plädoyer: Zurzeit werden für die «Giacometti-Initiative» Unterschriften gesammelt. Das Volksbegehren fordert eine Abstimmung über dringliche Bundesgesetze bis spätestens 100 Tage nach Inkraftsetzung. Lehnen Volk und Stände das Gesetz ab, wird es aufgehoben. Die Initiative ist nach dem 1970 verstorbenen Staatsrechtler Zaccaria Giacometti benannt. Hätte er ihr zugestimmt?
Bernhard Waldmann: Es kommt darauf an, wann man ihm die Frage gestellt hätte. Die alte Bundesverfassung sah zunächst bei dringlichen Bundesbeschlüssen überhaupt kein Referendum vor. Erst 1949 stimmten Volk und Stände knapp einer Volksinitiative zu, die einen Artikel 89bis in die Verfassung einfügte. Diese Bestimmung führte ein nachträgliches Referendum gegen dringliche Bundesbeschlüsse ein: ein fakultatives bei verfassungskonformen und ein obligatorisches bei nicht verfassungskonformen dringlichen Bundesbeschlüssen. Giacometti kritisierte in seinen Schriften in erster Linie die Vollmachtenbeschlüsse des Bundesrats im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Damit hatte das Parlament umfassende Kompetenzen an den Bundesrat delegiert, damit er als Verfassungs- und Gesetzgeber walten konnte. Laut Giacometti hatte die Bundesversammlung dem Bundesrat damit Kompetenzen übertragen, die es selbst gar nicht hatte. Das war sein Hauptkritikpunkt. Er hatte den Fokus also nicht auf die dringlichen Bundesgesetze gelegt.
Stefan G. Schmid: Einspruch. Giacometti hat sich sehr intensiv mit dem Dringlichkeitsrecht beschäftigt. Er begrüsste alles, was Dringlichkeits- und Notrecht in verfassungsrechtliche Bahnen lenkte. Das war sein Hauptgedanke. Er kritisierte den Missbrauch des Dringlichkeitsrechts in der Zwischenkriegszeit vehement. Ein sehr grosser Teil der Rechtsetzung erfolgte damals in Form von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen, die für dringlich erklärt und so dem Referendum entzogen wurden. Zwischen 1919 und 1938 verabschiedete das Parlament 148 dringliche Bundesbeschlüsse. Im gleichen Zeitraum erliess es jedoch nur 145 Bundesgesetze oder nicht dringliche Bundesbeschlüsse. Zwischen 1919 und 1928 kamen mehr nicht dringliche als dringliche Erlasse zustande. Zwischen 1929 und 1938 wurde dann aber die Ausnahme zur Regel. Und zwischen 1934 und 1938 waren es mit 56 dringlichen Bundesbeschlüssen sogar doppelt so viele wie nicht dringliche Erlasse. Damit wurde das Referendumsrecht des Volks massiv beschnitten. Giacometti wollte wieder klare verfassungsmässige Verhältnisse – und damit die Sicherung der Referendumsdemokratie. Diesen letzteren Begriff hat übrigens Giacometti geprägt. Dennoch denke ich, dass er der Initiative eher kritisch gegenübergestanden wäre.
plädoyer: Nach heutigem Recht bleiben dringliche Bundesgesetze, die ein Jahr oder weniger gültig sein sollen, bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer in Kraft. Ein Referendum dagegen ist nicht möglich. Besteht Missbrauchsgefahr?
Waldmann: Ob es einen tatsächlichen Missbrauch gibt, müsste untersucht werden. Die Bundesversammlung befindet selbst darüber, ob sie ein Bundesgesetz für dringlich erklären will. Hier liegt der Knackpunkt: Das Parlament entscheidet also selbst, ob die in der Verfassung vorgegebenen Voraussetzungen für eine Dringlicherklärung erfüllt sind beziehungsweise ob das Gesetz weniger oder länger als ein Jahr gelten soll. Ein gewisses Missbrauchspotenzial ist also vorhanden. Somit stellt sich tatsächlich die Frage, ob es hier nicht ein Korrektiv braucht.
plädoyer: Laut den Initianten braucht es das.
