Gerichte und Behörden wie die Kesb werden mit besonderen rechtlichen und psychologischen Herausforderungen konfrontiert, wenn Kindesanliegen im Zentrum von Gerichtsverfahren stehen. Eltern und Fachpersonen argumentieren mit dem «Kindeswohl», sind sich aber uneinig, ob dieses im konkreten Fall erfüllt ist. Richter am Zivilgericht und bei der Kesb wissen um die Tragweite ihrer Entscheidung für das Kind.1 Vier Juristen und zwei Psychologinnen zeigen Strategien rund um die richterliche Entscheidfindung auf und schildern, wie der Entscheidungsprozess verlaufen soll.2 Es werden rechtliche und psychologische Aspekte aufgezeigt, die bei der Frage des Kindeswohls dienlich sein können.
1. Probleme der Entscheidfindung
1.1 Fallbeispiel 1: Maja 3
Als Maja acht Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern – zwei Akademiker – auf Wunsch der Mutter, die eine neue Liebesbeziehung einging. Maja sowie ihre beiden älteren Schwestern, welche die emotionale Verletztheit des Vaters spürten, stellten sich aus Mitgefühl hinter den Vater. Gegenüber dem Gericht äusserten die drei Töchter den Wunsch, beim Vater zu wohnen, während sie die Mutter scharf kritisierten.
Maja brachte gegenüber ihrem Vater und dem Richter zum Ausdruck, die Mutter habe sie früher geschlagen und sie wolle die Mutter nicht mehr besuchen. Ausserdem starre der neue Freund der Mutter auf anrüchige Weise auf ihre Unterhose. Der Mutter gegenüber erzählte Maja hingegen, sie habe Angst vor dem Vater und wünsche sich sehnlich, bei der Mutter zu wohnen. Auch die älteren Schwestern beteuerten ihrem Vater gegenüber, den Kontakt zur Mutter abzulehnen. Der Vater brachte zum Ausdruck, dass er deren Kontakt zur Mutter wichtig finde, nicht jedoch zu deren neuem Partner.
Entgegen der Beteuerung der Töchter, den Kontakt zur Mutter abzulehnen, besuchten alle drei die Mutter immer wieder heimlich und ohne Kenntnis des Vaters und der anderen Schwestern. Auf Seiten der Mutter entstand der Eindruck, die Töchter seien beim Vater gefährdet. Sie reichte einen entsprechenden Antrag bei der Kesb ein. Der Kesb und dem Gericht versicherten die inzwischen zehnjährige Maja und die Geschwister, sie wollten beim Vater leben und auf regelmässige Besuche bei der Mutter verzichten.
Ein Jahr später verlegte Maja unangekündigt ihren Wohnort zur Mutter – mit der Begründung, der Vater bedrohe sie und verbiete ihr, die Mutter zu sehen. Die zwei älteren Schwestern lehnten Besuche bei der Mutter weiterhin offiziell ab und zeigten sich besorgt um ihre jüngere Schwester, da der Partner der Mutter angeblich ein sexuelles Interesse an Maja habe.
1.2 Aufgeworfene Fragen
Dieser Fall ist exemplarisch für viele familienrechtliche Fälle. Aufgrund der gegensätzlichen Angaben der Parteien entstehen Unklarheiten bezüglich des Wohlergehens des Kindes, die vom Richter im Scheidungsverfahren und von der Kesb aufgrund der Gefährdungsmeldung untersucht werden müssen. Es stellen sich mehrere Fragen bezüglich der Kinderanliegen:
Ist das Kind beim Vater oder bei der Mutter gefährdet?
Wird das Kind geschlagen?
Besteht die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs?
Bedroht der Vater das Kind?
Bei welchem Elternteil möchte das Kind wohnen?
Wird der Kontakt zum anderen Elternteil wirklich erschwert?
Wie kann die Besuchsregelung sinnvoll umgesetzt werden?
Sind die Vorwürfe von Maja begründet oder handelt es sich dabei um Selbstschutzstrategien im Zusammenhang mit einem Loyalitätskonflikt?
Oftmals befürchten getrenntlebende Eltern, die Betreuung durch den andern Elternteil könne das Kind gefährden. Diese Sorge wird verstärkt, wenn das Kind Negatives über den jeweils anderen berichtet.
Richter wünschen sich eindeutige und schnell fassbare Sachverhalte – was bei familienrechtlichen Konflikten eher selten ist. Eine fundierte Entscheidung setzt eine präzise und zeitintensive Abklärung voraus. Die involvierten Parteien erwarten vom Richter sofortige Massnahmen, um das Kind zu schützen.
2. Fachgerechte Analyse
Im Spannungsfeld zwischen rechtlichen und psychologischen Herausforderungen muss der Richter über einen methodischen Leitfaden verfügen, der einer fachgerechten Analyse des Kindeswohls dient und vor voreiligen und Bauchentscheiden schützt.
2.1 Konkretisierung des Begriffs Kindeswohl
Der Begriff Kindeswohl wird von Juristen und Psychologen teilweise pauschal und ohne ausreichende Konkretisierung verwendet. Er wird irrtümlich als ein generisches Schwarz-Weiss-Kriterium aufgefasst, welches erfüllt ist oder nicht.
Ein klares Verständnis des Kindeswohls ist unabdingbar für die Entscheidfindung. Nur eine Konkretisierung des Begriffs schafft eine nützliche und transparente Grundlage für die Entscheidung. Diese muss für alle Beteiligten verständlich und nachvollziehbar sein.
