plädoyer: Welche Kompetenzen hatten Sie als Ombudsmann für Betroffene der Sanktionsliste für Al-Qaïda- und IS-Unterstützer?
Daniel Kipfer: Die Ombudsperson überprüft die Sanktionen im Einzelfall. Trotzdem ist es keine richterliche Funktion, sondern von allem ein bisschen: Richter, Diplomat, Untersuchungsrichter, Staatsanwalt, Strafverteidiger.
Ihre Rechenschaftsberichte zuhanden der Uno beklagen die fehlende Unabhängigkeit des Ombudsmanns.
Die Ombudsstelle wurde anstelle eines Gerichts geschaffen. Unter anderem Deutschland verlangte vergeblich ein Gericht für die Überprüfung der Sanktionen gegen Einzelpersonen. Gemäss Resolution muss sie unparteiisch und unabhängig sein. Letzteres wäre sie nur, wenn sie die Voraussetzungen der Unabhängigkeit eines Richters erfüllen würde.
Wo fehlt die Unabhängigkeit?
Ein richterliches Mandat muss auf eine Mindestlaufdauer oder unbestimmte Zeit etabliert sein. Ich bin zwar für dreieinhalb Jahre ernannt worden. Aber die Verträge, die ich erhielt, dauerten zum Teil nur ein, zwei oder sechs Monate. Wer im Dezember nicht weiss, ob er im Januar noch arbeiten kann, kann unter Druck gesetzt werden. Meine Bezahlung war vertraglich nie wirklich sicher. Und das Büro der Ombudsstelle existiert nicht als unabhängige Einheit der Uno, es gehört administrativ zur gleichen Abteilung, die den Sicherheitsrat in Sachen Sanktionen berät. Die Ombudsperson hat zudem keine Stellvertretung: Wenn sie krank wird, verunfallt oder die Funktion auf die sehr kurze Kündigungsfrist von zehn Tagen hin verlässt, stehen alle Verfahren still.
Konnten Sie immerhin faktisch unabhängig arbeiten?
Ja, es hat nie jemand versucht, mich unter Druck zu setzen.
Hat der Ombudsmann die Funktion eines Feigenblatts?
Nein. Während meiner Arbeit hat mir nie jemand dreingeredet. Und die Ombudsperson hat faktisch eine gewisse Macht, obwohl ihre Entscheidungen formell nur Empfehlungen sind. Im Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats müssen alle 15 Mitglieder gegen die Empfehlung stimmen, um sie umstossen zu können. Bisher wurde noch keine einzige der rund hundert Empfehlungen abgelehnt. Aber das Konstrukt der individualisierten Sanktionen der Uno bleibt problematisch: Es ist umstritten, ob der Sicherheitsrat überhaupt dazu berechtigt ist, Sanktionen anzuordnen, ohne den Betroffenen einen gerichtlichen Rechtsweg zu offerieren. Das Primat der Politik über den Grundrechtsschutz ist offenkundig.
Wie viele Empfehlungen haben Sie ausgesprochen?
Ich arbeitete während der dreieinhalb Jahre an 20 Fällen, in 18 davon reichte ich den Schlussbericht ein, 16 sind entschieden. Die Stelle gibt es seit zwölf Jahren. Im Durchschnitt wurden zwei Drittel der Gesuche von Sanktionsbetroffenen gutgeheissen.
Sind die Hürden hoch, um ein Gesuch zu stellen?
Ein E-Mail an den Ombudsmann genügt, damit ein Verfahren eröffnet wird. Es gibt aber einige Personen auf der Sanktionsliste, die davon nichts wissen.
Gab es Fälle, die Sie besonders befremdeten?