Waldmann: Das Anliegen der Initianten ist nachvollziehbar, aber das Instrument falsch. Sie wollen ein obligatorisches Referendum auch bei dringlichen Bundesgesetzen, die verfassungskonform sind. Das durchbricht den Grundsatz, dass nur Erlasse mit Verfassungsrang obligatorisch von Volk und Ständen abgesegnet werden müssen. Damit wird der Grundsatz des Parallelismus der Erlassformen durchbrochen. Auch ein Gesetz, das die Zuständigkeiten der Verfassung einhält, würde aufgrund des Ständemehrs höherrangig, nur weil es für dringlich erklärt wurde, während nicht dringliche Bundesgesetze lediglich dem fakultativen Referendum unterstellt blieben. Hier liegt der Konstruktionsfehler der Initiative.
Schmid: Gerade diese Behandlung verfassungskonformer einfacher Bundesgesetze im Verfahren der Verfassungsgebung wäre wohl auch Giacometti zu weit gegangen. Trotzdem: Im Bereich der «unterjährigen» dringlichen Gesetze leben wir heute in einer rein repräsentativen Demokratie. Der breiten Öffentlichkeit ist dies nicht bewusst. Dazu kommt: Sogar in der Verfassungsgebung haben wir eine rein repräsentative Demokratie, solange das verfassungsändernde dringliche Gesetz weniger als ein Jahr in Kraft ist. Das ist für schweizerische Verhältnisse schon sehr erstaunlich. Und das sollten wir nicht einfach so achselzuckend hinnehmen.
plädoyer: Würde die Initiative das Problem lösen?
Schmid: Die Initiative würde das Problem bei «unterjährigen» dringlichen Bundesgesetzen entschärfen. Mit der vorgeschlagenen hunderttägigen Frist bis zur Volksabstimmung wäre eine rasche Intervention möglich. Die Initianten argumentieren denn auch, das heute bestehende nachträgliche Referendum führe zu einer Verzerrung zugunsten des Status quo. In einer Abstimmung seien die Chancen schlecht, ein bereits in Kraft stehendes Gesetz zu Fall zu bringen, weil sich die Leute schon an das Gesetz gewöhnt hätten. Das ist in der Praxis tatsächlich so.
plädoyer: Gibt es Belege für diese Behauptung?
Schmid: Ja, seit 1949 wurden rund 150 dringliche Bundesgesetze erlassen. Davon kamen nur 20 zur Abstimmung. 11 unterstanden einer obligatorischen Abstimmung, weil sie keine Verfassungsgrundlage hatten. Alle 11 wurden angenommen. 9 unterstanden dem fakultativen Referendum, ein einziges Gesetz wurde abgelehnt. Somit stehen 19 Annahmen einer einzigen Ablehnung gegenüber. Die Ablehnungsquote liegt also bei den dringlichen Bundesgesetzen bei 5 Prozent. Gemessen an der Ablehnungsquote von rund 35 Prozent bei allen fakultativen Referendumsvorlagen seit Einführung des nachträglichen Referendums 1949 ist dies auffällig tief. Es ist also tatsächlich schwieriger, ein bereits in Kraft gesetztes Gesetz mit dem nachträglichen Referendum zu bekämpfen. Das Gesetz schafft Fakten, welche die Stimmberechtigten in eine gewisse Zwangslage versetzen.
plädoyer: Das Covid-19-Gesetz etwa wurde im September 2020 beschlossen. Die Abstimmung darüber folgte erst im Juni 2021. Wäre eine raschere Abstimmung innerhalb von 100 Tagen die Lösung, um solche Zwangslagen zu entschärfen?
Waldmann: Dringliche Bundesgesetze betrafen bisher vor allem einzelne Bereiche wie die Krankenversicherung oder das Asylrecht. Oft ging es darum, für ein Problem, etwa die hohen Asylfälle, rasch eine Regelung zu treffen. Beim Covid-19-Gesetz war dies anders. Innerhalb einer längeren Krise musste eine gesetzliche Grundlage geschaffen und angepasst werden. Als über das Referendum abgestimmt wurde, war das Gesetz bereits wieder revidiert worden. Das war ein Sonderfall im Vergleich zu früher und zeigt, dass das Referendum nicht das richtige Mittel ist.
