänzlich darauf zu verzichten ist (dazu insbesondere hinten Ziff. 6.4.6).
6.1.5 Berücksichtigung der migrationsrechtlichen Folgen
Die migrationsrechtlichen Auswirkungen einer Landesverweisung (dazu hinten Ziff. 7) sind für die Betroffenen häufig einschneidender als die Strafe selbst. Sie sind unseres Erachtens zwingend beim Härtefallentscheid mitzuberücksichtigen. Angesichts des Doppelcharakters der Landesverweisung, des damit verbundenen Eingriffs in die privaten Verhältnisse der betroffenen Personen und der Bindungswirkung des Strafurteils für die Migrationsbehörden dürfen die entsprechenden Folgen nicht unbeachtet bleiben. Die Auswirkungen können falladäquat sowohl bei der Prüfung des Härtefalles als auch bei der daran anschliessenden Interessenabwägung eine Rolle spielen.
Die Annahme eines strafrechtlichen Härtefalles und der darauf folgende Verzicht auf eine (obligatorische oder fakultative) Landesverweisung führen umgekehrt angesichts der nicht völlig deckungsgleichen Voraussetzungen nicht zwingend auch zur Bejahung eines migrationsrechtlichen Härtefalles (insbesondere nach Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG). Da die Beurteilungskriterien nicht identisch sind und für die Migrationsbehörden insofern keine Bindungswirkung normiert wurde, verbleibt diesen somit ein entsprechendes Ermessen, selbst wenn der Strafrichter auf eine Landesverweisung verzichtet hat.
6.1.6 Verhältnis Härtefall und Vollzugsaufschub nach Art. 66d StGB
Nach Art. 66d StGB kann der Vollzug der obligatorischen Landesverweisung nur aufgeschoben werden, wenn der Betroffene ein von der Schweiz anerkannter Flüchtling ist und durch die Landesverweisung sein Leben oder seine Freiheit aus einem flüchtlingsrelevanten Grund gefährdet würde, ausser er kann sich gemäss Art. 5 Abs. 2 AsylG nicht auf das Rückschiebungsverbot berufen. Ein Vollzugsaufschub ist immer angezeigt, wenn andere zwingende Bestimmungen des Völkerrechts dem Vollzug entgegenstehen (Abs. 1); dabei gilt die Vermutung, dass die Ausweisung (richtig der Wegweisungsvollzug) in einen vom Bundesrat als sicher anerkannten Staat nicht gegen Art. 25 Abs. 2 und 3 BV verstösst (Abs. 2). Die Vermutung einer allgemeinen Verfolgungssicherheit kann jedoch im Einzelfall durch den Nachweis konkreter gegenteiliger Fakten umgestossen werden.10
Art. 66d StGB ist verschiedenen Interpretationen zugängig. Unseres Erachtens schliesst die Bestimmung nicht aus, Vollzugshindernisse bereits bei der Anordnung der Landesverweisung in Betracht zu ziehen.11 Richtig ist zwar, dass auch im Vollzugsstadium Vollzugshindernisse immer noch beachtlich sind, was das Bundesgericht im Übrigen schon bei der altrechtlichen Landesverweisung so entschieden hatte.12 Es erschiene aber unlogisch, den Gesichtspunkt der Zulässigkeit des Vollzugs (dazu Art. 83 Abs. 3 AuG) bei der Prüfung des Härtefalles überhaupt nicht zu berücksichtigen und einzig auf das eigentliche Vollzugsstadium zu verschieben. Art. 66d StGB beschränkt den Vollzug lediglich aus bestimmten, eng definierten Gründen. Es rechtfertigt sich nicht, die übrigen, überdies rechtlich weniger bindenden, Vollzugshindernisse wie die Unmöglichkeit oder die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs (vgl. dazu Art. 83 Abs. 1, 2 und 4 AuG) gegenüber dem Rückschiebungsschutz zu privilegieren.
Eine enge Auslegung hätte auch die Benachteiligung des völkerrechtlich zwingenden Non-Refoulement-Gebots gegenüber dem übrigen Völkerrecht wie zum Beispiel dem Schutz des Familienlebens nach Art. 8 EMRK, der in Art. 66d StGB nicht genannt wird, zur Folge. Die Unmöglichkeit des Vollzugs schliesst den Vollzug ebenfalls aus (vgl. Art. 83 Abs. 2 AuG) und muss jedenfalls dann, wenn die Unmöglichkeit nicht vom Betroffenen zu verantworten ist, Beachtung finden.13 Auch eine allfällige Unzumutbarkeit des Vollzugs (wegen Krieg, Bürgerkrieg, einer anderen Gewaltsituation, aus medizinischen oder aus sonstigen Gründen; vgl. Art. 83 Abs. 4 AuG) ist im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen.14
Zusammenfassend sind demnach alle gegen den Vollzug sprechenden Umstände auch im Rahmen der Härtefallprüfung zu beachten, soweit sie in diesem Zeitpunkt bereits vorliegen. Art. 66d StGB ist in dem Sinne auszulegen, dass damit lediglich der Umgang mit nachträglich auftretenden, d.h. nach Anordnung der Landesverweisung und daher dabei nicht berücksichtigten, in der Bestimmung genannten Vollzugshindernissen erfasst wird. Für andere nachträglich auftretende vollzugshindernde Umstände wie etwa neue familiäre Beziehungen, die eine Berufung auf Art. 13 BV und Art. 8 EMRK zulassen, muss demgegenüber wohl auf Art. 67 Abs. 5 AuG ausgewichen werden, da das Gesetz dafür weder einen Revisionsgrund noch sonst eine Rückkommensmöglichkeit auf das strafgerichtliche Urteil vorsieht.15
6.2 Inhalt und Einfluss supranationaler Rechtsnormen
6.2.1 Grundsatz
Wie bereits in den Vorbemerkungen dargelegt (vgl. vorne Ziff. 5.1), darf eine Landesverweisung nur im Einklang mit dem Verfassungs- und Völkerrecht ausgesprochen werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei das Refoulement-Verbot, die Garantie des Privat- und Familienlebens sowie die Frage der Vereinbarkeit mit dem Freizügigkeitsrecht.