Ja, bei einem Fall ging es um einen einflussreichen Politiker aus einem arabischen Staat. Er wurde beschuldigt, Al-Qaïda zu unterstützen, und auf die Sanktionsliste gesetzt. Das heisst: Seine Bankkonten wurden eingefroren, er durfte nicht mehr reisen. Alle vorliegenden Informationen stammten aus Geheimdienstquellen. Für unsere Recherche benutzten wir öffentlich zugängliche Informationen, interviewten den Gesuchsteller, zwei hochrangige Politiker seiner Heimat und konsultierten Uno-Fachexperten für die Region. Fazit: Die Geheimdienstinformationen mussten falsch sein. Ich fragte mich, warum der Mann im Visier mehrerer Geheimdienste war. Entweder handelte es sich um einen Fehler – aus mangelndem Verständnis der lokalen Begebenheiten. Oder um gezielte Sabotage, um einen politischen Gegner mittels Streuung falscher Information auf die Terrorliste zu setzen und ihn so zu neutralisieren.
Wie aktiv ist Al-Qaïda heute?
Es gibt den Spruch «Al-Qaïda ist im Grunde genommen nur noch der Treffpunkt von Geheimdiensten». Das hat einen wahren Kern.
Reichen Informationen von Geheimdiensten, um auf die Sanktionsliste zu kommen?
In europäischen Ländern führen Strafurteile zu Listungsanträgen. Dem Eintrag geht ein rechtsstaatliches Verfahren voraus. Problematisch wird es, wenn die Listung einzig auf Geheimdienstinformationen basiert. Das ist unter anderem bei Anträgen der USA oft der Fall. Die Ombudsstelle hat mit etlichen Staaten Abkommen über die Einsicht in Geheimdienstunterlagen. Aber häufig darf sie die Informationen nicht mit dem Gesuchsteller teilen. Das ist unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs problematisch. Die Ombudsstelle hat in der Vergangenheit eine Praxis, die dem Fairnessgrundsatz entspricht. Es wäre unhaltbar, die Ablehnung des Gesuchs einzig auf Geheimdienstinformationen zu stützen, die der Gesuchsteller nicht kennt.
Was passiert, wenn ein Land Informationen verweigert?
Manchmal gibt es auf Fragen keine Antwort. Auch nicht bei mehrfachem Nachhaken. Dann ging ich davon aus, dass das Land nicht mehr daran interessiert ist, die Person auf der Liste zu behalten. In einzelnen Ländern bin ich angelogen worden. Ich wollte zum Beispiel im Nahen Osten einmal einen Zeugen befragen. Die Behörden empfingen mich vor Ort, wollten mir aber nicht verraten, wo ich ihn finde. Sie sagten: «Sie können ihn schon treffen, aber wir raten Ihnen davon ab. Menschen, die auf einer solchen Liste stehen, sind gefährlich. Wir beobachten sie, pflegen aber keinen Kontakt mit ihnen.» Ich musste unverrichteter Dinge abziehen. Der damalige Zeuge war ebenfalls gelistet und hatte selbst ein Gesuch gestellt. Als ich ihn per Videokonferenz interviewte, zeigte sich, dass alles anders war. Die Polizei stand wöchentlich in Kontakt mit ihm.
Konnten Sie das Verfahren prozessual verbessern?
Ja, in verschiedener Hinsicht. Früher erhielt der Gesuchsteller jeweils nur eine Zusammenfassung des Schlussberichts. Heute ist es möglich, ihm eine partiell geschwärzte Kopie auszuhändigen.
Können Betroffene einen Anwalt beiziehen?
Ja, ich konnte schon zu Beginn meines Mandats erreichen, dass alle Gesuchsteller einen Rechtsvertreter haben. Der Ombudsmann selbst hat kein Budget, um eine amtliche Verteidigung zu finanzieren, und die allermeisten Gesuchsteller sind wegen der Sanktion nicht in der Lage, einen Anwalt zu bestellen. Doch 60 Anwälte der in Den Haag ansässigen Vereinigung der Strafverteidiger haben sich bereit erklärt, Mandate pro bono zu übernehmen.
Sie arbeiten nun wieder in Bellinzona als Bundesstrafrichter in der Beschwerdekammer. Vermissen Sie New York?
Die Rahmenbedingungen bei der Uno waren speziell, die Arbeit extrem interessant. Ich hatte unvergessliche Kontakte. Die Rolle des Ombudsmanns schien auf mich persönlich zugeschnitten. Ich bin aber auch gerne Richter.
Weitere Infos:www.un.org/securitycouncil/ombudsperson