Vertreter der Justiz, die an eine Pfändung Kleider mitnehmen, um sie den Leuten zu geben, deren Besitz sie beschlagnahmen. Einwohner, die mangels öffentlichem Verkehr zehn Kilometer zu Fuss bis zum nächsten Gericht gehen. Arme Frauen und Männer, die nie schreiben und lesen gelernt haben und dem Gerichtsbeamten die noch ungeöffnete Gerichtspost überreichen. Das ist bereits heute Alltag in gewissen Regionen Portugals. Und es kommt noch schlimmer: In Portugal sollen 54 Gerichte geschlossen werden. Am stärksten betroffen ist die Region Viseu mit rund 400 000 Einwohnern.
Viele Beobachter sind überzeugt, dass diese Reform der Gerichtskarte den Exodus aus dieser Region verstärken wird. Denn die Schliessung der Gerichte ist nicht der erste Abbau des Service public: «Sie haben uns das Spital weggenommen, die medizinischen Notfalldienste - und jetzt kommen die Gerichte dran. Es fehlt nur noch, dass sie uns wegnehmen», beklagt sich ein alter Mann aus São João da Pesqueira, dem Hauptort des gleichnamigen Bezirks, in dem rund 8000 Einwohner leben.
Die Bewohner von Pesqueira müssen sich in Zukunft an das Gericht von Moimenta da Beira wenden - die Fahrt über 59 Kilometer Zickzackstrasse dauert eine Stunde. Zwischen den zwei Städten gibt es keine Buslinie. Und weil sich kaum jemand ein Taxi leisten kann, werden nur jene den Weg auf sich nehmen können, die ein Auto besitzen. Und die anderen? «Wir sterben - oder greifen zur Selbstjustiz. Da wissen wir wenigstens, dass der Entscheid schnell kommt», mutmasst Rogério Meias Bento, ein Rentner aus Pesqueira. Auch der Stadtpräsident hat wenig Verständnis für die Pläne des Justizministers: «Viele halten sich hier mit etwas Landwirtschaft mühsam über Wasser. Für sie wird die Justiz noch unerreichbarer, auch wenn sie ein Auto haben.»
Das Problem: Das Justizministerium hat festgelegt, dass nur jene Gerichte aufrechterhalten werden, die mindestens 250 Verhandlungen pro Jahr haben. Diese Zahl erreicht die Region von Pesqueira mit ihren 14 Gemeinden nicht.
Ein Schalter mit zwei Bürokräften als Ersatz
Noch heute geht es meist um die Ehre: Um Ehrverletzung, üble Nachrede oder Körperverletzungen, die mit Konflikten um Grenzziehungen oder Wasserläufe zusammenhängen. «Die Gerichte haben damit eine soziale Funktion», sagt Boaventura Sousa Santos, einer der Koordinatoren des Gremiums für die Überwachung der Justiz. «Die Justiz setzt aber die Präsenz der Staates voraus. Es ist ein Fehler, der Bevölkerung alles wegzunehmen, was mit ihrer Wertschätzung zu tun hat: ihr Gericht, ihr medizinisches Zentrum, ihre Post.» Er unterstütze eine Reform der Gerichtslandkarte - aber nur, wenn man «den Zugang zur Justiz garantiert». Erfolglos habe man vorgeschlagen, dass die Gerichte in den verschiedenen Orten herumziehen und dass Leuten der Weg falls nötig finanziert werde.
Die Vorlage zur Gerichtsschliessung des Justizministeriums bezieht sich auf ein Memorandum, das mit der Troika, bestehend aus dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission, im Rahmen des Rettungsplanes im Mai 2011 unterschrieben wurde. Doch erstaunlicherweise erwähnt sie nicht, wie viel durch die Schliessungen eingespart wird. Keines der neun Gerichte in der Region Viseu, das geschlossen werden soll, hat Betriebskosten von über 12 000 Euro pro Jahr. Für vier von ihnen schlägt die Regierung den Ersatz durch einen Schalter mit ein oder zwei Angestellten vor. «Dort können einige Amtshandlungen vorgenommen werden, etwa die Entgegennahme amtlicher Dokumente.» Ein solcher Schalter soll entstehen, wo das nächste Gericht mehr als dreissig Kilometer entfernt ist oder der Weg über eine Stunde dauert.
Gemeinden prüfen, die Gerichte zu finanzieren
Nicht in Genuss eines Schalters kommen die 6350 Bewohner von Tabuaço, denn das nächste Gericht ist 29 Kilometer entfernt und das Ministerium hat berechnet, dass man für den Weg 36 Minuten braucht. Der Gemeindepräsident ist verärgert: «Es gibt ja nicht mal eine Buslinie zwischen diesen Städten und Dörfern.» Er schlägt deshalb den anderen betroffenen Gemeindepräsidenten vor, das Gericht selber zu finanzieren, um die Schliessung zu verhindern.
Es ist 8.30 Uhr morgens. Zahlreiche ältere Leute sind am Gericht von Tabuaço eingetroffen, obwohl ihre Verhandlung erst am Nachmittag stattfindet. So konnten sie den Schulbus nehmen, die einzige Verbindung des öffentlichen Verkehrs. «Den Rückweg machen sie zu Fuss, oder sie warten, bis um 17 Uhr der Schulbus retour fährt», erklärt einer. «Es ist beschämend. Das Taxi ins nächste Spital in Vila Real kostet 75 Euro - und die meisten hier haben nur die Minimalrente von 200 Euro.»
Solche Aussagen bewirken beim Geografen Alvaro Domingues nur ein Seufzen. «Man kann Probleme nicht mit mathematischen Formeln lösen. Wenn der Staat der letzte Anker ist in diesen verlassenen, überalterten Gebieten, muss man aufpassen.» Und fügt an: «Wenn der Staat die Grundrechte aufgibt - das Recht auf Frieden, Nahrungsmittel, Gesundheit, Wohnen - wird das Landesinnere unwiderruflich zerstört.»
Der Text erschien in O Público, Lissabon, und im Courrier International, deutsche Fassung: Corinna Hauri