6.2.2 Rückschiebungsschutz
Besteht der begründete Verdacht einer drohenden Verletzung des Non-Refoulement-Gebots (nach Art. 3 EMRK, Art. 33 FK, Art. 3 FolterK, Art. 25 Abs. 2 und 3 BV), hat der Strafrichter das Vorliegen eines Non-Refoulement-Verstosses im Rahmen der Härtefallprüfung abzuklären. Wird das Non-Refoulement-Gebot durch die Landesverweisung verletzt, liegt ein Härtefall vor und ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Unzulässig ist ein Ausserachtlassen des Refoulement-Verbots durch den Strafrichter unter Hinweis auf den Vollzugsaufschub gemäss Art. 66d StGB, da mit Art. 66d StGB keine Exklusivprüfung des Non-Refoulement-Gebots durch die zuständige Vollzugsbehörde postuliert wird.
Die Anordnung eines Vollzugsaufschubs gestützt auf Art. 66d StGB ist primär für diejenigen Fälle gedacht, bei denen im Zeitpunkt der Landesverweisung noch keine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots im Raum stand (vgl. auch vorne Ziff. 6.1.6). Ob das Rückschiebungsverbot eine Landesverweisung verhindert, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab.
Ist das Rückschiebungshindernis zum Beispiel vorübergehender Natur und dessen Wegfall absehbar, etwa ein solches aufgrund einer heilbaren Krankheit, die vorläufig, aber nicht auf Dauer, eine Ausreise verunmöglicht, rechtfertigt es sich nicht, deswegen einen Härtefall anzunehmen, sondern es genügt, diesem Umstand durch einen geeigneten Vollzugsaufschub Rechnung zu tragen. Handelt es sich aber um ein prospektiv dauerhaftes Vollzugshindernis, muss dies angesichts der ansonsten weitreichenden Folgen einer Landesverweisung bereits bei der Beurteilung des Härtefalles eine Rolle spielen.16
6.2.3 Schutz von Privat- und Familienleben
Die Auswirkungen einer Landesverweisung auf das Privat- und Familienleben sind ebenfalls bereits bei der Prüfung des Härtefalles und allenfalls ergänzend bei der anschliessenden Interessenabwägung zu berücksichtigen. Droht insbesondere ein Eingriff in das entsprechende Grund- und Menschenrecht nach Art. 13 BV bzw. Art. 8 EMRK, müssen die entsprechenden Eingriffsvoraussetzungen geprüft werden. Liegt ein Eingriff vor, ist zwingend von einem Härtefall auszugehen und die gemäss Art. 36 BV bzw. Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderliche Interessenabwägung muss im Rahmen der Interessenabwägung von Art. 66a Abs. 2 StGB vorgenommen werden.17
Die Landesverweisung ist nur zulässig, wenn sie mit dem Verfassungs- und Völkerrecht und dabei insbesondere mit Art. 8 EMRK zu vereinbaren ist.18 Besonders zu beachten ist dabei das Kindeswohl (vgl. Art. 3, 9 und 10 KRK).19 Unklar erscheint, was bei erst nachträglichem Auftreten massgeblicher privater oder familiärer Beziehungen gilt (dazu vorne Ziff. 6.1.6).
6.2.4 Freizügigkeitsrecht
Keine Frage des Härtefalles bildet demgegenüber der Aspekt der Vereinbarkeit einer Landesverweisung mit dem Freizügigkeitsrecht. Nach Art. 5 Anhang I FZA dürfen die Freizügigkeitsrechte nur durch Massnahmen beschränkt werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.
Die Rechtsprechung setzt dazu ein persönliches Verhalten voraus, das eine gegenwärtige, d.h. auch nach der zu beurteilenden Straftat weiter bestehende, hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. Es kommt mithin massgeblich auf die Rückfallgefahr und die Schwere des Delikts an.20
Sind die Voraussetzungen eines zulässigen Eingriffs in die Freizügigkeitsrechte nicht erfüllt, erweist sich eine Landesverweisung gegenüber Angehörigen der EU und Efta als überhaupt ausgeschlossen, ohne dass ein Härtefall zu prüfen wäre. Dem Freizügigkeitsrecht kommt mit Blick auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts insofern Vorrang vor dem Landesrecht zu, sollte das Bundesgericht an seiner Rechtsprechung festhalten, wovon hier ausgegangen wird.21 Liegen allerdings die Voraussetzungen einer Beschränkung nach Art. 5 Anhang I FZA vor, so steht das Freizügigkeitsrecht einer Landesverweisung nicht entgegen. Auch in diesem Fall ist aber vor der Anordnung der Landesverweisung der Härtefall nach Art. 66a Abs. 2 StGB zu prüfen.
6.3 Schwerer persönlicher Härtefall
6.3.1 Migrationsrechtlicher Härtefall
Im Migrationsrecht wurde der Härtefall in Art. 31 VZAE in Anlehnung an die entsprechende Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts konkretisiert.22 Abs. 1 dieser Bestimmung lautet wie folgt:
«Liegt ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vor, kann eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. Bei der Beurteilung sind insbesondere zu berücksichtigen:
a) die Integration der Gesuchstellerin oder des Gesuchstellers;
b) die Respektierung der Rechtsordnung durch die Gesuchstellerin oder den Gesuchsteller;
c) die Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der Einschulung und die Dauer des Schulbesuchs der Kinder;
d) die finanziellen Verhältnisse sowie der Wille zur Teilhabe am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung;
e) die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz;
f) der Gesundheitszustand;
g) die Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat.»
Die aufgeführten Kriterien sind nicht abschliessend. Sie beziehen sich einerseits auf härtefallbegründende Umstände (lit. a, c, e, f und g) und andererseits auf Aspekte des öffentlichen Interesses, die der Erteilung einer Härtefallbewilligung entgegenstehen können.
Wie bei der Härtefallprüfung nach Art. 66a Abs. 2 StGB ist auch bei der migrationsrechtlichen Härtefallprüfung zunächst zu klären, ob überhaupt ein Härtefall vorliegt, weshalb diesbezüglich nur die härtefallbegründenden bzw. privaten Interessen an einem Aufenthalt in der Schweiz beachtlich sind. Liegt ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vor, ist die Aufenthaltsbewilligung grundsätzlich zu erteilen, es sei denn, der Erteilung der Bewilligung stehen Gründe entgegen, die zu einem überwiegenden öffentlichen Interesse an der Bewilligungsverweigerung führen.
