Professor Alberto Achermann – wenn Gefängnisdirektoren oder kantonale Justizminister diesen Namen hören, wird mancher unruhig. Denn wenn der Professor als Präsident der Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter (NKVF) die Schweizer Gefängnisse besucht, schaut er genau hin. Werden die Rechte von Personen im Freiheitsentzug nicht eingehalten, wendet sich Achermann mit konkreten Empfehlungen an die Behörden. Seine Kritik passt nicht jedem Gefängnisdirektor.
Trotzdem stellt Achermann sichtlich erfreut fest: «Ich bin bei unseren Nachfolgebesuchen immer wieder positiv überrascht, dass eine Vielzahl unserer Kritikpunkte aufgenommen worden sind – auch wenn sie anfänglich zurückgewiesen wurden.» Ihm sei bewusst, dass niemand gerne kritisiert werde, aber es gebe nun mal Handlungsbedarf: In Ausschaffungshaft beispielsweise müssten sich die Haftbedingungen von ausländerrechtlich Inhaftierten von jenen in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug unterscheiden – auch wenn sie im gleichen Gefängnis untergebracht würden.
Seine Tätigkeit für die Antifolterkommission erledigt Achermann mit «viel Herzblut», wie er selbst sagt. Im Hauptjob aber ist er seit 2015 assoziierter Professor für Migrationsrecht an der Uni Bern. Als gelernter Völkerrechtler beschäftigt sich Achermann mit Migrationsrecht im weitesten Sinn: Ausländerrecht, Flüchtlingsrecht und Bürgerrecht.
Der heute 55-Jährige hat in Bern und Florenz Rechtswissenschaften studiert und war während drei Jahren Zentralsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Seit 2003 arbeitet Achermann als selbständiger Anwalt und Rechtskonsulent. Zudem ist er Organisator der Migrationsrechtstage und Herausgeber des Jahrbuchs für Migration.
Seine Leidenschaft für die Jurisprudenz entdeckte Achermann bereits als Jugendlicher: 1961 in Madrid – der Heimatstadt seiner Mutter – geboren, war er von Kindsbeinen an von Juristen umgeben. Sein Grossvater sowie mehrere seiner Onkel waren Juristen. «Ein Onkel von mir arbeitete an der Verfassung von Spanien mit. Seine Arbeit interessierte mich immer sehr.» Dies im Gegensatz zu seinen Kindern: Weder die Tochter noch der Sohn sind Juristen. «Sie gehen ihren eigenen Weg», sagt Achermann. Und die Enkelkinder müssten noch heranwachsen.
Versagen der Staatengemeinschaft
Angesichts der aktuellen Zahl von Flüchtlingen spricht Achermann von einer «globalen Krise». Sie kann seiner Ansicht nach einzig über eine internationale Flüchtlingskonferenz gelöst werden. Leider suche man aber in der Genfer Konvention vergebens nach einer Pflicht und nach Mechanismen für eine globale Zusammenarbeit.
Achermann stellt bei allen involvierten Akteuren ein Versagen fest. Die Europäische Union sei schlicht nicht fähig, zwei Krisen gleichzeitig zu lösen: «Während der permanenten Gipfeltreffen zur Bewältigung der Finanzkrise sah man das Flüchtlingsproblem nicht.» Zudem hätten die EU-Mitgliedsstaaten bei der Kooperation sowie der gerechten Aufteilung der Flüchtlinge ebenfalls versagt: «Zuerst gab es eine grosse Solidarisierungswelle, Betroffenheit und Offenheit, dann folgte die Phase der kalkulierten Grausamkeit.»
Der Berner Professor kritisierte auch die Uno: Das Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sei in den letzten zehn Jahren politisch an den Rand gedrängt worden. «Die Botschaft der EU war klar: Wir haben eine gemeinsame Asylpolitik – und das UNHCR solle sich gefälligst auf Afrika und Asien konzentrieren», sagt Achermann. Doch es tat sich auch im UNHCR selbst nichts: «Der damalige Hochkommissar António Guterres war eine lahme Ente, die Ende 2015 aus dem Amt schied und nur noch jammerte, wie schlimm die aktuelle Krise sei.»
Politische Antworten auf die gegenwärtige Krise findet der Jurist in der Geschichte: «Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise nach dem Fall von Saigon im Jahr 1975 begann eine Massenflucht aus Vietnam, am Ende waren es um die 4 Millionen Flüchtlinge. Europa und die USA nahmen 2,5 Millionen auf.»
Bereits zwei Monate nach dem Massenexodus habe die internationale Gemeinschaft eine Flüchtlingskonferenz einberufen. «Daraufhin evakuierte man innerhalb weniger Wochen 240 000 Menschen und vereinbarte mit Vietnam ein Ausreiseprogramm. Die Leute konnten sich in Vietnam melden und hatten eine reelle Aussicht auf eine Aussiedlung in die USA, nach Europa oder Lateinamerika.» Auch die Schweiz habe mitgemacht. «Innerhalb weniger Monate ging so die Zahl Gesuche markant zurück», stellt Achermann fest.
Revisionen machen Asylrecht nur komplizierter
Kritik übt Achermann auch an der Schweizer Asylpolitik: «Die permanenten Revisionen machten alles nur komplizierter.» Man müsse zudem einen Teil des Schweizer Rechts wegen des EU-Rechts revidieren. «Wir müssen da mitziehen, aber viele Mitarbeiter in den Migrationsämtern können das gar nicht mehr nachvollziehen. Sie haben zum Teil keine Ahnung mehr, was aktuell gilt.»
Viele Asylrevisionen hätten nur neue Probleme geschaffen. Beispiel: der Nichteintretensgrund bei Flüchtlingen ohne Papiere. «Am Anfang wurde dies durchgesetzt – um kurze Zeit später wieder sang- und klanglos gestrichen zu werden.» Die Verschärfungen seien innenpolitisch-symbolischer Art, mit sehr beschränkten Auswirkungen auf die Praxis, sagt Achermann. Gebe sich ein Land ein «hartes» Image, wie beispielsweise aktuell Dänemark, könne dies zwar für die Flüchtlinge bei der Wahl des Asyllands kurzfristig massgeblich sein – «aber längerfristig ändert es kaum etwas an den Zahlen».
Besonders dramatisch ist für den Migrationsexperten, dass ein Viertel der Bevölkerung der Schweiz keine Bürgerrechte hat. «Wollen wir es uns wirklich leisten, einen so grossen Teil der Bevölkerung vom politischen Prozess, von der Mitarbeit im Milizsystem auszuschliessen?», fragt Achermann. Er hält es nicht für sinnvoll, beim Bürgerrecht die Ebene der Gemeinde, des Kantons und des Bundes zu unterscheiden. In der heutigen mobilen Gesellschaft sei die Schweiz der massgebende Raum. «Ich bin doch nicht in Zürich oder in Appenzell Innerrhoden oder in Genf integriert, wo ich heute in die lokale Stammesgesellschaft aufgenommen werden muss.»