Schmid: Die Zwangslage dürfte tatsächlich grösser sein, wenn das Gesetz bereits länger in Kraft steht. Beim Covid-19-Gesetz zeigte sich aber vor allem das Problem, dass das Dringlichkeitsrecht primär für die punktuelle Bekämpfung eines dringlichen Einzelproblems konzipiert ist. Die Coronakrise stellte uns aber vor umfassende Herausforderungen. Deshalb wäre es wohl zweckmässiger gewesen, mehrere einzelne Gesetze zu erlassen. So hätte man unproblematische und unumstrittene Themen einzeln regeln können. Dann wäre auch das Referendum nicht gegen die gesamte Vorlage ergriffen worden, sondern nur gegen die umstrittenen Punkte. Die Bundesversammlung sollte in solchen Fällen nicht alles in ein Paket zusammenschnüren. Doch auch der Bundesrat hatte sich für diesen Weg entschieden. Die Überlegung dahinter war wohl, möglichst viel hineinpacken, damit alles in einem Zug durchgeht. Dieses «Sammelgefäss» verschärfte die Zwangslage zusätzlich.
Waldmann: Die Missbrauchsgefahr liegt darin, dass das Parlament selbst entscheiden kann, ob eine Dringlichkeit vorliegt oder nicht. Ähnlich stellt sich das Problem beim Notrecht. Der Bundesrat entscheidet selbst, ob er die Voraussetzungen für den Erlass von Notrecht für gegeben hält. Bei solchen Konstellationen ist ein Korrektiv sinnvoll. Die Verfassung gibt der Bundesversammlung bei Dringlichkeit ein Instrument in die Hand, Gesetze vorerst ohne Mitwirkung des Volks zu erlassen. Das Volk hat zwar noch Korrektivmechanismen wie das Referendum, aber eben nur bei überjährigen Gesetzen. Das genügt meines Erachtens nicht. Sowohl beim Dringlichkeitsrecht als auch für Notverordnungen fehlt es an einer rechtlichen Kontrolle, ob die Voraussetzungen für eine dringliche oder ausserordentliche Situation gegeben sind.
plädoyer: Und wer soll entscheiden, ob dringliche Massnahmen gerechtfertigt sind? Das Bundesgericht?
Waldmann: Ja, zum Beispiel. Ich plädiere in solchen Fällen für den Einbezug des Bundesgerichts in das Rechtsetzungsverfahren, etwa in der Gestalt eines Vorprüfungsverfahrens. Damit würde das höchste rechtsprechende Staatsorgan einbezogen. Das würde die Rechtssicherheit erhöhen und eine gewisse Kontrolle schaffen.
Schmid: Ich stehe einer gerichtlichen Überprüfung eher skeptisch gegenüber. Die Verfassung zeigt schön auf, wie man versucht, politisch dieser Missbrauchsgefahr zu begegnen: Für ein dringliches Gesetz braucht es ein qualifiziertes Mehr, eine Mehrheit der Ratsmitglieder muss sich für die Dringlichkeit aussprechen – und nicht einfach die Mehrheit der Parlamentarier, die sich gerade im Saal befinden und abstimmen. Zudem muss ein dringliches Gesetz befristet werden. Ein durch das Referendum abgelehntes Gesetz darf überdies nicht erneuert werden. Man könnte diese Sicherungen ausbauen, etwa mit einer Regel, dass die Dringlicherklärung eines Zweidrittelmehrs bedarf.
plädoyer: Auch ein obligatorisches Referendum, wie es die Giacometti-Initiative vorsieht, wäre ein politisches Korrektiv.
Schmid: Ich denke, das würde die Stimmbürger quantitativ überfordern. Wäre die Initiative vor der Coronakrise in Kraft getreten, hätten wir im Verlauf der Pandemie mehr als ein Dutzend Mal über dringliche Bundesgesetze abgestimmt. Allein über das Covid-19-Gesetz hätten wir wegen der zahlreichen Änderungen fünfmal abstimmen müssen. Und zwar mit Volks- und Ständemehr. Auch der Mehrwert ist fraglich, es sind ja nicht alle dringlichen Bundesgesetze hochumstritten.