Keinen Einfluss auf das Vorliegen eines Härtefalles hat dabei die Respektierung der Rechtsordnung (lit. b). Sie stellt vielmehr eine Selbstverständlichkeit dar und hat nichts mit der Frage zu tun, ob die Verweigerung des Aufenthalts in der Schweiz zu einem Härtefall führt. Wird die Rechtsordnung nicht respektiert, ist im Rahmen der Bewilligungserteilung zu prüfen, ob, und wenn ja, inwieweit das öffentliche Interesse einer Bewilligungserteilung entgegensteht. Die wirtschaftlichen Verhältnisse (lit. d) können sowohl Härtefallelemente als auch öffentliche Interessen darstellen.
6.3.2 Härtefallkriterien zu Art. 66a Abs. 2 StGB
Nach dem Gesagten sind bei der Prüfung, ob im konkreten Einzelfall ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliegt, insbesondere die folgenden Aspekte zu beachten:23
- Anwesenheitsdauer
- Familiäre Verhältnisse
- Arbeits- und Ausbildungssituation
- Persönlichkeitsentwicklung
- Grad der Integration
- Resozialisierungschancen.
Bei sämtlichen Aspekten ist der Fokus einerseits auf die Situation in der Schweiz und andererseits auf die Situation im Heimatland zu legen. Bildlich gesprochen ist der Frage nachzugehen, ob der Betroffene in der Schweiz als Baum betrachtet derart verwurzelt ist, dass ein Herausreissen eine nicht hinzunehmende Härte darstellt, bzw. ob der Betroffene als keimendes Pflänzchen betrachtet in seinem Heimatland auf einen derart fruchtlosen Boden trifft, dass ihm eine Rückkehr nicht zugemutet werden kann.
Härtefallbegründende Aspekte müssen gemäss Wortlaut «für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken» und damit grundsätzlich den Betroffenen selbst treffen. Treten sie bei Dritten, z. B. bei Familienangehörigen, auf, sind sie nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich zumindest indirekt auch auf den Betroffenen auswirken.
Ein schwerer persönlicher Härtefall ist dann anzunehmen, wenn die Summe aller Schwierigkeiten den Betroffenen derart hart trifft, dass ein Verlassen der Schweiz bei objektiver Betrachtung zu einem nicht hinnehmbaren Eingriff in seine Daseinsbedingungen führt.
6.4 Elemente im Einzelnen
6.4.1 Anwesenheitsdauer
Nachdem Art. 66a Abs. 2 StGB explizit verlangt, der besonderen Situation von Ausländern sei Rechnung zu tragen, wenn sie in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind, ist automatisch von einem Härtefall auszugehen, wenn eine der beiden Voraussetzungen gegeben ist.
Zu klären bleibt, wann ein Betroffener als in der Schweiz aufgewachsen gilt. Im Sinne einer Minimalvoraussetzung ist von einem Aufwachsen in der Schweiz jedenfalls dann auszugehen, wenn die prägende Jugendzeit und Adoleszenzphase in der Schweiz verbracht wurde.24 In Anlehnung an die im schweizerischen Migrationsrecht geltenden Fristen für den Nachzug von Kindern (vgl. Art. 47 Abs. 1 AuG) ist von einem Aufwachsen in der Schweiz dann auszugehen, wenn die Einreise in die Schweiz vor Abschluss des zwölften Altersjahres erfolgte. Darüber hinaus ist ein Härtefall anzunehmen, wenn die Landesverweisung aufgrund der langen Aufenthaltsdauer zu einem Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben führt.
6.4.2 Familiäre Verhältnisse
Hat ein Betroffener Familienangehörige in der Schweiz, kann die Landesverweisung zu einem Eingriff in die Beziehungssituation führen, sofern es den Familienangehörigen nicht zumutbar ist, die Schweiz gemeinsam zu verlassen. Ob für die Annahme eines Härtefalles die Eingriffsintensität derart hoch sein muss wie beim Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben, hat der Strafrichter zu entscheiden.
Im Sinne einer EMRK-konformen Auslegung der Härtefallklausel ist in jedem Fall dann von einem Härtefall auszugehen, wenn das Familienleben gemäss der einschlägigen Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK aufgrund der Landesverweisung als berührt gilt.
6.4.3 Arbeits- und Ausbildungssituation
Bei der Arbeits- und Ausbildungssituation ist entscheidend, ob der Betroffene aus einem stabilen Umfeld herausgerissen wird, welches er im Heimatland nicht wieder aufbauen kann. Dabei sind in der Regel berufliche Veränderungen ohne weiteres zumutbar und hinzunehmen.
Es stellt sich insbesondere nicht die Frage, in welchem Land der Betroffene bessere wirtschaftliche Bedingungen vorfindet. Ein Härtefall ist nur dann anzunehmen, wenn der Aufbau einer beruflichen Existenz praktisch unmöglich erscheint oder er sich derart beruflich spezialisiert hat, dass ein auch nur einigermassen äquivalentes Arbeitsumfeld in seinem Heimatland nicht existiert und eine Aufgabe seiner Tätigkeit für ihn einen sehr grossen Eingriff bedeuten würde.
6.4.4 Entwicklung der Persönlichkeit
Weist ein Betroffener nach der begangenen Anlasstat eine überaus positive Persönlichkeitsentwicklung aus, die durch die Landesverweisung zunichte gemacht würde, kann dies auf das Vorliegen eines Härtefalles hindeuten.25
6.4.5 Grad der Integration und Reintegrationschancen im Heimatland
Unabhängig von der Aufenthaltsdauer ist einerseits zu prüfen, ob der Betroffene in sprachlicher, sozialer, kultureller, religiöser und persönlicher Hinsicht oder aufgrund weiterer Aspekte derart verwurzelt ist, dass ein Verlassen der Schweiz für ihn eine nicht hinzunehmende Härte bedeuten würde. Andererseits ist mit Blick auf die gleichen Aspekte zu klären, ob der Betroffene auf unüberwindbare Hindernisse bei der Reintegration in seinem Heimatland stossen würde.