Das Kindeswohl ist vielschichtig und umfasst verschiedene Kindesbedürfnisse sowie elterliche Kompetenzen. Es verlangt eine differenzierte Analyse. Gemäss UN-Kinderrechtskonvention umfasst es mindestens sechs «basic needs», die für eine gute Entwicklung des Kindes erfüllt sein müssen.4
Aus familienrechtspsychologischer Sicht wird unter dem Kindeswohl eine günstige Relation zwischen der Bedürfnislage des Kindes und seinen Lebensbedingungen verstanden. Das Kindeswohl ist keine konstante Grösse, sondern eine flexible Konstellation von persönlichen und sozialen Faktoren sowie von Risikofaktoren. Eine «günstige Relation» ist gegeben, wenn die «Lebensbedingungen die Befriedigung der Bedürfnisse insoweit ermöglichen, dass die sozialen und altersgemässen Durchschnittserwartungen an körperliche, seelische und geistige Entwicklung erfüllt werden, aber auch die individuellen Entwicklungsanforderungen eines konkreten Kindes berücksichtigen».5 Dabei ist eine individuelle Analyse der Bedürfnislage notwendig, da die Bedürfnisse jedes Kindes unterschiedlich sind, je nach Alter, eigenen Stärken und Defiziten sowie je nach sozialer Unterstützung im Umfeld des Kindes.
2.2 Bedürfnisse des Kindes, Kompetenzen der Eltern
Eine individuelle Analyse der Kindesbedürfnisse ist notwendig.6 Dazu gehören grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung und Versorgung, Erhalt der Gesundheit, Sicherheit, Schutz vor Gefahren, Zuwendung und Liebe, stabile Bindungen, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung oder Bildung. Individuelle Einflussfaktoren wie Alter, Stärken und Schwächen des Kindes und die soziale Unterstützung im Umfeld sind zu berücksichtigen. Sodann stellt sich die Frage, welche dieser Bedürfnisse von den Eltern ausreichend, unzureichend oder gar nicht erfüllt werden?
Dazu müssen die elterlichen Kompetenzen quantitativ und qualitativ untersucht werden. Hat der Elternteil die Kompetenz, als Bindungsperson für das Kind zu fungieren, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, Werte und Regeln zu vermitteln, dem Kind Wertschätzung entgegenzubringen und Kontinuität in Erziehung, Beziehung und Umfeld herzustellen? Es fragt sich dabei nicht nur, ob der Elternteil in der Lage ist, das jeweilige Bedürfnis zu erfüllen, sondern auch die Bereitschaft dazu aufbringt.
2.3 Verwirklichungsgrade des Kindeswohls
Bei der Analyse der Kindesbedürfnisse und der elterlichen Kompetenzen wird je nach Grad der Verwirklichung des Kindeswohls zwischen drei Varianten unterschieden: Bestvariante, Genug-Variante und Gefährdungsabgrenzung. Die klare Unterscheidung dieser drei Ebenen ist massgeblich für die korrekte Verwendung des Begriffs Kindeswohl.7
Best-Variante: Das Kindeswohl ist optimal erfüllt.
Genug-Variante: Eine ausreichend günstige Relation liegt vor oder kann hergestellt werden.
Gefährdungsvariante: Zentrale Grundbedürfnisse des Kindes sind nicht erfüllt. Die Eltern erkennen die Defizite nicht oder sie können respektive wollen die Defizite nicht beheben. In diesem Fall besteht Handlungsbedarf seitens der Behörden.
3. Vier Phasen der Entscheidung
Der Entscheidungsprozess sollte im Idealfall vier Phasen durchlaufen: 1. objektive Erhebung von Informationen durch Anhörungen und Aktenstudium; 2. Auswertung der gesammelten Informationen mit Fachwissen und wissenschaftlichen Theorien; 3. Entscheidung auf Grundlage der Auswertung; 4. Entscheidungsbegründung.
3.1 Pflicht zur Hypothesenbildung
Beim Entscheid, ob eine Gefährdungsvariante vorliegt, sind zwei Hypothesen zu prüfen: «Verdacht trifft zu» versus «trifft nicht zu». Die Nennung der Hypothesen ist für die Erhebung der Informationen und deren Auswertung bedeutsam. Da oft ungewollt Vorannahmen entstehen, gehört es zum richterlichen Entscheidungsprozess, bewusst auch Informationen zu suchen, die der eigenen Vorannahme widersprechen. Die Einhaltung der Pflicht zur Hypothesenbildung kostet Aufwand. Sie mindert aber die Gefahr intuitiven Herangehens, der selektiven Beurteilung von Informationen und fallunspezifischer Routinen.8 Die Nullhypothese und Gegenhypothese sollen zu Beginn des Entscheidungsprozesses festgehalten werden. Nullhypothese: Eine Schädigung und/oder Gefährdung des Kindes liegt nicht vor und/oder ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Gegenhypothese: Eine Schädigung und/oder Gefährdung des Kindes liegt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor.9
Die Gestaltung der Entscheidfindung als hypothesengeleiteter Prozess erhöht die Neutralität des Richters. Sie führt zu einer besser begründeten, zuverlässigeren und besser nachvollziehbaren Entscheidung. Am Ende des Auswertungsprozesses erfolgt die Entscheidung, ob die Nullhypothese (keine Gefährdung) angenommen oder widerlegt wird. Wird sie widerlegt, liegt eine Gefährdung vor.
