Die 73-jährige Basler Aktivistin Anni Lanz hatte im Februar 2018 versucht, einen aus Afghanistan geflüchteten Mann wieder in die Schweiz zu bringen. Er wurde nach Italien ausgeschafft, obwohl seine Schwester in der Schweiz lebt und Ärztinnen und Ärzte empfahlen, den traumatisierten und suizidgefährdeten Mann nicht nach Italien zurückzubringen. Wie viele andere Geflüchtete musste er in Italien bei grosser Kälte auf der Strasse leben – ohne jede Unterstützung und ohne jede medizinische Betreuung.
Als Anni Lanz den Mann fand, war er in einem sehr schlechten Zustand. Beim Grenzübergang wurden die beiden angehalten und der Mann nach Italien zurückgeschickt.
Anni Lanz ist kein Einzelfall
Für diese Handlung wurde Lanz am 21. August 2019 vom Walliser Kantonsgericht wegen Förderung der illegalen Einreise zu einer Busse von 800 Franken verurteilt. Die Verteidigung von Anni Lanz machte das Vorliegen eines Notstandes und achtenswerte Beweggründe geltend. Das Gericht verneinte einen Rechtfertigungsgrund kategorisch. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Es wurde ans Bundesgericht weitergezogen.
Die strafrechtliche Verurteilung solidarischer Handlungen ist nicht neu. Der Fall Anni Lanz ist kein Einzelfall:
Strafrechtlich verfolgt wurde etwa auch Norbert Valley in Le Locle NE. Der Pfarrer gewährte einem Sans-Papiers Unterkunft.
Gleich erging es der Politikerin Lisa Bosia Mirra, die unter anderem Minderjährigen half, im Tessin über die Grenze zu gelangen, damit sie in der Schweiz ein Asylgesuch einreichen konnten.
Gemäss Artikel 116 Absatz 1 Buchstabe a des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, wer im In- oder Ausland einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz vorsätzlich erleichtert oder vorbereiten hilft. Absatz 2 sieht in leichten Fällen eine Busse vor. Absatz 3 regelt den qualifizierten Tatbestand des Handelns in der Absicht unrechtmässiger Bereicherung oder für eine Schlepperinnen- oder Schlepperorganisation.
Rund 800 Verurteilungen pro Jahr
Es gibt Fälle, die zwischen straflosen Alltagshandlungen, wie einer einmaligen Hilfeleistung, und der strafbaren längerfristigen oder wiederholten Erleichterungshandlung unterscheiden. Das Bundesgericht hielt zum Beispiel fest, dass Handlungen strafbar sind, die den Erlass oder Vollzug von Verfügungen gegenüber der sich rechtswidrig in der Schweiz aufhaltenden Person erschweren (BGE 130 IV 77). Dazu gehöre die Beherbergung. Es kommt jedoch auch zu Verurteilungen, wenn der Zugriff der Behörde auf die Person nicht erschwert wird oder dies zumindest nicht der Vorsatz der unterstützenden Person war.
Ähnlich wie in den Vorjahren wurden gemäss dem Bundesamt für Statistik im Jahr 2018 in der Schweiz über 800 Personen wegen Verstosses gegen Artikel 116 Absatz 1 Buchstabe a AIG verurteilt. Einige kleinere Kantone weisen keine oder nur vereinzelte Verurteilungen auf. In den Kantonen Zürich, Waadt und Genf waren es aber je über hundert.
Dabei handelt es sich nur um die Zahl der Verurteilungen wegen unentgeltlicher Unterstützung zur Einreise oder wegen Unterstützung von rechtswidrig anwesenden Personen. Gemäss Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern aus verschiedenen Kantonen wird zusätzlich eine grosse Anzahl der Beschuldigten zu Geldstrafen und Bussen verurteilt, weil sie Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus beherbergen, sie längerfristig finanziell unterstützen oder ihnen bei der Flucht helfen.
In vielen Fällen wird der Sachverhalt erst bekannt, wenn ein Gesuch um eine ausländerrechtliche Bewilligung eingereicht wird – etwa ein Härtefallgesuch oder ein Gesuch um Kurzaufenthaltsbewilligung zwecks Eheschliessung. Die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller sind aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht je nach Sachlage und Kanton dazu verpflichtet, ihren Wohnort oder die Namen derer, die sie unterstützen, bekanntzugeben.
In verschiedenen Kantonen werden auch die Partnerinnen und Partner von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung gebüsst, wenn sie zusammenwohnen und heiraten wollen und die ausländische Person nach der Heirat eine Bewilligung erhält. Auch bei einer Bewilligungserteilung nach einem Härtefallgesuch kommt es zu Verurteilungen von Unterstützenden.
Strafrechtlich ist der Spielraum sehr klein. Selbst bei gesundheitlichen Notsituationen wird ein rechtfertigender oder entschuldbarer Notstand verneint, weil «keine unmittelbare Gefahr bestehe, die nicht anders abgewendet werden könne» (so BGer 6B_368/2017 vom 10. August 2017). Wer grundrechtlich argumentiert, stolpert über Artikel 190 der Bundesverfassung, der Bundesgesetze für die Rechtsanwendung als massgeblich erklärt.