Reintegrationshindernisse sind dabei nicht leichthin anzunehmen. Immerhin muten sich viele freiwillig Migrierende zu, in einem neuen Land Fuss zu fassen, ohne dass sie die Sprache beherrschen oder auf ein enges Beziehungsnetz zurückgreifen können. Weshalb dies straffällig gewordenen Ausländern, die des Landes verwiesen werden sollen und in ihr Heimatland zurückkehren müssen, nicht ebenso zumutbar sein soll, ist nicht ersichtlich.26 Führt die Landesverweisung jedoch zu einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots, liegt zwangsläufig ein Härtefall vor.
6.4.6 Resozialisierungschancen
Dass der Strafrichter zu klären hat, wo ein Betroffener die besseren Resozialisierungschancen hat, liegt auf der Hand. Ein Härtefall ist jedoch nicht bereits dann anzunehmen, wenn die Resozialisierungschancen in der Schweiz besser sind als im Heimatland, sondern erst, wenn die Resozialisierung im Heimatland praktisch unmöglich oder zumindest deutlich schlechter erscheint.
Demgegenüber können in der Schweiz günstigere Resozialisierungschancen den Ausschlag dafür geben, dass von der Anordnung einer fakultativen Landesverweisung abzusehen ist, da die Landesverweisung für die Resozialisierung nicht förderlicher ist.
6.4.7 Gesamtbetrachtung
Ob ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt, ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu eruieren. Dabei sind sämtliche härtefallbegründenden Aspekte zu berücksichtigen und zu bewerten. Von einem Härtefall ist dann auszugehen, wenn die Landesverweisung insgesamt zu einem derart gravierenden Eingriff führen würde, dass für den Betroffenen ein Verlassen der Schweiz eine nicht hinnehmbare Härte darstellt. Wann ein solch gravierender Eingriff vorliegt, hat der Strafrichter zu entscheiden.
6.5 Interessenabwägung
6.5.1 Grundsatz und Diskrepanz zum verwaltungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzip
Erst wenn feststeht, dass die Landesverweisung einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde, ist in einem zweiten Schritt das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz dem öffentlichen Interesse an einem Verlassen der Schweiz gegenüberzustellen. Resultiert daraus ein überwiegendes öffentliches Interesse, muss die Landesverweisung verhängt werden.
Von einer Landesverweisung darf also nur dann abgesehen werden, wenn das öffentliche Interesse kleiner oder gleich gross ist wie das private Interesse. Bei genauer Betrachtung lässt der Wortlaut von Art. 66a Abs. 2 StGB sogar zu, dass der Strafrichter die Landesverweisung trotz Vorliegens eines Härtefalles und trotz Nichtüberwiegens des öffentlichen Interesses anordnet.
Art. 66a Abs. 2 StGB steht damit vom Wortlaut her im Widerspruch zum verwaltungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzip, wonach eine Massnahme nur dann verhältnismässig (im weiteren Sinne) ist, wenn sie erstens geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, wenn sie zweitens notwendig ist, mit anderen Worten kein geringeres Mittel ersichtlich ist, um das Ziel zu erreichen, und wenn sie drittens verhältnismässig im engeren Sinne ist, d.h. ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Massnahme besteht bzw. die Eingriffsintensität nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Eine verfassungskonforme Auslegung legt jedoch eine Harmonisierung mit Art. 5 Abs. 2 BV (allgemeines verwaltungsrechtliches Verhältnismässigkeitsgebot) und, wenn ein Grundrechtseingriff droht, Art. 36 Abs. 3 BV (Erfordernis der Verhältnismässigkeit einer Grundrechtsbeschränkung) nahe.
Zur Gegenüberstellung des öffentlichen und privaten Interesses hat der Strafrichter die einzelnen Interessensaspekte zu definieren und deren Höhe im konkreten Einzelfall zu ermitteln.
6.5.2 Bestimmung des privaten Interesses
Wie bereits erwähnt, besteht eine Kongruenz bezüglich der für den Härtefall relevanten Aspekte mit den für die Bestimmung des privaten Interesses wesentlichen Gesichtspunkten. Anders als bei der Ermittlung des Härtefalles müssen die einzelnen Aspekte zwingend bewertet werden. Liegt ein Härtefall beispielsweise bereits deshalb vor, weil die Landesverweisung das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben tangieren würde, bedeutet dies einzig, dass auf jeden Fall von einem grossen privaten Interesse auszugehen ist. Dieses kann sich jedoch zusätzlich erhöhen, wenn weitere härtefallbegründende Aspekte hinzukommen. Massgebend ist immer, wie sich das gesamte private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz präsentiert.
Folgende Überlegungen können hilfreich sein, die Bemessung des privaten Interesses an einem Verbleib in der Schweiz vorzunehmen. Dieses ist insbesondere umso höher zu veranschlagen,
- je länger ein Betroffener in der Schweiz lebt,
- je gravierender die Auswirkungen auf das Familienleben sind,
- je schwieriger sich die Reintegration im Heimatland gestaltet,
- je wahrscheinlicher eine positive Persönlichkeitsentwicklung zunichte gemacht wird
- und je wahrscheinlicher eine Resozialisierung im Heimatland scheitern wird.
Führt die Landesverweisung zu einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots, impliziert dies zwangsläufig ein sehr grosses privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Gleiches gilt, wenn der Betroffene in der Schweiz geboren oder aufgewachsen ist (siehe oben 6.1.3).
6.5.3 Bestimmung des öffentlichen Interesses
Der Strafrichter hat zunächst festzulegen, aufgrund welcher Aspekte das öffentliche Interesse zu ermitteln ist, und sodann die Höhe des öffentlichen Interesses zu bestimmen. Ziel der Landesverweisung ist die Verhinderung weiterer Straftaten in der Schweiz durch den Betroffenen. Als massgebliche Aspekte kommen dabei insbesondere folgende in Frage:
- ausgefällte Strafe
- Art der begangenen Delikte
- grosse Rückfallgefahr
- wiederholte Straffälligkeit
- erneute Straffälligkeit nach verbüsster Freiheitsstrafe
- Straffälligkeit nach migrationsrechtlicher Verwarnung.
Ausgangspunkt für die Bemessung des öffentlichen Interesses ist die Höhe der ausgefällten Freiheitsstrafe. Je höher das Strafmass ausfällt, umso grösser ist das öffentliche Interesse zu veranschlagen. Dieses erhöht sich unter Umständen weiter, je nachdem, aufgrund welcher Delikte die Verurteilung erfolgte.