3.2 Abklärung der Kindeswohlgefährdung
Welche Vor- und Nachteile haben (a) die sofortige Entscheidung mit Intervention, bei der das Kind ohne vorgängige Abklärung geschützt werden soll, und (b) ein «hypothesengeleiteter Entscheidungsprozess», der zeitintensiver ist und erst nach einer transparenten Abklärung erfolgen kann? Eine sofortige Sistierung des Vater-Kind-Kontakts schützt das Kind vor einer möglichen Gefährdung zu einem Zeitpunkt, an dem der Richter den Verdacht noch nicht vertieft untersuchen kann.
Dabei werden mögliche Auswirkungen der sofortigen Intervention auf die Zukunft des Kindes teilweise unterschätzt. Sie schafft für das Kind eine «neue Realität», die sich unter Umständen aufgrund der Familiendynamik nicht mehr rückgängig machen lässt, auch wenn gar keine Gefährdung vorlag. Es besteht die Gefahr von Kontaktabbruch und Entfremdung, die für das Kind langfristige psychische Folgen haben kann: Es verliert eine zentrale Bezugsperson.
Beide Vorgehensweisen – die Sofortmassnahme sowie die Entscheidung nach eingehender Vorabklärung – sind mit Risiken für das Kindeswohl verbunden. Ein hypothesengeleiteter Entscheidungsprozess soll vor diesem Hintergrund eine Entlastung darstellen, da er die Nachvollziehbarkeit des Entscheides in den Vordergrund stellt.
3.3 Fallbeispiel 2: Jonathan
Der sechsjährige Jonathan wuchs in einer Patchworkfamilie auf, bestehend aus seinen ledigen Eltern und drei Halbgeschwistern. Der Familienalltag war geprägt von ständigen Konflikten, sowohl zwischen den Eltern als auch zwischen den Eltern und seinen drei älteren, pubertierenden Geschwistern.
Die Eltern trennten sich, als Jonathan fünf Jahre alt war. Der elterliche Streit um die Obhut und die Besuchsregelung belastete das Familiensystem weiterhin. Im ersten Jahr nach der Trennung wohnte Jonathan bei der Mutter und besuchte seinen Vater und seinen älteren Bruder regelmässig. Beide Elternteile wandten sich mehrfach an die Kesb, warfen dem anderen Elternteil Defizite im Umgang mit Jonathan vor und wiesen darauf hin, dass Jonathan nicht zum anderen Elternteil zurückgehen wolle.
Nach den dreiwöchigen Sommerferien mit dem Vater zeigte die Mutter den Vater wegen sexuellen Handlungen mit dem Kind an. Jonathan habe nach Angabe der Mutter im Badezimmer wiederholt und intensiv sein Glied berührt und verschiedene Posen vor dem Spiegel vollführt. Nach mehrfacher Nachfrage der Mutter, die Jonathan vorerst nicht beantwortete, habe Jonathan angegeben, er berühre sein «Schnäbi», weil der Vater ihm dies gesagt habe. Die Mutter fragte Jonathan, ob der Vater denn Fotos oder Filme von ihm gemacht habe, als er sein Schnäbi berührt habe, was Jonathan bestätigte. Am nächsten Tag wandte sich die Mutter an die Kesb und an die Polizei.
Der bald siebenjährige Jonathan sowie die Eltern wurden im Rahmen des Strafverfahrens befragt. Der Vater bestritt die Vorwürfe vehement und äusserte seine Sorge um die Beziehung zu seinem Sohn. Zugleich kritisierte er die erzieherischen Fähigkeiten der Mutter und beschrieb diese als unorganisiert, unzuverlässig und zugleich kontrollierend, während die Mutter den Vater ihrerseits als aggressiv, drohend und impulsiv bezeichnete.
Die polizeiliche Untersuchung ergab, dass der Vater über keine entsprechenden Videos und Fotos von Jonathan in der genannten Pose auf seinen Geräten verfügte. Trotzdem hielt die Mutter an ihrem Verdacht fest und wünschte, dass Jonathan den Vater nicht wieder besuchen dürfe.
Jonathan selbst thematisierte im Rahmen seiner Befragung das häufige Streiten der Eltern. Es kam dabei zum Ausdruck, dass Jonathan gegenüber seinen Eltern in der Vergangenheit mehrmals negative Aussagen über das Verhalten des jeweils anderen Elternteils gemacht hatte. So erzählte er seinem Vater, die Mutter schreie ihn teilweise an und schlage ihn, wenn er von den Besuchen beim Vater heimkehre. Umgekehrt erzählte er seiner Mutter, der Vater zwinge ihn manchmal dazu, über Nacht in dessen Wohnung zu bleiben, obwohl er lieber nach Hause zur Mutter gehen würde.
4. Fehlen objektiver Beweise
Im beschriebenen Fall besteht der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, ohne dass aber objektive Beweise vorliegen. Es steht Aussage gegen Aussage. Der Richter muss entscheiden. Zuvor müssen mehrere Fragen zwingend strukturiert aufgelistet, untersucht und beantwortet worden.Für die Analyse sind Erkenntnisse der Glaubhaftigkeitsbeurteilung sowie der Familienpsychologie nötig.
5. Erkennen hoher Konflikthaftigkeit
Jede Trennung stellt eine Herausforderung dar und ist mit Konflikthaftigkeit verbunden. In den meisten Fällen lässt sich das Konfliktpotenzial über die Zeit reduzieren oder überwinden, während fünf bis sieben Prozent der Familien in Trennung und Scheidung sich so im Konflikt verstricken, «dass von einer Hochkonflikthaftigkeit gesprochen werden kann».10 Walter und Dettenborn unterscheiden zwischen drei Eskalationsstufen der Konfliktentwicklung:
Wortkonflikte
basales Konflikthandeln
Hochkonflikthaftigkeit.