Waldmann: Letzten Endes würde das Parlament vermehrt versuchen, gewisse Dinge nicht im Gesetz zu regeln, um das Referendum zu umgehen. Zudem würden Notverordnungen zunehmen.
plädoyer: Wäre das nicht ein schlechtes Zeugnis für das Demokratieverständnis der Parlamentarier, ein obligatorisches Gesetzesreferendum so zu umgehen?
Schmid: Auch in den Kantonen war nach Einführung des obligatorischen Gesetzesreferendums die Versuchung gross, auf Verordnungsrecht auszuweichen. Möglicherweise führt diese Initiative, die vermeintlich zugunsten der direkten Demokratie angelegt ist, also im Ergebnis zu weniger direkter Demokratie. Ein aktuelles Beispiel einer Umgehungsstrategie der Bundesversammlung: Artikel 10a des Parlamentsgesetzes über die «Teilnahme an Abstimmungen im Nationalrat in Abwesenheit wegen Covid-19» wurde am 10. Dezember 2020 als «unterjähriges» dringliches Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage erlassen und bis 1. Oktober 2021 befristet. Da «unterjährig», entging es dem obligatorischen Referendum. Als es das Parlament später verlängerte beziehungsweise nach einem kurzen Unterbruch wieder aufleben liess, wurde es nun zum «überjährigen» dringlichen Bundesgesetz mit Verfassungsgrundlage – mit einer etwas abenteuerlichen Begründung. Aus einem dringlichen Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage wurde somit kurzerhand ein solches mit Verfassungsgrundlage, womit das obligatorische Referendum erneut verhindert werden konnte. Es ist also offensichtlich: Es ging der Bundesversammlung vor allem darum, das obligatorische Referendum zu umgehen. Das stärkt das Verfassungsbewusstsein der Bevölkerung nicht gerade. Eigentlich müsste sich das Parlament stets an das Recht, also an die Verfassung, halten.
Waldmann: Aus demokratiepolitischen Überlegungen sehe ich anderswo weit mehr Handlungsbedarf als beim Dringlichkeitsmechanismus. Das Parlament erlässt viele Delegationsnormen, wie etwa im Epidemiengesetz. Der Bundesrat kann so sehr weit gehende Verordnungen erlassen.
Schmid: Auch das Covid-19-Gesetz strapazierte mit seinen zahlreichen Delegations- und Ermächtigungsnormen den materiellen Gesetzesbegriff. Denn auch in einer Pandemie sind laut Verfassung «alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen» in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen. Dennoch wurden wegen des grossen Flexibilitätsbedürfnisses sehr weitgehend Fragen delegiert, die vom Gesetzgeber hätten beantwortet werden müssen. Das führte in Teilen der Bevölkerung zu Missmut. Die Menschen fanden im Gesetz gar nicht das, was sie erwartet hatten, weil es die entscheidenden Regelungen dem Bundesrat überliess.
Bernhard Waldmann, 53, Professor für Staats- und Verfassungsrecht an der Universität Freiburg im Uechtland und Co-Direktor des Instituts für Föderalismus.
Stefan G. Schmid, 49, Professor für Öffentliches Recht an der Universität St. Gallen und Co-Leiter des Kompetenzzentrums für die Geschichte des Öffentlichen Rechts.
Das will die Giacometti-Initiative
Das Parlament kann ein Gesetz für dringlich erklären und sofort in Kraft setzen. Ein Referendum ist nur möglich, wenn das Gesetz für länger als ein Jahr gilt. Gesetze, die sich nicht auf eine Verfassungsgrundlage stützen, müssen dann obligatorisch von Volk und Ständen angenommen werden. Gesetze mit einer Verfassungsgrundlage kommen nur dann vors Volk, wenn acht Kantone oder 50 000 Stimmberechtigte das Referendum ergreifen. Die sogenannte Giacometti-Initiative fordert, dass dringliche Bundesgesetze innerhalb von 100 Tagen nach dem Parlamentsbeschluss von Volk und Ständen angenommen werden müssen – sonst treten sie ausser Kraft. Die Initianten rund um den Westschweizer Unternehmer und Juristen Alexandre Zindel sammeln zurzeit Unterschriften.