Hat der Betroffene zum Beispiel Leib und Leben Dritter gefährdet oder bedroht, Sexualdelikte begangen oder in gravierender Weise durch Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz die Gesundheit vieler Menschen gefährdet, ist das öffentliche Interesse höher zu veranschlagen, als wenn der Betroffene wegen eines Vermögensdelikts zu einer gleich hohen Strafe verurteilt wurde.
Gleiches gilt, wenn dem Betroffenen eine grosse Rückfallgefahr attestiert wird oder er wiederholt nach Verbüssung einer Freiheitsstrafe sowie nach einer migrationsrechtlichen Verwarnung straffällig wurde.
Massgeblich ist das insgesamt aufgrund der Einzelaspekte eruierte öffentliche Interesse.
6.5.4 Gegenüberstellung der Interessen
In einem letzten Schritt ist das gesamte öffentliche Interesse dem gesamten privaten Interesse gegenüberzustellen. Resultiert dabei ein überwiegendes öffentliches Interesse, ist es dem Strafrichter verwehrt, von der Landesverweisung abzusehen.
Überwiegt das öffentliche Interesse jedoch nicht, sind keine Argumente ersichtlich, die Landesverweisung trotzdem auszusprechen, auch wenn dies vom Wortlaut her grundsätzlich zulässig wäre.
7. Migrationsrechtliche Auswirkungen
7.1 Übersicht
Die im Strafgesetzbuch enthaltene Regelung der Landesverweisung ist mit einer Reihe von weiteren bzw. von konkretisierenden migrationsrechtlichen Wirkungen verbunden, deren wichtigste nachfolgend überblicksmässig aufgelistet werden:
Die obligatorische und die fakultative Landesverweisung schliessen die Einreise der damit belegten Person aus, worin sich der Fernhaltecharakter des Rechtsinstituts manifestiert (Art. 5 Abs. 1 lit. d AuG).
Die obligatorische Landesverweisung führt mit ihrer Rechtskraft und die fakultative Landesverweisung mit ihrem Vollzug zum Erlöschen bestehender ausländerrechtlicher Bewilligungen (Art. 61 Abs. 1 lit. e AuG); beide Formen der Landesverweisung stellen damit grundsätzlich auch einen Ausschlussgrund für die Erteilung oder Verlängerung einer Bewilligung dar.
Der Widerrufsgrund der längerfristigen Freiheitsstrafe gilt weiterhin (Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG); der Widerruf wegen derselben Delikte ist aber unzulässig, wenn das Strafgericht von der Landesverweisung abgesehen hat (Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AuG).
Die Gründe für den Widerruf einer ausländerrechtlichen Bewilligung sowie für den Ausschluss der vorläufigen Aufnahme werden um die Massnahmen nach Art. 59 StGB (stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen) und Art. 60 StGB (stationäre therapeutische Suchtbehandlung) erweitert (Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG und Art. 83 Abs. 7 lit. a AuG).
Die Landesverweisung als Entfernungsmassnahme kann mit ausländerrechtlicher Vorbereitungs-, Ausschaffungs- oder Durchsetzungshaft sichergestellt werden (Art. 75 Abs. 1, Art. 76 Abs. 1 und Art. 78 Abs. 1 AuG).
Die vorläufige Aufnahme ist bei rechtskräftiger obligatorischer oder fakultativer Landesverweisung ausnahmslos ausgeschlossen, also auch bei Menschen mit Flüchtlingseigenschaft (Art. 83 Abs. 9 AuG).
Die obligatorische und die fakultative Landesverweisung stellen zusätzliche Ausschluss- und Erlöschensgründe für das Asyl und den vorübergehenden Schutz dar (Art. 53 lit. c, Art. 64 Abs. 1 lit. e, Art. 73 lit. c und Art. 79 lit. d AsylG).
Menschen mit Flüchtlingseigenschaft erhalten weiterhin auch bei Landesverweisung (weitgehend) volle Sozialhilfe (vgl. Art. 86 Abs. 1 AuG sowie Art. 88 Abs. 3 AsylG).
7.2 Entfernungswirkung
Die Landesverweisung bildet die Grundlage für einen Entfernungsvollzug, der grundsätzlich den ordentlichen Bestimmungen über den Wegweisungsvollzug untersteht (vgl. Art. 64d–64f und Art. 69 ff. AuG). Ausser bei den Tatbeständen der sofortigen Vollstreckung (Art. 64d Abs. 2 AuG) ist zunächst eine Ausreisefrist anzusetzen. Reist der Betroffene nicht selbständig aus, kann im Bedarfsfall zwangsweise ausgeschafft werden.
Erforderlich ist eine selbständige Vollstreckungsverfügung, welche durch die gemäss Art. 66d StGB zuständige Vollzugsbehörde zu verfügen ist. Grundsätzlich denkbar, aber wenig sinnvoll, ist es, die Strafgerichte mit dem Erlass der Vollstreckungsverfügung zu beauftragen, da die Verfügung durch diejenige Behörde getroffen werden sollte, die die Vollstreckung durchzusetzen hat. Die Kantone werden den Vollzug der Landesverweisung deshalb wohl regelmässig entweder den Migrationsämtern oder den Strafvollzugsbehörden übertragen.
Dass eine selbständige Vollstreckungsverfügung erlassen werden muss, ergibt sich erstens aus Art. 66d StGB, entspricht zweitens der früheren Rechtslage bei der altrechtlichen Landesverweisung27 und trägt drittens dem Umstand Rechnung, dass zwischen der Anordnung und dem Vollzug einer Landesverweisung, namentlich bei Vorliegen einer prioritär zu vollziehenden unbedingten bzw. teilbedingten Freiheitsstrafe oder von freiheitsentziehenden Massnahmen (vgl. Art. 66c StGB), eine längere Zeitdauer liegen kann.
Hinzu kommt, dass auch andere durch die Strafgerichte ausgefällte Strafen und Massnahmen eines Vollzugsauftrages bedürfen (Aufgebot für den Straf- oder Massnahmevollzug, Rechnungsstellung bei Bussen und Geldstrafen etc.). Gleiches gilt auch im migrationsrechtlichen Verfahren, bei welchem einerseits über den Aufenthaltsstatus entschieden wird und in einem zweiten Schritt, wenn ein Betroffener über kein Aufenthaltsrecht mehr verfügt und nicht selbständig ausreist, die Wegweisung zu vollziehen ist (Art. 64 AuG). Ausnahmsweise kann unter besonderen Umständen auf eine Vollstreckungsverfügung verzichtet werden, wenn eine solche nicht (mehr) sinnvoll erscheint, etwa bei bereits erfolgter Ausreise oder bei glaubhafter Bereitschaft zur sofortigen Ausreise.