Die Stufen bauen aufeinander auf. Wortkonflikte können selbstverständlich Bestandteil der höheren Konfliktstufe, das heisst des basalen Konflikthandelns, sein. Es geht um dominante Merkmale des Agierens, nicht um das ausschliessliche Auftreten einzelner Merkmale.11 Solange keine Verhärtung der Elternbeziehung im Hochkonflikt vorliegt, besteht die Möglichkeit zum Einvernehmen.
5.1 Stufen der Eskalation12
Im Rahmen einer Quantifizierung wird mittels Auszählung der vorhandenen Kriterien ein Summenwert gebildet. Gemäss der Kriterienliste sind maximal 18 Punkte möglich, wobei zusätzlich 1 Punkt beim Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung eines Konfliktpartners und 1 Punkt bei psychopathologischer Devianz mit Belang für den Konflikt vergeben werden kann. Dies ergibt maximal 20 Punkte. Je nach Summenwert werden drei Stufen der Hochkonflikthaftigkeit unterschieden:12
1–5 Punkte, Stufe 1: geringe Hochkonflikthaftigkeit
6–10 Punkte, Stufe 2: mittlere Hochkonflikthaftigkeit
Ab 11 Punkten, Stufe 3: ausgeprägte Hochkonflikthaftigkeit.
«Auf Stufe 3 wird davon ausgegangen, dass ein Hinwirken auf Einvernahme nicht mehr mit hinreichender Erfolgswahrscheinlichkeitdurchführbar ist.»13
6. Irrtum, Lüge und Suggestion
6.1 Täuschung als familiäres Alltagsphänomen
Eine Lüge ist eine absichtliche, bewusste sprachliche Täuschung. Es handelt sich dabei um ein verbreitetes menschliches Verhalten aller Altersstufen. Menschen lügen aus verschiedenen Motivationen mehrfach am Tag. Das prosoziale Lügen, welches eine positive Absicht verfolgt, wird Kindern relativ früh beigebracht. So lernen Kinder etwa, sich höflich für ein Geschenk zu bedanken, auch wenn ihnen das Geschenk nicht gefällt, und ihre wahre Enttäuschung zu verbergen. Kinder und Erwachsene nutzen sprachliche Täuschungen auch als Selbstschutz, um peinliche Eingeständnisse zu vermeiden oder um sich aus der Affäre zu ziehen. Bewusste Täuschungen können auch im Streit unter Geschwistern vorkommen, um dem anderen (kurzfristig) zu schaden.14
Die Täuschungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen entwickelt sich mit zunehmendem Alter.15 Bereits im Alter von etwa zwei bis drei Jahren lassen sich erste Lügen bei Kindern beobachten.
Die Lügen, die Kinder in diesem Alter erzählen, sind meist leicht zu entdecken und verfolgen das Ziel, sich vor potenzieller Bestrafung zu schützen oder anderen zu gefallen. Gesamthaft zeigt sich, dass die Mehrheit der Kinder ab dem Alter von vier Jahren in der Lage ist, zu täuschen. Allerdings haben junge Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren noch erhebliche kognitive Schwierigkeiten damit, eine in sich stringente Täuschung zu produzieren. Ab dem Alter von rund sieben Jahren gelingt es Kindern zunehmend besser, diese Anpassung vorzunehmen, und sie können in dem genannten Sinne effektiver täuschen.
6.2 Täuschung als Selbstschutz
Wenn Eltern sich trennen und diese Trennung konflikthaft verläuft, befinden sich die Kinder häufig in einem schweren Loyalitätskonflikt. Die Produktion von sprachlichen Täuschungen kann für die Kinder in solchen Situationen psychologisch gesehen eine Entlastung bedeuten, namentlich weil:
bestimmte Konflikte vermieden werden;
gegensätzliche Erwartungen der Eltern erfüllt werden, indem das Kind beiden Elternteilen vermittelt, der andere Elternteil würde seine Bedürfnisse weniger gut erfüllen.
Jonathan aus dem angeführten Fallbeispiel 2 scheint sich – aus Loyalität zu dem Elternteil, bei dem er im Moment gerade ist – dazu veranlasst zu sehen, negativ über den anderen Elternteil zu sprechen. Zur Fähigkeit, bewusst zu täuschen, gehören auch Auslassungen von positiven Aspekte oder eine übertriebene Darstellung von negativen Aspekten des anderen Elternteils. Dazu gehört auch das Verschweigen von negativen Aspekten des eigenen Verhaltens (etwa der Vater ärgerte sich, weil das Zimmer nicht aufgeräumt war).
Für die Eltern besteht die Schwierigkeit in solchen Situationen darin, dass sie nicht wissen, ob Jonathan beim anderen Elternteil tatsächlich leidet oder ob er diese Erzählungen lediglich erfindet, um sich loyal zu zeigen. Eine Fehleinschätzung von Jonathans Vorwürfen durch die Eltern bedeutet entweder ein Gefährdungsrisiko für Jonathan, sollten die Vorwürfe stimmen, oder ein Gefährdungsrisiko für ihn und für die Erwachsenen in seinem Umfeld, sollten die Vorwürfe nicht stimmen. Entsprechend führen sie bei beiden Elternteilen zu grosser Besorgnis. Das Leben in zwei Parallelwelten ermöglicht Jonathan Selbstrechtfertigungsmuster. So entschuldigt er eigene Verfehlungen mit der Erklärung, dass beim anderen Elternteil etwas nicht in Ordnung ist.
