1. Lücke im Sozialversicherungsrecht
Die Krankentaggeldversicherung stellt über Einzel- und Kollektivversicherungen den Schutz vor Folgen einer vorübergehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit sicher und ist damit namentlich im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen ein weit verbreitetes Versicherungsprodukt. Dennoch ist die Krankentaggeldversicherung gewissermassen eine Exotin unter den Erwerbsausfallversicherungen: Zur Absicherung der sozialen Erwerbsausfallrisiken «Invalidität», «Unfall» und «Mutterschaft» bestehen heute für Angestellte lückenlos obligatorische Sozialversicherungen. Anders als in den Nachbarländern ist in der Schweiz die Versicherung des Erwerbsausfallrisikos «Krankheit» jedoch (mit Ausnahme bestimmter Branchen aufgrund allgemeinverbindlich erklärter GAV) freiwillig. Wurde keine entsprechende Krankentaggeldversicherung abgeschlossen, kommt für unselbständig Erwerbende einzig die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers gemäss Obligationenrecht zum Tragen. Diese verpflichtet zur Leistung des Lohns für einen stark beschränkten Zeitraum.1
2. Pflicht zur Lohnfortzahlung
2.1 Grundsätzliches
Artikel 324a OR regelt die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Falle unverschuldeter Verhinderung des Arbeitnehmers an der Arbeitsleistung, also etwa bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, sofern gewisse Voraussetzung erfüllt sind.2 Diese arbeitsrechtliche Pflicht ist jedoch zeitlich stark beschränkt und endet je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses und je nach anwendbarer Lohnfortzahlungsskala3 nach Ablauf weniger Wochen oder Monate.
Artikel 324a Absatz 1 bis 3 OR sind relativ zwingend (Artikel 262 OR). Sie dürfen also nur zugunsten der Arbeitnehmer abgeändert werden. Gemäss Artikel 324a Absatz 4 OR steht es den Parteien jedoch frei, andere Lösungen vorzusehen, die der gesetzlichen Lohnfortzahlungspflicht zumindest gleichwertig sind, was regelmässig durch den Abschluss einer geeigneten Krankentaggeldversicherung getan wird.
Die Versicherungsleistung umfasst meist nur 80 Prozent des Lohns, dauert aber in der Regel mindestens 720 Tage und damit fast immer sehr viel länger als die gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht. Aufgrund des Gestaltungsspielraums im Rahmen dieses privatrechtlichen Versicherungsprodukts ist das Kriterium der Gleichwertigkeit jeweils im Einzelfall zu prüfen.4
2.2 Versicherung und Lohnfortzahlungspflicht
In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, ob der Abschluss einer Krankentaggeldversicherung die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers gänzlich ersetzen oder nur ergänzen soll. Die Konsequenzen dieser Unterscheidung ergeben sich nicht auf Anhieb, können aber weitreichend sein: Der Anspruch auf arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung beginnt mit jedem Dienstjahr neu zu laufen. Ist also bezüglich einer Krankentaggeldversicherung nicht von einer Ersatzlösung, sondern lediglich von einer Erweiterung der Lohnfortzahlungspflicht auszugehen, so kann dies zum Beispiel bedeuten, dass der Arbeitnehmer auf denjenigen Lohn, welchen die Krankentaggeldversicherung nicht ersetzt (zumeist 20 Prozent), weiterhin Anspruch hat. In der Konsequenz ist dieser Teil durch den Arbeitgeber zu entrichten und der Arbeitnehmer kann dennoch von der den Zeitraum der Lohnfortzahlungspflicht weit übersteigenden Dauer der Krankentaggeldzahlungen profitieren. Eine Ergänzungslösung hat im Unterschied zu einer Ersatzlösung auch zur Folge, dass bei einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nach Ablauf der Leistungsdauer der Krankentaggeldversicherung wieder auflebt 5 und der Betrieb den Lohn bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses trotz andauernder Arbeitsunfähigkeit wieder entrichten muss.