Im Übrigen sind beim Vollzugsentscheid die Anforderungen des zwingenden Völkerrechts, insbesondere sämtliche Aspekte des Rückschiebungsschutzes, beispielsweise auch bloss vorübergehende Vollzugshindernisse, vollumfänglich zu berücksichtigen (vgl. Art. 66d StGB).
Der strafrichterliche Entscheid über eine Landesverweisung kann, selbst wenn diese nicht mit einer unbedingten Freiheitsstrafe oder mit einer freiheitsentziehenden Massnahme verbunden ist, schon deshalb nicht als unmittelbarer Vollzugstitel dienen, weil er nicht zwingend allen Gesichtspunkten von Vollzugshindernissen Beachtung schenken muss und diese auch nachträglich entstehen können, ohne dass der Strafrichter dafür wieder angerufen werden könnte. Im Gegenzug lässt sich der Vollstreckungsentscheid nur noch eingeschränkt anfechten; es können nur noch die Vollzugsmodalitäten als solche, wie etwa der Zeitpunkt oder Begleitumstände einer freiwilligen oder erzwungenen Ausreise, sowie vom Strafrichter (noch) nicht berücksichtigte Vollzugshindernisse geltend gemacht werden. Auf die Landesverweisung als solche kann, unter Vorbehalt allenfalls einzig von Art. 67 Abs. 5 AuG, nicht mehr zurückgekommen werden.
Jede Landesverweisung enthält nicht nur eine Ausreiseverpflichtung für die erstmalige Ausreise. Vielmehr bleibt die Entfernungswirkung grundsätzlich bestehen, solange die Geltungsdauer der Landesverweisung nicht abgelaufen ist. Dies gilt sowohl bei einer legalen Einreise aufgrund eines Suspensionsentscheids als auch bei einer illegalen Wiedereinreise. In beiden Fällen bleibt die (Wieder-)Ausreiseverpflichtung bis zum Ablauf der Landesverweisung bestehen und es kann für den Wegweisungsvollzug auf die Landesverweisung zurückgegriffen werden. Reist der Betroffene nicht selbständig aus, ist unseres Erachtens eine neue Vollstreckungsverfügung erforderlich, da die Geltungswirkung einer Vollstreckungsverfügung mit der selbständigen oder zwangsweisen Ausreise konsumiert wird. Dies ist auch in einem allfälligen Haftverfahren von Belang.
7.3 Erlöschenswirkung
Eine obligatorische Landesverweisung führt von Gesetzes wegen mit ihrer Rechtskraft zum Erlöschen der ausländerrechtlichen Bewilligung (Art. 61 Abs. 1 lit. e AuG). Dies gilt auch für die Niederlassungsbewilligung. Bei der fakultativen Landesverweisung erlöschen die ausländerrechtlichen Bewilligungen demgegenüber erst mit dem Vollzug der Landesverweisung (Art. 61 Abs. 1 lit. f AuG).
Offen und zu klären ist, ob die Erlöschenswirkung bei der fakultativen Landesverweisung bereits mit Fällung der Vollstreckungsverfügung oder erst mit dem tatsächlichen Vollzug der Entfernungsmassnahme eintritt. Entscheidend ist unseres Erachtens der Zeitpunkt der Rechtskraft des Vollstreckungsentscheids und weder derjenige, in dem sie erstinstanzlich ausgesprochen wird (solange sie noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist), noch derjenige des tatsächlichen Vollzugs. Dazu führen sowohl dogmatische wie auch praktische Überlegungen: So unterscheidet sich bereits der Wortlaut von Art. 61 Abs. 1 lit. f AuG, der auf den Vollzug abstellt, von demjenigen von Art. 66c Abs. 5 StGB, wonach die Dauer einer Landesverweisung mit dem Verlassen der Schweiz (und nicht mit dem Vollzug) zu laufen beginnt.
Eine Erlöschenswirkung vor der Rechtskraft könnte sodann ein unbefriedigendes Vakuum beim Anwesenheitstitel zur Folge haben, wenn es nachträglich zur Korrektur der Vollzugsverfügung im Rechtsmittelverfahren kommt. Käme es hingegen auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Vollzugs an, müsste bei nicht freiwilliger Ausreise zwangsweise ausgeschafft werden, obwohl noch eine gültige Anwesenheitsbewilligung besteht, und vermöchte überdies die betroffene ausländische Person durch mit renitentem Verhalten ausgelöstem Scheitern der Ausreise die weitere Geltung ihrer Bewilligung zu erwirken, was, namentlich bei Vorliegen einer Niederlassungsbewilligung, ebenfalls fragwürdig erschiene.
Asyl (Art. 64 Abs. 1 lit. e AsylG), vorübergehender Schutz (Art. 79 lit. d AsylG) und vorläufige Aufnahme (Art. 83 Abs. 9 AuG) erlöschen alle mit Rechtskraft sowohl der obligatorischen als auch der fakultativen Landesverweisung. Die Letztere entfaltet in diesem Zusammenhang also raschere Wirkung als bei den ausländerrechtlichen Bewilligungen, wo die Erlöschenswirkung eben erst mit dem Vollzug der fakultativen Landesverweisung eintritt.