6.3 Es geht um die Aussage, nicht um die Person
Da niemand immer lügt und keiner durchwegs die Wahrheit sagt, wird in der Aussagepsychologie nicht die «allgemeine Glaubwürdigkeit einer Person» untersucht, sondern die Glaubhaftigkeit einer konkreten Aussage zum Sachverhalt.16 Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit stellt eine systematische Hypothesenüberprüfung dar.17 Es wird mit unterschiedlichen Methoden untersucht, ob die Aussage erlebnisbasiert ist beziehungsweise in dieser Form nur vorliegen könnte, wenn ein Erlebnisbezug besteht, oder ob die Aussage ein Produkt von Irrtum, bewusster Täuschung oder Suggestion darstellen könnte.
Gerichte und Behörde können mit bewussten kommunikativen Täuschungen konfrontiert sein, wenn es um Kindesanliegen geht, und zwar sowohl von Erwachsenen wie auch von Kindern.
7. Beurteilung der Glaubhaftigkeit
7.1 Beurteilung durch Gericht und Kesb
Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung gehört zu der täglichen Aufgabe von Juristen, und zwar beim Zivilgericht, bei der Kesb,19 bei der Staatsanwaltschaft20 und im Strafgericht – immer dann, wenn Aussage gegen Aussage steht.
Die Aussagepsychologie erforscht Methoden zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge und blickt auf eine hundertjährige Forschungstätigkeit zurück.21 Bereits Stern entschied zwischen drei Ursachen von Falschaussagen: Irrtum (unabsichtliche Produktion einer falschen Aussage aufgrund der fehlerhaften Wahrnehmung eines Aussagenden), Lüge (bewusste Täuschung) und Suggestion (Falschaussage aufgrund von Fremdeinflüssen und autosuggestiven Prozessen). Basierend auf dieser Unterteilung brachte die aussagepsychologische Forschung Methoden hervor, um zwischen erlebnisbasierten Aussagen und Falschaussagen sowie zwischen deren verschiedenen Ursachen zu unterscheiden.
7.2 Hypothesenbildung im Entscheidprozess
Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit erfolgt durch eine systematische Hypothesenüberprüfung.22 Mit unterschiedlichen Methoden wird untersucht, ob die Aussage erlebnisbasiert ist (beispielsweise in dieser Form nur vorliegen könnte, wenn ein Erlebnisbezug besteht) oder ob die Aussage ein Produkt von Irrtum, bewusster Täuschung oder Suggestion darstellen könnte.
Für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung stellt die konkrete Formulierung von Gegenhypothesen zur Wahrannahme einen wichtigen Schritt dar, da hiermit die Suchrichtung vorgegeben wird.23 Die Hypothesen sind offenzulegen. Die Untersuchung muss ergebnisoffen durchgeführt werden und darf nicht suggestiv sein. Die Gespräche mit dem Kind und den Eltern dienen als Grundlage für die fachgerechte Auswertung. Die Tätigkeit des Gerichts und der Kesb ist in diesem Kontext – bei Aussage gegen Aussage – äusserst anspruchsvoll: Das Gericht und die Kesb wollen dem Kind helfen, müssen aber vorerst wissen, ob die Aussage des Kindes erlebnisbasiert, erfunden oder suggeriert ist, damit sie dem Kind tatsächlich helfen können. Denn das Kind kann (a) über erlebnisbasierte Belastungen berichten (Schlagen durch die Eltern, Streit über Hausaufgaben), es kann (b) gleichzeitig über erlebnisbasierte Belastungen berichten (Streit über Hausaufgaben) und zusätzlich eine Belastung erfinden («Meine Mutter hat mich mit so viel Wut geschlagen») und es kann (c) eine tatsächliche Belastung zugleich auch verschweigen, weil es weiter bei einem der Elternteile wohnen möchte. Aspekte b und c stellen eine bewusste Täuschung dar, da das Kind bei b den Eindruck vermitteln möchte, ein Elternteil betreue es nicht korrekt, und bei c ein Defizit verschweigt, weil es trotz des Defizits bei dem Elternteil leben möchte.
Die Aufgabe des Gerichts und der Kesb ist durch diese breite Variation des kindlichen Verhaltens anspruchsvoll und verlangt viel Fachwissen auch aus der Familienpsychologie und Aussagepsychologie. Mit dieser Schwierigkeit sind auch Kindesvertreter konfrontiert. Die Leitfrage im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbeurteilung wird in der Regel wie folgt formuliert: Könnte der Zeuge (das Kind) mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsbedingungen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert? 24
8. Glaubhaftigkeits-merkmale
Eine fundierte, systematische Analyse der Glaubhaftigkeit kann mit Hilfe der merkmalsgestützten Inhaltsanalyse erfolgen (Glaubhaftigkeitsmerkmale, Realkennzeichen).25 Der Ansatz basiert auf der grundlegenden Überlegung, «dass sich erlebnisfundierte Schilderungen von frei erfundenen Berichten in bestimmten Merkmalen unterscheiden. Das Abgeben einer Aussage wird als eine kognitive Leistung verstanden: Während ein wahrheitsgemäss aussagender Informant seine abgespeicherten Gedächtnisinhalte (nur) korrekt abrufen und in Worte fassen muss, hat ein Lügner die vergleichsweise schwierigere Aufgabe zu bewerkstelligen, eine Aussage über ein komplexes Handlungsgeschehen ohne Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und widerspruchsfrei zu berichten, ohne auf eine abgespeicherte Vorlage zurückgreifen zu können».26 Basierend auf dieser Annahme wurden sogenannte «Realkennzeichen» oder Glaubhaftigkeitsmerkmale entwickelt, also Kriterien, anhand derer eine Differenzierung zwischen erlebnisbasierten Aussagen und erfundenen (verfälschten) Aussagen möglich wird.27 In der Tabelle unten sind die zentralen Realkennzeichen aufgelistet und den kognitiven und strategischen Merkmalen zugeordnet.28 Wenn eine Aussage hohe Qualität aufweist bzw. zahlreiche Realkennzeichen erfüllt sind, spricht dies für die Erlebnisbasiertheit der Aussage des Kindes. Hier muss der Richter zwingend auch berücksichtigen: Mit Prüfung der Realkennzeichen ist der Prozess der Glaubhaftigkeitsbeurteilung nicht abgeschlossen, denn suggerierte und reale Aussagen unterscheiden sich nicht zwingend in ihrer Qualität,29 jedoch zwingend in ihrem Verlauf über die Zeit hinweg. Deshalb sind die Aussagen von Kindern immer vorerst auf suggestive Einflüsse hin zu untersuchen.