Für eine Ergänzung der Lohnfortzahlungspflicht ist eine schriftliche Abrede nicht zwingend vorausgesetzt, da es sich dabei stets um eine Besserstellung des Arbeitnehmers handelt. Für die Vereinbarung einer Ersatzlösung besteht aber gemäss Artikel 324a Absatz 4 OR die Formvorschrift der Schriftlichkeit, wobei die wesentlichen Punkte der Abrede (namentlich Leistungsdauer, Karenzfrist, Finanzierung der Prämien) in der Vereinbarung enthalten sein müssen. Das kann auch durch Verweis auf ein Reglement des Betriebs oder auf Allgemeine Versicherungsbedingungen geschehen, sofern dieses dem Arbeitnehmer bei Unterzeichnung vorliegt.6 Die Vereinbarung einer Ersatzlösung kann demzufolge entweder ungültig sein, weil die Voraussetzung der Gleichwertigkeit nicht erfüllt ist oder weil die Schriftform nicht eingehalten worden ist. Der erste Fall (Ungültigkeit mangels Gleichwertigkeit) hat gemäss aktueller Rechtsprechung zur Folge, dass die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers erweitert wird, womit er gemäss Artikel 324a Absatz 1 OR für die vereinbarte Dauer den Lohn weiterzahlen muss, aber sich grundsätzlich die ausbezahlten Krankentaggelder anrechnen lassen kann.7 Der zweite Fall (Ungültigkeit aufgrund Nichteinhalten der Formvorschriften) bedeutet jedoch gemäss der aktuellen Rechtsprechung, dass weder eine Ergänzungs- noch eine Ersatzlösung besteht, die Abrede aufgrund der umfassenden Ungültigkeit auch nicht in eine Erweiterung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung umgedeutet werden kann und dem Arbeitnehmer somit nur das Entgelt für die vom Dienstalter abhängige Dauer der Lohnfortzahlungspflicht bleibt.8
3. Neuerungen der VVG-Revision
3.1 Anwendbare Rechtsgrundlagen
Die staatliche Regulierung von privatrechtlichen Krankentaggeldversicherungen beschränkt sich auf wenige zwingende oder teilzwingende Bestimmungen im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) sowie auf die Aufsicht durch die Finma.9 Spezifische Regelungen zur Krankentaggeldversicherung enthielt das bereits über hundertjährige VVG bis Ende 2021 nicht. Seit Januar 2022 deklariert Artikel 46 Absatz 3 VVG indes eine eigene Verjährungsfrist und begründet damit die erste und einzige Stelle im VVG, an welcher die Krankentaggeldversicherung explizit erwähnt wird. Artikel 100 Absatz 1 VVG enthält sodann den wichtigen – wenn auch rein deklaratorischen – Verweis, gemäss welchem die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts zur Anwendung kommen, sofern das VVG keine Spezialregelungen enthält. Der Versicherungsvertrag ist und bleibt eine privatrechtliche Vereinbarung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten.
Die Auswirkungen, welche die per 1. Januar 2022 in Kraft getretene Teilrevision des VVG auf die privatrechtliche Krankentaggeldversicherung hat, sind relativ gering. Die entsprechenden Änderungen beschränken sich auf die (durchaus ausschlaggebende) Qualifikation der Versicherung als Schaden- oder Summenversicherung, gewisse neue Informationspflichten der Versicherungsgesellschaften sowie – wie erwähnt – auf eine spezifische Verjährungsregelung.
3.2 Schaden- oder Summenversicherung
Summen- und Schadenversicherungen unterscheiden sich in erster Linie in Bezug auf die Leistungspflicht der Versicherungsgesellschaft. Während die Leistungspflicht bezüglich eines als Schadenversicherung ausgestalteten Versicherungsprodukts stets den Eintritt eines Vermögensschadens bedingt und von dessen Beweisbarkeit abhängt, wird die Leistungspflicht in der bereits zum Voraus festgesetzten Höhe im Rahmen der Summenversicherung alleine durch die Verwirklichung des versicherten Risikos ausgelöst. In letzterem Fall muss also die anspruchsberechtigte Person weder einen Schaden noch die konkrete Schadenshöhe nachweisen, um Leistungen beanspruchen zu können.