7.4 Fernhaltewirkung
Die Landesverweisung ist auf bestimmte Dauer angelegt. Diese bezieht sich in erster Linie auf die Fernhaltewirkung. Während der verfügten Dauer gilt ein Einreiseverbot. Bei der obligatorischen Landesverweisung soll dieses Verbot auf 5 – 15 Jahre, bei der fakultativen auf 3 – 15 Jahre Dauer ausgesprochen werden (vgl. Art. 66a Abs. 1 und Art. 66abis StGB). Bei einer erneuten Straftat nach einer bereits früher ausgesprochenen Landesverweisung beträgt die Dauer des Einreiseverbots gemäss dem Gesetz 20 Jahre (Art. 66b Abs. 1 StGB); sie kann auf Lebenszeit ausgesprochen werden, wenn der Verurteilte die neue Tat begeht, solange die für eine frühere Tat verfügte Landesverweisung noch wirksam ist (Art. 66b Abs. 2 StGB), also bei Rückfall während der Geltungsdauer der Landesverweisung. Bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbots ist dem Verhältnismässigkeitsprinzip Rechnung zu tragen.28 Insbesondere müssen nebst dem strafrechtlichen Verschulden und den Resozialisierungschancen die familiären und persönlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Liegt gar ein Eingriff in das Privat- oder Familienleben vor, dürfte eine längere Dauer als höchstens fünf Jahre angesichts der Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts kaum in Betracht fallen.29 Art. 66b StGB erscheint in diesem Sinne vor dem Hintergrund von Art. 13 BV und Art. 8 EMRK problematisch.30
Nach Art. 67 Abs. 5 AuG kann die verfügende Behörde ausnahmsweise aus humanitären oder anderen wichtigen Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot endgültig oder vorübergehend aufheben. Die Gesetzesnovelle schreibt dafür neu eine Interessenabwägung vor.
Die Bestimmung muss unseres Erachtens grundsätzlich auch für die Landesverweisung gelten. Dies trifft umso mehr zu, als sie mit der Einführung der Landesverweisung revidiert wurde. Sie richtet sich an die Vollzugs- bzw. allenfalls Migrationsbehörden und nicht an den Strafrichter. Ein Absehen von der Fernhaltewirkung der Landesverweisung bei deren Anordnung erscheint also nicht zulässig, wohl aber nachträglich deren vorübergehende Suspension oder, bei veränderter Ausgangslage, allenfalls sogar deren gänzliche Aufhebung. Wird eine längere Dauer als fünf Jahre verfügt, besteht nach der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei wesentlichen familiären oder persönlichen Beziehungen zur Schweiz jedenfalls ein Recht auf Prüfung der endgültigen Aufhebung oder zumindest der vorübergehenden Suspension des Einreiseverbots.31
Nach Art. 66c Abs. 5 StGB wird die Dauer von dem Tag an berechnet, an dem die verurteilte Person die Schweiz verlässt. Dies ist im Normalfall wohl weitgehend unproblematisch, nicht aber, wenn der Vollzug aufgrund des Rückschiebungsverbots oder wegen unverschuldeter Unmöglichkeit längere Zeit ausgeschlossen ist, würde dies doch die Sanktion zusätzlich verschärfen.32
7.5 Bindungswirkung für Migrationsbehörden
Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AuG regeln die Kompetenzen der Migrationsbehörden im Nachgang zu Strafurteilen. Sieht ein Schweizer Strafgericht von einer Landesverweisung ab, sind die Migrationsbehörden daran gebunden und dürfen nicht wegen desselben Delikts eine bestehende Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung widerrufen.
Diese Bestimmungen sind bedeutsam, denn von den betroffenen ausländischen Delinquenten wird der Verlust des Anwesenheitsrechts häufig als härtere Sanktion empfunden als die Strafe als solche. Der Gesetzgeber bezweckte damit, den früheren Dualismus auszuschliessen, wonach die Migrationsbehörde immer noch eine altrechtliche Ausweisung oder einen Widerruf der ausländerrechtlichen Bewilligung, verbunden mit einer Entfernungsmassnahme, verfügen konnte, auch wenn der Strafrichter von einer altrechtlichen Landesverweisung abgesehen hatte.33 Das ist neurechtlich grundsätzlich ausgeschlossen und gilt unabhängig davon, ob die Anordnung einer Landesverweisung explizit verneint wurde.
Entgegen den Ausführungen in der Botschaft zur Gesetzesnovelle34 trifft nicht zu, dass es den Migrationsbehörden freisteht, gegen einen Betroffenen, der neben Anlasstaten gemäss Art. 66a StGB zu weiteren Delikten verurteilt, jedoch nicht des Landes verwiesen wurde, gestützt auf die weiteren Straftaten migrationsrechtliche Entfernungsmassnahmen zu ergreifen. Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AuG beziehen sich nicht auf die obligatorische Landesverweisung, sondern auf sämtliche durch den Strafrichter sanktionierte Straftaten.
Sieht der Strafrichter nach einer Verurteilung wegen eines Delikts, das nicht im Katalog der Anlasstaten aufgeführt ist, von einer fakultativen Landesverweisung ab, kann die Migrationsbehörde eine Entfernungsmassnahme einzig gestützt auf Art. 62 Abs. 1 lit. c bzw. Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG (bedeutsamer Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung; siehe hinten Ziff. 7.5.2) anordnen. Inwiefern dabei die Migrationsbehörden, wie in der Botschaft postuliert, durch den Strafrichter bereits sanktionierte Delikte in ihrer Beurteilung des öffentlichen Interesses an der Entfernungsmassnahme berücksichtigen dürfen, ohne dabei gegen die Dualismusschranke zu verstossen, wird noch zu klären sein.
Intertemporalrechtlich erstreckt sich die Bindungswirkung auf sämtliche Delikte, die nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen zur Landesverweisung begangen wurden. Erfolgt die Verurteilung (auch) für Delikte, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurden, steht es den Migrationsbehörden frei, aufenthaltsbeendende Massnahmen zu prüfen und anzuordnen, sollten die Voraussetzungen mit Blick auf diese Delikte erfüllt sein.
Die gleiche Bindungswirkung besteht hinsichtlich einer allfälligen Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 33 Abs. 3 AuG. Zwar gibt es keinen Anspruch auf Bewilligungsverlängerung. Das entsprechende behördliche Ermessen muss aber pflichtgemäss ausgeübt werden, und der Verlängerungsentscheid darf nicht unverhältnismässig bzw. willkürlich sein.35 Abgesehen davon, dass keine konkreten migrationsrechtlichen Normen für die Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung bestehen, sondern aufgrund des Verweises in Art. 33 Abs. 3 AuG nicht nur auf die Widerrufsgründe von Art. 62 AuG zurückgegriffen, sondern auch die dazu ergangene Anwendungspraxis analog angewandt wird, wäre es stossend, wenn es den Migrationsbehörden zwar verwehrt ist, Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligungen zu widerrufen, sie jedoch bei Aufenthaltsbewilligungen deren Ende abwarten und trotz unausgesprochener Landesverweisung die Aufenthaltsbewilligung wegen strafrechtlich bereits abgeurteilter Straftaten nicht verlängern könnten.