Analog zum Rechtfertigungsgrund für Flüchtlinge, die aufgrund des Flüchtlingsabkommens nicht wegen einer rechtswidrigen Einreise bestraft werden dürften, müssten auch die Erleichterungshandlungen zur Einreise straflos sein, wenn die einreisende Person ein Asylgesuch stellt. Auch diese Auslegung ist aber umstritten.
Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG), das 2008 durch das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) und seit dem 1. Juni 2019 durch das AIG ersetzt wurde, enthielt in Artikel 23 Absatz 3 einen Rechtfertigungsgrund für die Fluchthilfe: die Unterstützung zur Einreise war dann straflos, wenn die einreisende Person schutzbedürftig war und die Hilfe aus achtenswerten Beweggründen geleistet wurde. Im neuen AIG wurden die Strafbestimmungen allgemein verschärft, der Strafrahmen erhöht und die Hilfe aus achtenswerten Gründen weggelassen.
In der Beratung des Nationalrats beantragte eine Minderheit, dass von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen wird, wenn jemand aus achtenswerten Gründen handelt oder die Tat einzig darin besteht, einer Person ohne Aufenthaltsbewilligung Unterkunft zu bieten oder ihr aus einer zwischenmenschlich-solidarischen Gesinnung heraus beizustehen. Mit Berufung auf das Legalitätsprinzip – achtenswerte Gründe sei ein zu schwammiger Begriff – und mit dem Argument, dass durch die guten rechtsstaatlichen Verfahren eine moralisch begründete Unterstützung nicht mehr nötig sei, wurden diese Anträge abgelehnt.
Aber worin liegt der Sinn dieser Strafbestimmung? Bezweckt war die Bekämpfung des «Schlepperwesens». Dies geht auch aus der erwähnten parlamentarischen Debatte und der Botschaft zum AIG hervor: «Diese Strafbestimmung richtet sich gegen die Schlepperkriminalität» (BBl 2002 3833, Art. 111). Die Norm sollte sich also gegen die Menschen richten, die Profit aus der Not von Flüchtlingen schlagen.
Nach der heutigen Gesetzeslage und der Gerichtspraxis kann sich aber jeder durch Unterstützung in irgendeiner Form durch sogenannte Erleichterungshandlungen strafbar machen. Der Zweck der Strafbestimmung zielt nun darauf ab, potenzielle Hilfe durch Strafandrohung zu unterbinden. Dabei ist es gerade das Migrationsrecht selbst, das die Menschen in solche Notlagen bringt und das dann Unterstützung notwendig macht. So gibt es etwa keine legalen Wege, um nach Europa zu reisen. Die Folge sind lebensbedrohliche Reisen, geschlossene Grenzen und Rückweisungen – trotz des Rechts auf ein Asylverfahren.
Auch gibt es einen Widerspruch zwischen Artikel 116 Absatz 1 AIG und dem Zweck des Strafrechts. Der Strafverfolgung unterliegen sollten demnach Handlungen, die andere oder die Öffentlichkeit schädigen. Ein Schaden ist aber weder in der Unterstützung von Menschen in Notlage noch in der Handlung, andern zu ihrem Recht zu verhelfen, zu erkennen. Viel eher kann von der Öffentlichkeit gefordert werden, die Schwächsten der Gesellschaft nicht im Stich zu lassen.
Breite Kreise fordern Entkriminalisierung
Die Abschaffung der Kriminalisierung von Solidaritätshandlungen wird von verschiedener Seite gefordert:
Am 16. August 2019 wurde eine erste Petition zur Änderung von Art. 116 AIG eingereicht – unter dem Titel «Straffreiheit für Personen, die aus humanitären Gründen gehandelt haben».
Solidarité sans frontières reichte eine Petition «Solidarität ist kein Verbrechen» zur Unterstützung der Motion von Nationalrätin Liza Mazzone ein. Diese verlangt, Artikel 116 AIG so anzupassen, dass sich hilfeleistende Personen nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun. Gemeint ist damit uneigennütziges Handeln.
Zum Weltflüchtlingstag vom 20. Juni veröffentlichten über 140 Anwältinnen und Anwälte eine Erklärung, in der sie fordern, dass Verfahren wegen Beihilfe zu rechtswidriger Einreise oder rechtswidrigem Aufenthalt eingestellt werden sollen, wenn die Hilfe aus humanitären Gründen erfolgte und Artikel 116 AIG im Sinne der obgenannten Motion angepasst wird (Wortlaut siehe www.djs-jds.ch).
Fazit: Fluchthilfe und die Unterstützung von rechtswidrig anwesenden Personen kann angesichts der verletzlichen Positionen, in denen sich viele Migranten befinden, keine strafbare Handlung sein. Geht man davon aus, dass nur Handlungen verfolgt und bestraft werden, die aus der Not von Flüchtlingen Profit schlagen, stellt das Legalitätsprinzip keine Hürde dar. Hilfe muss erlaubt sein.