Krankentaggeldversicherungen nach VVG werden in der Praxis mehrheitlich als Schadenversicherungen abgeschlossen.10 Oft werden zudem bei Kollektivverträgen mit Deckung für die Angestellten eines Betriebs gemischte Formen gewählt, bei denen für den Betriebsinhaber eine Summenversicherung (die zweckgemäss die Umsatz- und nicht nur die Gewinneinbusse abdeckt) und für die Angestellten eine Schadenversicherung vereinbart wird.11 Die Unterscheidung zwischen Schaden- und Summenversicherung ist in der Theorie recht deutlich. Doch in der Praxis ist sie oft alles andere als einfach und führt regelmässig zu Streitigkeiten. So existieren denn auch Versicherungsverträge, die sowohl Elemente einer Summen- wie auch einer Schadenversicherung aufweisen und deshalb ein gemischtes Versicherungsprodukt darstellen. Es ist somit nicht nur für jeden Versicherungsvertrag, sondern auch für jedes versicherte Risiko einzeln durch Auslegung zu prüfen, ob eine Summen- oder eine Schadenversicherung vorliegt.12 Massgeblich ist diesbezüglich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung neben der Formulierung der Leistungsvoraussetzungen auch der gesamte Charakter des Vertrags.13
Bei der Krankentaggeldversicherung ist die Frage, ob eine Summen- oder eine Schadenversicherung abgeschlossen worden ist, namentlich dann ausschlaggebend, wenn eine versicherte Person nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig wird oder weiterhin arbeitsunfähig ist. Bei einer Summenversicherung besteht zweifelsohne eine Leistungspflicht, da das versicherte Ereignis, die Arbeitsunfähigkeit oder die Krankheit eingetreten ist. Bei einer Schadenversicherung muss grundsätzlich zuerst bewiesen werden, dass ohne Arbeitsunfähigkeit trotz Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Erwerbseinkommen generiert würde – also entweder dieselbe Anstellung noch bestehen würde oder ein neuer Arbeitsvertrag abgeschlossen worden wäre.
Wird das Arbeitsverhältnis mit dem unselbständig Erwerbstätigen gekündigt, nachdem er bereits aufgrund einer Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, gilt jedoch gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Vermutung, dass er ohne diese Krankheit weiterhin eine Arbeitsstelle innehätte und damit nun eine krankheitsbedingte wirtschaftliche Einbusse erleidet.14 Erkrankt hingegen ein arbeitsloser Versicherter oder ein Arbeitnehmer in bereits gekündigtem Arbeitsverhältnis, gilt die ordentliche Beweislastverteilung, weshalb er mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit darzutun hat, dass er eine neue Anstellung gefunden hätte, wenn er nicht erkrankt wäre und somit der Erwerbsausfall nicht auch ohne die Erkrankung eingetreten wäre.15
Aufgrund der bestehenden Unsicherheiten bezüglich Qualifikation der Krankentaggeldversicherung als Summen- oder Schadenversicherung wurde von verschiedenen Seiten gefordert, dass im Zuge der VVG-Revision eine Vermutung zugunsten der Schadenversicherung konstituiert werden soll.16 Trotzdem unterblieb die gewünschte Klarstellung. Eingeführt wurde einzig eine neue Informationspflicht für die Versicherungsgesellschaften, die vorsieht, dass diese den Versicherungsnehmer vor Abschluss des Vertrags darüber zu informieren hat, ob es sich beim Versicherungsprodukt um eine Schaden- oder Summenversicherung handelt (Artikel 3 Absatz 1 litera b VVG). Eine solche Informationspflicht ist grundsätzlich zu begrüssen. Es bleibt indes abzuwarten, inwiefern sich die Versicherungen tatsächlich daran halten werden (und namentlich in einer verständlichen Weise über das Versicherungsprodukt informieren werden), zumal die Konsequenz einer Verletzung der Informationspflicht einzig im Recht zur sofortigen Vertragsauflösung innert vier Wochen seit Kenntnisnahme oder zwei Jahren seit Verletzung besteht (Artikel 3a VVG).
