Das humanitäre Völkerrecht sieht ein absolutes Folterverbot vor. So ist es in der Genfer Konvention von 1949 festgeschrieben. Trotzdem ist Folter bis heute weltweit Alltag. Zum Beispiel im syrischen Militärgefängnis Saydnaya, 20 Kilometer nördlich von Damaskus gelegen. Laut Amnesty International wird hier regelmässig gefoltert. Eine beliebte Foltermethode sind Schläge mit Kabeln, Plastikrohren und Metallstangen.
Bei den Folteropfern handelt es sich in aller Regel um normale Zivilisten, die vom Regime als Opponenten betrachtet werden. Laut Amnesty sterben viele Häftlinge an den Folgen der Torturen, regelmässig kommt es zu Hinrichtungen. Häftlinge, die das Grauen überleben, fliehen nach der Entlassung – unter anderem auch in die Schweiz.
“Folter wird stets bestritten”
Manfred Nowak war von 2004 bis 2010 Uno-Sonderberichterstatter. Er sagt: «Keine Menschenrechtsverletzung ist so schwierig zu beweisen wie die Folter. Sie findet ohne Zeugen statt und wird von allen Regierungen stets bestritten.» Darum sei es umso wichtiger, dass jeder Folterverdacht effektiv untersucht und dokumentiert werde.
Genau dazu dient das sogenannte Istanbul-Protokoll. Es ist ein Handbuch zur wirksamen Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher Behandlung. Es richtet sich an jene Personen, die Foltervorwürfe untersuchen, insbesondere an Juristen und Ärzte. Das Protokoll gibt ihnen praktische Hinweise zum Vorgehen. So hält es internationale Standards und Richtlinien zur wirksamen medizinischen und juristischen Untersuchung und Dokumentation von Folter und weiteren Menschenrechtsverletzungen fest. Dadurch sollen die gewonnenen Befunde auch in einem strafrechtlichen Verfahren als Beweismittel verwendet werden können. Ziel ist es, auf diese Weise die für die Folter Verantwortlichen strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen zu können.
Ausgearbeitet wurde das Protokoll in den neunziger Jahren auf Initiative der türkischen Ärztekammer, der Menschenrechtsstiftung der Türkei und der Physicians for Human Rights. 1999 wurde es veröffentlicht. An der Erarbeitung waren 75 Rechtsanwälte, Menschenrechtsbeobachter, Gerichtsmediziner, Ärzte und Psychologen aus 15 Ländern beteiligt.
Am 4. Dezember 2000 wurde das Protokoll sowohl von der Uno-Generalversammlung als auch von der Menschenrechtskommission – dem heutigen Menschenrechtsrat – angenommen. Auch die EU und die Afrikanische Menschenrechts- und Völkerrechtskommission haben das Protokoll «als effektives und geeignetes Mittel zur Aufklärung und Dokumentation von Foltervorwürfen» anerkannt. Seit 2015 ist das Protokoll auch in deutscher Sprache erhältlich (siehe Unten).
Obwohl das Istanbul-Protokoll bereits seit 17 Jahren besteht, ist es sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland und Österreich unter Rechtsexperten und Ärzten wenig bekannt.
Die Juristin Stephanie Motz setzt sich aktiv in der Kampagne für die Anerkennung des Protokolls ein. Sie fordert: «Wenn im Militärgefängnis von Saydnaya gefoltert wird, müssten die Opfer gemäss den Kriterien des Istanbul-Protokolls untersucht und begutachtet werden.» Laut Motz werden Asylsuchende, die Folter geltend machen und keine äusserlich sichtbaren Spuren aufweisen würden, in der Schweiz oft als unglaubwürdig betrachtet. Sie kritisiert: «Bis heute hat die Schweiz das Protokoll nicht anerkannt oder umgesetzt.» Laut Motz bezog sich zwar das Bundesverwaltungsgericht schon auf das Istanbul-Protokoll, zum Beispiel im Urteil E-5092/2012 vom 15. Mai 2013. «Die Asylbehörden geben aber nach wie vor keine Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll in Auftrag.»
Appell an die Bundesbehörden
Auch Patrick Walder von Amnesty International fordert: «Das Istanbul-Protokoll sollte Standard bei der Untersuchung von Asylsuchenden sein, bei denen es Hinweise auf Folter gibt.» Die so gewonnenen Erkenntnisse könnten Grundlage für ein juristisches Verfahren werden.
Die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) lancierten im letzten Dezember einen Appell. Darin rufen sie die Bundesbehörden und insbesondere das Staatssekretariat für Migration auf, den Beweiswert von Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll anzuerkennen. Zudem wird verlangt, dass bei Folteranschuldigungen, die von den Behörden im Rahmen von Asyl- oder Auslieferungsverfahren bestritten werden, Gutachten gemäss dem Istanbul-Protokoll als Beweismittel eingeholt werden. Weiter werden die Hochschulen, insbesondere die medizinischen Fakultäten der Schweizer Universitäten, dazu angehalten, eine Ausbildung zur Erstellung von Gutachten gemäss dem Istanbul-Protokoll anzubieten.
DJS-Geschäftsführerin Melanie Aebli fordert, dass das Protokoll «fester Bestandteil in jedem Verfahren wird, in welchem Folter geltend gemacht wird» – vor allem in Asyl- und Auslieferungsverfahren. Damit könnte den Beweisschwierigkeiten begegnet werden.
Warum hat die Schweiz das Istanbul-Protokoll bislang nicht anerkannt? Dazu heisst es beim Bundesamt für Justiz bloss, dass es sich um eine Resolution der Uno-Generalversammlung handle. Diese seien nicht verbindlich, sondern stellten nur Empfehlungen dar.
Das wird im Istanbul-Protokoll geregelt
Das Istanbul-Protokoll besteht aus sechs Kapiteln und vier Anhängen.
Kapitel I geht auf die relevanten internationalen rechtlichen Standards ein: das humanitäre Völkerrecht, die Vereinten Nationen, regionale Organisationen und den internationalen Gerichtshof.
Kapitel II widmet sich den ethischen Kodizes von Berufsgruppen, die an der Untersuchung von Folter beteiligt sind, und geht auf die Berufsethik der Juristen ein.
Kapitel III behandelt die rechtliche Untersuchung von Folterfällen: die Ziele und die Grundsätze einer wirksamen Untersuchung, die Dokumentation sowie das Verfahren einer entsprechenden Untersuchungskommission.
In Kapitel IV geht es um die Befragung von Folteropfern.
Die Kapitel V und VI widmen sich dem Nachweis von physischen und psychischen Folgen der Folter.
Im Anhang I werden die Ziele einer wirksamen Untersuchung und Dokumentation von Folter dargelegt.
Anhang II erklärt die Tests zum Nachweis von Folter.
Im Anhang III sind anatomische Zeichnungen zur Dokumentation von Folter zu finden.
Im Anhang IV schliesslich werden Richtlinien für die medizinische Beurteilung von Folter zusammengestellt.
Für Juristen wichtig sind die Kapitel I, II, III und IV sowie Anhang I. Download des gesamten Protokolls: www.plaedoyer.ch/ewe862.