Unseres Erachtens gilt die Bindungswirkung auf jeden Fall auch dann, wenn ein Strafverfahren mit einem Strafbefehl erledigt und mit dem Strafbefehl eine Anlasstat im Sinne von Art. 66a StGB sanktioniert wird. Zwar kommt der Staatsanwaltschaft nicht förmlich die Eigenschaft eines Strafgerichts zu und darf mit Strafbefehl keine Landesverweisung verfügt werden (Art. 352 Abs. 2 StPO). Zudem ist fraglich, ob es überhaupt zulässig ist, eine Anlasstat, welche eine obligatorische Landesverweisung durch ein Strafgericht nach sich ziehen müsste, im Strafbefehlsverfahren zu erledigen. Dies ändert aber nichts daran, dass es den Migrationsbehörden verwehrt sein muss, migrationsrechtliche Entfernungsmassnahmen anzuordnen, wenn eine Anlasstat im Strafbefehlsverfahren und damit ohne Landesverweisung sanktioniert wird.
Andernfalls käme dies einer Umgehung des Dualismusverbots sowie einer rechtsungleichen Behandlung der verurteilten Ausländer gleich, da sie dem Belieben der Staatsanwaltschaft ausgeliefert wären, ob entgegen der mutmasslichen Intention des Gesetzgebers trotz Anlasstat nicht ein Strafgericht im Rahmen eines Strafurteils, sondern lediglich die Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Strafbefehlsverfahrens über eine Anlasstat urteilt.
Zudem gilt es Folgendes zu bedenken: Soweit es zu einer Erledigung mit Strafbefehl kommt, erschiene es widersprüchlich und stossend, diesfalls keine Bindungswirkung für die Migrationsbehörden anzunehmen, handelt es sich doch zwingend von vornherein um ein von der Staatsanwaltschaft als geringfügiger eingestuftes Delikt, als wenn Anklage erhoben würde. Indem die Strafverfolgungsbehörden insgesamt von einer Landesverweisung absehen, geben sie bei Anlasstaten gemäss Art. 66a Abs. 1 StGB wenigstens indirekt zu verstehen, dass sie von einem Härtefall ausgehen, und bei anderen Delikten, dass sie eine Landesverweisung als unverhältnismässig beurteilen.
Diese Bindungswirkung mag zwar beim Widerrufsgrund der längerfristigen Freiheitsstrafe kaum eine Rolle spielen, erfasst diese doch nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, zu deren Änderung kein Anlass besteht, lediglich Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr Dauer,36 während mit dem Strafbefehl nur solche von höchstens sechs Monaten ausgesprochen werden dürfen (Art. 352 Abs. 1 lit. d StPO). Die Bindungswirkung ist aber wesentlich, wenn es um die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung geht. Diesfalls erscheint es nicht zulässig, dass die Migrationsbehörden allein wegen desselben Delikts, das mit einem Strafbefehl abgeurteilt wurde, die Bewilligungsverlängerung verweigern. Keine Bindungswirkung besteht, wenn die Verurteilung durch ein ausländisches Strafgericht erfolgte, da dieses nicht befugt ist, eine in der Schweiz gültige Landesverweisung zu verhängen.
Die Bindungswirkung schliesst überdies nicht aus, die betroffene ausländische Person in Anwendung von Art. 96 Abs. 2 AuG ausländerrechtlich zu verwarnen und damit eine Grundlage für spätere, nicht dem Strafrichter vorbehaltene ausländerrechtliche Massnahmen zu legen.
7.5.1 Widerrufsgrund längerfristige Freiheitsstrafe
Das Ausländergesetz kennt weiterhin den Widerrufsgrund der längerfristigen Freiheitsstrafe (Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG und Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG).
Jede durch einen schweizerischen Strafrichter abgeurteilte Straftat schliesst jedoch einen Widerruf einer ausländerrechtlichen Bewilligung durch die Migrationsbehörden aus, unabhängig davon, ob es sich um eine Anlasstat für eine obligatorische Landesverweisung oder um ein Delikt mit fakultativer Landesverweisung handelt, und auch unabhängig davon, ob sich der Strafrichter ausdrücklich dazu geäussert hat oder nicht. Hingegen kommt dem Widerrufsgrund allenfalls bei ausländischen Strafurteilen noch Bedeutung zu,37 die allerdings an schweizerischen Rechtsgrundsätzen zu messen sind.
Die anders lautende Meinung, wonach für eine Bindungswirkung «wohl» aus dem Urteilsdispositiv ersichtlich sein müsse, dass das Strafgericht von einer Landesverweisung abgesehen habe,38 findet unseres Erachtens im Gesetz keine Grundlage. Abgesehen von intertemporalrechtlichen Fällen und von Verurteilungen durch ausländische Strafgerichte kommt dem Widerrufsgrund der längerfristigen Freiheitsstrafe mit Blick auf aufenthaltsbeendende Massnahmen demnach keine Bedeutung mehr zu.
7.5.2 Widerrufsgrund bedeutsamer Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung
Weiterhin enthält das Ausländergesetz bei der Niederlassungsbewilligung auch den Widerrufsgrund des schwerwiegenden und bei den übrigen Bewilligungen des erheblichen oder wiederholten Verstosses gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Art. 62 lit. c und Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG). Grundsätzlich erstreckt sich die Bindungswirkung des Strafurteils auch auf diesen Widerrufsgrund.
Ein Widerruf oder eine Nichtverlängerung einer Bewilligung wegen bereits strafrechtlich sanktionierten Delikten steht damit nicht zur Diskussion. Den Migrationsbehörden steht es unter diesem Titel einzig frei, den Widerruf oder die Nichtverlängerung der Bewilligung wegen nicht strafrechtlich sanktionierten Verstössen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder im Wiederholungsfall zu prüfen und gegebenenfalls anzuordnen. Soll der Widerruf oder die Nichtverlängerung der Bewilligung wegen wiederholten Verstosses gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung angeordnet werden, ist es den Migrationsbehörden nicht verwehrt, auf bereits abgeurteilte Straftaten zurückzugreifen.
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