9. Suggestive Einflüsse erkennen
Der Wahrheitsgehalt einer Aussage kann nur beurteilt werden, wenn ihr Zustandekommen bekannt ist und eine solide Suggestionsanalyse durchgeführt wird.
9.1 Suggestionshypothese
Die zentrale Frage bei der Suggestionsanalyse ist: Berichtet der Zeuge aufgrund von Suggestionseffekten subjektiv wahre, aber objektiv nichtzutreffende Schilderungen?
Beispiel Jonathan: Seine Aussage über sexuelle Berührungen im Bad durch den Vater ist ein Produkt einer Suggestion, etwa herbeigeführt durch suggestive Fragen Dritter. Es kommt beim siebenjährigen Kind aufgrund von Suggestionseffekten zu subjektiv wahren, aber objektiv nichtzutreffenden Schilderungen.30 Wichtig ist zu wissen, in welchem Zusammenhang die Aussage des Zeugen entstand. Dabei wird nicht nur geklärt, unter welchen Umständen die erste Aussage gemacht wurde, sondern es werden auch alle weiteren Gespräche, in denen das angebliche Ereignis von/gegenüber/mit dem Kind thematisiert wurde, sowie mögliche suggestive Einflüsse im Rahmen der Befragung überprüft: 31
Wem gegenüber wurde die erste Aussage gemacht?
In welcher Situation erfolgte diese Aussage?
Bestand der Verdacht bereits vor der Aussage und wie wurde er abgeklärt?
Welche genauen Angaben wurden gemacht?
Erfolgte die Aussage spontan oder aufgrund von Fragen?
Welche Art von Fragen wurde gestellt?
Welche Erwartungen hatte der Aussagenempfänger?
Wie reagierte er auf die Schilderungen?
Vorsicht bei der Interpretation von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten: Psychosomatische Beschwerden wie Fieber, Bauchweh etc. können bei Kindern als Reaktion auf häusliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch entstehen, aber auch auf Schwierigkeiten im Kindergarten, Schulschwierigkeiten oder familiäre Spannungen. Da solche Symptome sowie auch das aggressive Verhalten eines Kindes ganz verschiedene Ursachen haben können, dürfen sie nicht als Beweise für die Gefährdung des Kindes durch ein Fehlverhalten eines Elternteils interpretiert werden.
9.2 Pseudoerinnerungen
Ein Kontaktabbruch kann zu falschen Erinnerungen, sogenannten Pseudoerinnerungen führen. Sie können durch die wiederholte negative Thematisierung des abwesenden Elternteils entstehen. Kinder wie Erwachsene erinnern sich nicht allein an Ereignisse, sondern an die Thematisierung der (angeblichen) Ereignisse. Die wiederholte Thematisierung führt zu Gedächtnisspuren, auch wenn das Ereignis nicht stattfand. Auch unabsichtliche Suggestionseffekte führen zu falschen Gedächtnisinhalten, die von der betreffenden Person nicht mehr als falsch, sondern als eigenes Erlebnis wahrgenommen werden. Sie werden zur subjektiven Wahrheit.32
Bei Jonathan besteht dieses Risiko, wenn Kesb und Gericht den Kontakt zum Vater sistieren, bis die Staatsanwaltschaft im parallelen Strafverfahren über die Anklage entschieden hat, was sechs bis 24 Monate dauern kann. Während des Kontaktverbots kann es zu einer Entfremdung und zur Bildung von falschen Erinnerungen beim Kind kommen.
9.3 Begutachtung der Glaubhaftigkeit
Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist Kernaufgabe von Gerichten, Kesb Staatsanwaltschaften. Auch wenn ein externes Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt wird, ist der Entscheid über die Glaubhaftigkeit Sache des Gerichts oder der Kesb: Das Gutachten stellt bloss eine Empfehlung dar und muss rechtlich gewürdigt werden. Das ist nur möglich, wenn das Gericht und die Kesb Wissen über die Glaubhaftigkeitsbeurteilung haben. Die Anordnung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung deshalb nur in spezifischen Fällen geboten.
