Der Anwaltsstand hat ein Problem: Ihm geht der Nachwuchs aus. Dies zumindest sagen jene, die es wissen müssen. Walter Fellmann zum Beispiel, Rechtsanwalt in einer Luzerner Kanzlei und Spezialist für Anwaltsrecht. «Ich kenne Kollegen aus grossen Kanzleien, die händeringend Leute suchen», sagt er.
In seinen über 30 Jahren als Privatdozent in Zürich und Professor in Luzern habe er beobachtet, wie sich die Wertvorstellungen der Generationen im Lauf der Zeit gewandelt hätten: «Tag und Nacht zu arbeiten mit dem Ziel, eines Tages Partner in einer grossen Kanzlei zu werden – das entspricht nicht mehr den Wünschen der Jungen.» Die Work-Life-Balance habe an Bedeutung gewonnen, sagt Fellmann.
Ähnlich äussert sich Matthias Miescher, Präsident des Schweizerischen Anwaltsverbands: «Grosse Kanzleien spüren es offenbar schon länger: Es wird zunehmend schwieriger, qualifizierte Anwältinnen und Anwälte zu finden», schrieb er jüngst in einem Beitrag für die Zeitschrift «Anwaltsrevue». Mit der Generation der Babyboomer verlasse «eine zahlenmässig überdurchschnittlich starke Gruppe» den Anwaltsberuf. Die nachrückende Generation Z habe «eigene Erwartungen an das Leben und daran, wie man es gestaltet». Es gebe im Anwaltsberuf mehr Berufsaussteiger als früher, vor allem bei den Frauen. Gemäss seiner Vorgängerin Birgit Sambeth hörten von zehn Anwältinnen sechs in den ersten fünf Jahren wieder auf.
Grosskanzleien umwerben an Unis Studenten
Die St. Galler Rechtsanwältin Selina Grass schreibt in einem ebenfalls in der «Anwaltsrevue» publizierten Beitrag, dass zwischen 2019 und 2021 insgesamt rund 37'000 Anwältinnen und Anwälte ausgebildet wurden – jedoch nur 16 000 den Anwaltsberuf auch ausüben würden. Also weniger als die Hälfte.
Wie die grossen Wirtschaftskanzleien um den Nachwuchs buhlen, kann an der Universität Zürich am Law Firm Day beobachtet werden. 24 grössere Kanzleien aus dem Kanton Zürich stellen sich vor. Erst findet in einem Hörsaal eine Diskussion statt, danach treffen Kanzleivertreter und Studenten im Eingangsbereich der Bibliothek aufeinander.
«Eine derartige Veranstaltung hätten die Kanzleien früher niemals abgehalten – da wären sie von den Studentinnen und Studenten umworben worden, nicht umgekehrt», sagt Thomas Gächter, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, die jährlich 400 Juristinnen und Juristen ausbildet.
Die Kanzleien scheinen keine Mühe zu haben, Praktikanten zu finden. So wird an der gut besuchten Diskussionsveranstaltung klar, dass einige Kanzleien die Stellen bereits für das nächste Jahr besetzt haben. Entsprechend selbstsicher geben sich einige Kanzleivertreter: Sie sprechen von «sattelfestem Englisch» als Anstellungsvoraussetzung und ermahnen die Studenten, Bewerbungsschreiben ohne Rechtschreibfehler abzugeben.
Häufig nur befristete Anstellungen gesucht
Im Gespräch mit Kanzleivertretern und Studenten zeigt sich allerdings rasch, dass diese nicht unbedingt ein langfristiges Engagement ins Auge fassen. «Ich würde gerne für ein paar Monate in eine Kanzlei reinschauen und Erfahrungen sammeln», sagt eine Studentin.
Und Florian Mohs, Hiring Partner der Kanzlei Pestalozzi, stellt fest: «Längst nicht mehr alle Berufseinsteiger verfolgen den klassischen Karriereweg in einer Wirtschaftskanzlei mit dem Ziel, Partner zu werden. Immer mehr kommen zu uns, um Arbeitserfahrung zu sammeln.»
Je weiter hoch es die Berufspyramide geht, desto schwerer tun sich die Kanzleien, Stellen zu besetzen: «Geeignete junge Anwältinnen und Anwälte sind schwieriger zu finden als gute Praktikanten oder Substitutinnen», sagt Jürg Frick, Hiring Partner der Zürcher Wirtschaftskanzlei Homburger.
Mit welchen Mitteln junge Anwälte bei der Stange gehalten werden können – darüber gehen die Meinungen auseinander. «Es herrscht bei uns keine einheitliche Auffassung darüber, ob und inwieweit neue Arbeitsmodelle wie Teilzeitarbeit oder Homeoffice mit unserer Kerntätigkeit kompatibel sind», sagt Frick.
Der Schweizerische Anwaltsverband hat im Juni eine Tagung angesetzt, welche die Nachwuchsprobleme der Anwaltskanzleien zum Thema hat.