3.3 Informationspflicht des Arbeitgebers
Eingeschränkt wurde sodann mit der Teilrevision des VVG der Geltungsbereich der Informations- oder Aufklärungspflicht gemäss Artikel 3 Absatz 3 VVG. Diese gilt neu nur noch im betrieblichen Umfeld, also im Speziellen bei für Arbeitnehmer abgeschlossenen Krankentaggeldversicherungen, während sie zuvor auch für andere Versicherungen mit Drittbegünstigten, also z.B. bei Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherungen anwendbar war.17 Gemäss dieser Bestimmung hat der Betrieb seine Angestellten über den Abschluss einer kollektiven Personenversicherung, also namentlich einer Krankentaggeldversicherung, zu informieren und den wesentlichen Inhalt des Versicherungsvertrags, Kündigungs- und Änderungsmöglichkeiten schriftlich bekanntzugeben. Dies bedeutet in der Praxis insbesondere, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Ende des Arbeitsverhältnisses auf die Möglichkeit eines Übertritts in die Einzelversicherung informieren muss.18 Eine Unterlassung zieht die arbeitsrechtliche Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers nach sich. Eine wünschenswerte weitere Rechtsfolge, die es nach Auflösung eines Arbeitsverhältnisses möglich machen würde, bei unterlassener Aufklärung durch den Betrieb den Übertritt in die Einzelversicherung auf Kosten des Arbeitgebers dennoch nachzuholen,19 wurde mit der VVG-Revision nicht eingeführt.
Eine solche Möglichkeit des Übertritts ohne entsprechende Erklärung besteht aufgrund des Verweises in Artikel 100 Absatz 2 VVG einzig für versicherte Personen, die im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes als arbeitslos gelten: Artikel 100 Absatz 2 VVG verweist für Arbeitslose auf Artikel 71 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Artikel 71 Absatz 1 KVG sieht für Versicherte in Kollektivversicherungsverträgen das Recht vor, nach dem Ausschluss aus dem Versichertenkreis (also etwa bei Ende des Arbeitsverhältnisses) in eine Einzelversicherung mit derselben Versicherungsgesellschaft überzutreten, ohne dass neue Versicherungsvorbehalte angebracht werden dürften. Über dieses Recht muss die Versicherungsgesellschaft die versicherte Person aufklären. Es ist jedoch üblich, dass Versicherungsgesellschaften die Informationspflicht im Rahmen ihrer AVB an den Arbeitgeber delegieren.20 Für den Unterlassungsfall gilt hier, anders als bei nicht als arbeitslos geltenden Versicherten, dass die Versicherung über die Kollektivpolice fortbesteht (Artikel 71 Absatz 2 KVG).
3.4 Verjährungsregelung
Nach bisherigem Recht verjährten die Forderungen aus Versicherungsverträgen einheitlich, nämlich mit Ablauf von zwei Jahren seit Eintritt der leistungsbegründenden Tatsache. Mit der VVG-Revision wurden nun die Verjährungsfristen für alle übrigen aus Versicherungsverträgen stammenden Ansprüche auf fünf Jahre verlängert (Artikel 46 Absatz 1 VVG), während einzig bei Forderungen gegenüber kollektiven Krankentaggeldversicherungen die Verjährungsfrist bei zwei Jahren belassen wurde (Artikel 46 Absatz 2 VVG). Die Botschaft begründet diese nun spezielle Verjährungsfrist damit, dass es sich bei Leistungen von Krankentaggeldversicherungen um «vorübergehende, kurzfristige Leistungen für einen begrenzten Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit» handle, die sich fünf Jahre später «kaum mehr zuverlässig» beurteilen liessen.21 Im Ergebnis scheint es wenig sachgerecht, den durchaus existenziellen Anspruch auf Ersatz des Erwerbsausfalls schneller verjähren zu lassen als etwa einen Anspruch gegenüber einer Hausratversicherung. Und bei einer Standard-Leistungsdauer von Krankentaggeldversicherungen von 730 Tagen ist die Einordnung als kurzfristige Leistung kaum gerechtfertigt.