10. Mehrere involvierte Instanzen
Bei komplexen Fällen ist es möglich, dass das Zivilgericht, die Kesb und die Staatsanwaltschaft involviert sind. Bei Fallbeispiel 2 haben sich Kesb, Gericht und Staatsanwaltschaft mit der Frage beschäftigt, ob der Vater das Kind sexuell missbraucht hat. Die Akteure haben den gleichen Sachverhalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erfassen:
Die Staatsanwaltschaft: Sie hat retrospektiv zu klären, ob der Tatvorwurf zutrifft, und gegen den Vater Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen. Sie steht bei der Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Kindes hinsichtlich der beweistechnischen Bedeutung der Geburtsstunde der Aussage und auch bei Haftgründen unter Zeitdruck. Dazu hat sie die strafprozessualen Teilnahmerechte zu wahren. Sie muss Vater und Kind möglichst zeitnah befragen, um anschliessend die videodokumentierte und verschriftete Aussage des Kindes auf ihre Glaubhaftigkeit analysieren zu können. Nur so kann – neben weiteren Beweismassnahmen – der Sachverhalt erstellt werden. Sobald das Kind zweimal möglichst zeitnah befragt worden ist, ist eine wichtige Hürde überwunden: Das Aussagematerial für die Glaubhaftigkeitsanalyse wurde erhoben und (weitere) suggestive Einflüsse können die tatnah erhobene und verschriftete Aussage nicht mehr verändern. Die Analyse des Aussagematerials kann später erfolgen und in Relation zum übrigen Beweisergebnis gesetzt werden.
Gericht und Kesb: Ihre Fragen beziehen sich auf die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft. Sie müssen entscheiden, ob für das Kind eine Gefährdung besteht und der Kontakt zum Vater einzuschränken ist.
Die Abklärungen beruhen auf unterschiedlichen Prozessnormen, beim Zivilgericht auf der ZPO, bei der Kesb auf ZGB, ZPO oder Verwaltungsrechtspflege und bei der Staatsanwaltschaft auf der StPO. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Kindes findet zeitgleich in zwei Verfahren statt, soweit ein hinreichender Anfangsverdacht besteht.33 In der Praxis stellt sich die Frage nach der Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Kesb und Gericht: Wer soll auf wen wie lange warten? Für das Gericht und die Kesb ist das Warten auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit im Strafverfahren grundsätzlich möglich, wobei das Warten gravierende Implikationen für das Kind haben kann.
Zu beachten ist, dass sich die strafrechtliche Abklärung auf die Vergangenheit und die strafrechtliche Würdigung bezieht, während die Verantwortung von Kesb und Gericht auf die Gegenwart und die Zukunft sowie das Wohl des Kindes gerichtet ist. Zudem bestehen unterschiedliche zeitliche Vorgaben: Ist keine Haftfrage zu klären, besteht bei der Strafuntersuchung weniger Dringlichkeit, während die Kindesschutzbehörde oder das Gericht rasch über einen Gefährdungsschutz entscheiden müssen.
Es besteht daher Bedarf nach Koordination, ohne gegenseitig die Entscheidungen oder Würdigungen abwarten zu können. Empfehlenswert erscheint eine gegenseitige Absprache insbesondere betreffend die Erstbefragung des Kindes, deren Auswertung für beide Instanzen wichtig ist. Damit soll auch dem Anliegen Rechnung getragen werden, auf Mehrfachbefragungen des Kindes soweit möglich zu verzichten.
11. Fazit
Der Entscheidungsprozess setzt eine individuelle Analyse der Kindesbedürfnisse und der elterlichen Kompetenzen und deren Einfluss auf die Erfüllung der Kindesbedürfnisse voraus. Dabei ist interdisziplinäres Wissen über die Methodik der Glaubhaftigkeitsbeurteilung und Familienpsychologie nötig und sollte ein Teil der Aus- und Weiterbildung von Kindesschutzorganen sein. Es bleibt ein Spagat im Entscheidungsprozess: Eine rasche Entscheidung über die Anliegen des Kindes ist angesichts einer möglichen Kindeswohlgefährdung unabdingbar und zugleich ist die Zeit für eine solide Untersuchung nötig.
In diesem Spannungsfeld dürfen Kindes- und Elternwohl nie aus den Augen verloren werden. Dieser Spagat im richterlichen Entscheidungsprozess stellt eine ständige Herausforderung dar, die nur mit Interdisziplinarität, Zeit, Nachsicht und Demut bewältigt werden kann.
11.1 Hinweise für die Praxis
Die Kenntnis zentraler Grundlagen der Familienpsychologie, Entscheidungspsychologie und Aussagepsychologie ist für Gerichte und Behörden und für den Entscheidungsprozess unabdingbar. Auch für die Anwaltschaft und für Beratungsstellen sind diese Erkenntnisse von Bedeutung. Konkret geht es um folgende Aspekte:
Eine Spezifizierung und Konkretisierung der Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung: Nennung der erfüllten und nicht erfüllten Grundbedürfnisse des Kindes und Analyse der Kompetenzen der Eltern, die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen.
Bestimmung des Grads der Verwirklichung des Kindeswohls: Best-Variante, Genug-Variante, Gefährdungsvariante.
Solide Kenntnisse der Aussagepsychologie berücksichtigen.
Die Entwicklung der Aussage des Kindes über eine mögliche Gefährdung muss vor jeder Entscheidung rekonstruiert und analysiert werden.
Umgang mit kommunikativen Täuschungen in den Diensten des Loyalitätskonflikts.
Symptome wie aggressives Verhalten oder plötzliches Einnässen sind keine Beweise für die Gefährdung des Kindes durch Fehlverhalten eines Elternteils und können verschiedene Ursachen haben.
Revital Ludewig, Psychologin FSP, St. Gallen
Guido Marbet, Oberrichter, Rheinfelden AG
Thomas Geiser, Em. Professor für Privat- und Handelsrecht, St. Gallen
Philipp Maier, Bezirksrichter, Bubikon ZH
Daphna Tavor, Psychologin FSP, St. Gallen
Michel-André Fels, Generalstaatsanwalt des Kantons Bern, Burgdorf
1 Gemeint sind sowohl Richter wie auch Behördenmitglieder.
2 Der vorliegende Beitrag basiert auf Vorträgen der sechs Autoren aus der Weiterbildung «Zwischen Wahrheit und Lüge: Aussagepsychologie für die Rechtspraxis» (2018–2021) und der Tagung «Richterliche Entscheidungsfindung bei Kindsanliegen» (2021).