4. Gründe für ein Obligatorium
Ein Vergleich zwischen der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlungspflicht des Betriebs und den gängigen Leistungen der Krankentaggeldversicherungen zeigt, dass Angestellte, die krankentaggeldversichert sind, insbesondere bei langandauernder Arbeitsunfähigkeit beträchtlich besser abgesichert und allgemein bessergestellt sind.22 Das gilt selbst, wenn sie sich über einen Lohnabzug an den entsprechenden Prämien zu beteiligen haben. Ein Grossteil der Angestellten profitiert in der Schweiz bereits von einem solchen Versicherungsschutz.23 In den Niedriglohnbranchen sowie dort, wo eine hohe Fluktuation besteht oder Teilzeitarbeit verbreitet ist, sind Krankentaggeldversicherungen seltener. Es sind aber genau diese Arbeitsverhältnisse, in denen überdurchschnittlich viele Leute mit keinen oder nur geringen Ersparnissen beschäftigt sind. Den Betroffenen bleibt bei einer längeren Arbeitsunfähigkeit sehr bald nur der Gang zum Sozialamt. Genau diejenigen Angestellten sind also speziell auf eine Versicherungsdeckung bei krankheitsbedingtem Erwerbsausfall angewiesen, die in Wirtschaftszweigen tätig sind, in welchen oft keine Krankentaggeldversicherungen abgeschlossen werden.
Diese Problematik ist sowohl bei Juristen wie Politikern bekannt. Die Einführung eines Obligatoriums im Sinne einer sozialen Krankentaggeldversicherung wird seit Jahrzehnten diskutiert. Es ist unumstritten, dass mit der obligatorischen Versicherung des sozialen Risikos Erwerbsausfall bei Krankheit eine der letzten Lücken im schweizerischen Sozialversicherungssystem geschlossen und eine unerwünschte Ungleichbehandlung von Angestellten behoben würde. Gründe dafür, dass eine solche Sozialversicherung nicht schon längst eingeführt wurde, könnten darin liegen, dass nur noch relativ wenige Angestellte nicht bereits krankentaggeldversichert sind und dass die Nichtversicherten über keine politische Lobby verfügen. Die Versicherungsgesellschaften haben offenbar ein Interesse am Status quo (konkret an einer Privatversicherung mit geringerer Regulierung und mehr Spielraum für versicherungsfreundliche AVB). Der Einfluss der Versicherungen ist auf der politischen Ebene traditionell gross. Bezeichnenderweise führte der Bundesrat in seinem von 2009 unter «Nachteile» zum Vorschlag einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung für unselbständig Erwerbende einzig an, für die Einführung einer solchen fehle der «politische Druck».24
An Ideen und konkreten Vorschlägen zur Etablierung eines Versicherungsobligatoriums mangelt es nicht: In den verschiedenen juristischen Fachartikeln, Doktorarbeiten und Beiträgen, welche zum Thema über die Jahre verfasst worden sind, findet sich eine Vielzahl von teils sehr konkreten Umsetzungsvorschlägen, Durchführungs- und Finanzierungsvarianten.25 Einschneidende Nachteile sind nicht ersichtlich.26 Namentlich könnte eine obligatorische Krankentaggeldversicherung, wie bis anhin durch einige GAV vorgesehen und in der Praxis häufig umgesetzt, paritätisch durch Beiträge von Arbeitgebern und Angestellten finanziert werden. Eine Mitfinanzierung durch die öffentliche Hand ist sodann keineswegs abwegig, zumal es bereits aus verfassungs- und völkerrechtlicher 27 Perspektive Aufgabe des Staats ist, die sozialen Risiken, namentlich auch die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit, in der Bevölkerung gleichmässig abzusichern (Artikel 41 Absatz 2 BV).28 Eventuell notwendige Unterstützung durch öffentliche Gelder würden voraussichtlich durch Einsparungen im Bereich der Sozialhilfe grösstenteils kompensiert. Dieser Beitrag endet daher mit dem Appell an die Politik, die Einführung einer sozialen Krankentaggeldversicherung erneut zu prüfen und einen Anstoss zur Schliessung der letzten Lücke im Sozialversicherungssystem der Schweiz zu geben.
1 Vgl. dazu unten, Ziff. 2
2 Sofern ein unbefristeter Arbeitsvertrag eingegangen wurde und das Arbeitsverhältnis bereits mehr als drei Monate angedauert hat (oder vor dem dritten Monat gar keine Kündigungsmöglichkeit besteht), oder der Arbeitsvertrag zum Vorhinein befristet und für mehr als drei Monate abgeschlossen worden ist.
3 Abrufbar z.B. unter: www.koordination.ch/de/online-handbuch/krankentaggeld/lohnfortzahlungspflicht.
4 Vgl. zur Rechtsprechung dazu: Ullin Streiff /Adrian von Kaenel /Roger Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319–362 OR, 7. Aufl. Zürich 2012, N 24 zu Art. 324a/b OR.
5 Streiff / Von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 8 zu Art. 324a/b OR, m.w.H.
6 BGer 4A_98/2014 vom 10.10.2014 = JAR 2015 S. 346 = ARV 2015, S. 35.
7 BGer 4A_56/2021 vom 30.4.2021, E. 7.2.
8 BGer 4A_98/2014 vom 10.10.2014, E. 4.2.1 und 4.3.
9 Vgl. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 lit. a Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)
10 Claudia Caderas, «Koordination von Krankentaggeldleistungen», HAVE Schriftenreihe Band 8, Zürich 2016, S. 13 m.w.H.
11 Christoph Häberli / David Husmann, Krankentaggeld, versicherungs- und arbeitsrechtliche Aspekte, Bern 2015, Rz. 40.
12 Philipp Sieber / Heinz Hüsser, in: Willy Fischer / Thierry Luterbacher (Hrsg.), Haftpflichtkommentar, Zürich 2016, N 13 f. zu Art. 96 VVG.
13 BGE 146 III 339 (= Pra 2021 Nr. 27).
14 BGE 147 III 73, E. 3.3.
15 BGE 141 III 241, E. 3.2.3 und BGE 147 III 73, E. 3.3 e contrario.
16 Vgl. z.B. Stephan Fuhrer, «Kollektive Krankentaggeldversicherung/Aktuelle Fragen», in: Stephan Fuhrer (Hrsg.), Jahrbuch SGHVR 2014, Zürich 2014, S. 69 ff.
17 BBI 2017, S. 5111.
18 Vgl. z.B. BGer 4A_460/2017 vom 8.12.2017, E. 4.2.
19 Vgl. Häberli / Husmann, a.a.O., Rz. 600.
20 David Husmann / Aurelia Jenny, in: Gabor Blechta et. al. (Hrsg.), Basler Kommentar Krankenversicherungsgesetz/Krankenversicherungsaufsichtsgesetz, Basel 2020, N 22 zu Art. 71 KVG.
21 BGE 139 III 418.
22 Ausführlicher in: Volker Pribnow /Sarah Eichenberger, «Ein Krankentaggeld für alle (Arbeitnehmenden)», in: Stephan Fuhrer et al. (Hrsg.) Mehrspuriger Schadenausgleich, Zürich 2022, S. 513 ff.
23 Zahlen dazu, wie viele Arbeitnehmer in der Schweiz tatsächlich krankentaggeldversichert sind, wurden bis anhin nicht erhoben; vgl. Simon Schönberger, Obligatorische Krankentaggeldversicherung, Zürich 2019, N 473.
24 Bericht des Bundesrates vom 30.9.2009, Evaluation und Reformvorschläge zur Taggeldversicherung bei Krankheiten, Erfüllung des Postulates 04.3000 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 16.1.2004, S. 40.
25 So z.B. bei Schönberger, a.a.O., N 428 und bei Gabriela Riemer-Kafka, Vereinfachungen im System der schweizerischen Sozialversicherungen, Problemfelder und Lösungsvorschläge, Bern 2014, S. 236.
26 Vgl. Pribnow / Eichenberger, a.a.O, S. 516.
27 Auch das durch die Schweiz ratifizierte ILO-Übereinkommen Nr. 102 vom 28.6.1952 über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit erwähnt den Verdienstausfall bei Krankheit als Kernbestandteil der staatlichen sozialen Absicherung.
28 Vgl. dazu Gächter / Werder, a.a.O., N 30 zu Art. 41 BV.