3 Die Fallbeispiele sind erfunden.
4 Vgl. Linus Cantieni / Stefan Blum, Fachhandbuch Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, Zürich 2016, N 15.6 ff. m.w.H., S. 321 ff.
5 Eginhard Walter /Harry Dettenborn, Familienrechtspsychologie, Stuttgart 2016, S. 71.
6 Revital Ludewig / Sonja Baumer / Josef Salzgeber / Christoph Häfeli / Kurt Albermann, «Richterliche und behördliche Entscheidungsfindung zwischen Kindeswohl und Elternwohl: Erziehungsfähigkeit bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil», in: FamPra.ch, Nr. 3 (2015), S. 571.; vgl. Walter / Dettenborn, a.a.O., S. 72.
7 Walter / Dettenborn, a.a.O., S. 73 f.
8 Walter / Dettenborn, a.a.O., S. 367.
9 Ebd., S. 291.
10 Joachim Schreiner / Jonas Schweighauser, «Hochstrittige Scheidungen in interdisziplinärer Sicht – was hilft (noch)?», in: Andrea Büchler und Ingeborg Schwenzer (Hrsg.), Achte Schweizer Familienrecht§Tage, Bern 2016, S. 248.
11 Walter / Dettenborn, a.a.O., S. 144.
12 Ebd., S. 145.
13 Ebd., S. 151.
14 Revital Ludewig / Sonja Baumer / Daphna Tavor, «Einführung in die Aussagepsychologie – Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern und Staatsanwälten helfen?», in: Revital Ludewig / Sonja Baumer / Daphna Tavor (Hrsg.), Aussagepsychologie für die Rechtspraxis. Zwischen Wahrheit und Lüge, 1. Auflage, Zürich 2017; vgl. Jeanette Schmid, Lügen im Alltag – Zustandekommen und Bewertung kommunikativer Täuschungen, Münster 2000; vgl. Susanne Niehaus, «Täuschungsstrategien von Kindern und Erwachsenen», in: Klaus P. Dahle / Renate Volbert (Hrsg.), Entwicklungspsychologische Aspekte der Rechtspsychologie. Göttingen 2005. Peter Stiegnitz, Die Lüge – das Salz des Lebens: ein Essay, Wien 1997.
15 Renate Volbert, «Besonderheiten bei der aussagepsychologischen Begutachtung von Kindern», in: Thomas Bliesener / Friedrich Lösel / Günter Köhnken (Hrsg.), Bern 2014, S. 413.
16 Ludewig / Baumer / Tavor, a.a.O. 2017, S. 26.
17 Hans Wiprächtiger, «Aussagepsychologische Begutachtung im Strafrecht», in: Ludewig / Baumer / Tavor (Hrsg.), Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, a.a.O.
18 Thomas Geiser, «Wir sind der Wahrheit verpflichtet, aber welcher? Die formelle und materielle Wahrheit im familienrechtlichen Verfahren», und Matthias Stein-Wigger, «Aussagepsychologie im Zivilrecht», in: Ludewig / Baumer / Tavor (Hrsg.), Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, a.a.O.
19 Vgl. Guido Marbet, «Die Herausforderung bei der Wahrheitssuche im Kindesschutzverfahren: Welche Grundkenntnisse der Aussagepsychologie können in der familienrechtlichen Praxis helfen?», in: ZKE, Nr. 4 (2019), S. 293–309.
20 Michel-André Fels, «Staatsanwaltschaft – Polizei: Zusammenarbeit bei der Suche nach der Wahrheit», in: Ludewig / Baumer / Tavor (Hrsg.), Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, a.a.O.
21 William Stern, «Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt», in: William Stern (Hrsg.), Beiträge zur Psychologie der Aussage, Nr. 1, Leipzig 1904, S. 26.
22 Wiprächtiger, a.a.O., S.495–510.
23 Adrian Berlinger, Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Strafprozess. Beweiseignung und Beweiswert, Zürich 2014.; Ludewig / Baumer / Salzgeber / Häfeli / Albermann, a.a.O., S. 561–622.
24 Renate Volbert, «Glaubwürdigkeitsbegutachtung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern», in: ZKP, Nr. 23 (1995), S. 20–26.
25 BGE 128 I 81, 129 I 49. Ausführlicher hierzu: Wiprächtiger, a.a.O.
26 Maria Fiedler, Die Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 2003, S. 188.
27 Renate Volbert / Max Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, München 2004, S. 695.
28 Susanne Niehaus, Zur Anwendung inhaltlicher Glaubhaftigkeitsmerkmale bei Zeugenaussagen unterschiedlichen Wahrheitsgehaltes. Eine Simulationsstudie mit kindlichen Verkehrsunfallopfern. Frankfurt am Main 2001; Susanne Niehaus, «Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse», in: Renate Volbert / Max Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, Göttingen 2008, S. 311–321.
29 Renate Volbert, «Suggestion», in: Ludewig / Baumer / Tavor (Hrsg.), Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, a.a.O.
30 Berlinger, a.a.O., S. 18.; vgl. Gabrielle Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg 2012.
31 Renate Volbert / Klaus P. Dahle, Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren, Göttingen 2010.
32 Ludewig / Baumer / Tavor 2017, a.a.O., S. 77.
33 Art. 450a–f in Verbindung mit Art. 314 Abs. 1 ZGB.