Unter Sans-Papiers werden immer öfter alle Personen verstanden, die ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben. Im Kontext der Anlauf- und Beratungsstellen sind mit Sans-Papiers freilich eher Menschen gemeint, die gar nie oder bestenfalls vor langer Zeit ein Asylverfahren durchlaufen haben. Organisatorisch sind die Anlaufstellen für Sans-Papiers in der Regel von den Rechtsberatungsstellen für Asylsuchende getrennt. Ihre Arbeit erfordert eine andere Expertise sowie Kontakte zu anderen Behörden. Die Klientel besteht in der Regel aus Menschen, die einer irregulären Arbeit nachgehen. Der Anteil der Frauen ist deutlich höher als unter den Asylsuchenden.
Mehr Routine in den Städten
In den Städten ist das Bewusstsein für die Existenz von Sans-Papiers grösser und die Anlaufstellen sind besser bekannt. Mit Grund: In grössen Ortschaften schlagen sich mehr Sans-Papiers durch, selbst dann, wenn viele von ihnen zum Arbeiten aufs Land fahren. In ländlichen Gegenden besteht im Umgang mit Sans-Papiers wenig Erfahrung. «Mit echten Sans-Papiers haben wir im Kanton Aargau und Solothurn nur vereinzelt zu tun», sagt Seraina Berner vom Hilfswerk Heks, das in Aarau die Sozialberatung für Sans-Papiers durchführt. «Wir können ihnen eigentlich nicht viel anbieten.»
Vorbehalte gegen Anlaufstellen
Während etwa die Anlaufstellen in Zürich und Basel einen konstruktiven Interessengegensatz mit den Behörden pflegen und sich mit deren Vertretern regelmässig zu Gesprächen treffen, stiess die momentan in Luzern in Gründung befindliche Anlaufstelle auf Ablehnung und Unverständnis.
«Sans-Papiers müssten die Schweiz eigentlich verlassen. Doch die katholische Kirche und die Gewerkschaft geben ihnen Tipps, wie sie im Land bleiben können», empörte sich die «Zentralschweiz am Sonntag» im Dezember vergangenen Jahres und zitierte einen Kantonsrat, der sich sorgte, die zuvorkommende Behandlung der Sans-Papiers mache die Schweiz noch attraktiver.
Das Migrationsamt des Kantons Luzern stellt aber klar, dass es der Gründung einer Anlaufstelle «offen gegenüberstehe». Es komme heute schon vor, dass Drittpersonen anstelle der betroffenen Sans-Papiers ans Amt gelangten, sagt Abteilungsleiter Walter Haas. Es gebe im Umgang mit Sans-Papiers Situationen, in denen die Vermittlung durch Dritte unerlässlich sei. Die Tätigkeit der Anlaufstellen besteht entgegen der Ansicht ihrer Kritiker nicht in einer Komplizenschaft zum irregulären Aufenthalt, sondern in aller Regel in der Hilfe, jene Rechte durchzusetzen, die auch Sans-Papiers zustehen. Oft scheitert die Wahrnehmung der Rechte an der Unwissenheit der Betroffenen selbst oder an jener der Behörden, die nur selten mit Sans-Papiers konfrontiert sind oder nicht wissen, wie die neusten Gesetzesverschärfungen richtig umgesetzt werden.
Umstrittener Anspruch auf Prämienverbilligung
Ein Beispiel, in dem öfter Unwille als Unwissen der Behörden ein Hindernis darstellt, ist der Anspruch auf Prämienverbilligung. Dieser steht auch Sans-Papiers zu, die wie alle Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz der Krankenversicherungspflicht unterstehen. In den Kantonen Bern und Basel-Stadt, wird der Anspruch auf Prämienverbilligung durch ein kantonales Amt ermittelt und lässt sich unter zwei Voraussetzungen gut durchsetzen: Wenn erstens die Anlaufstellen das selbstdeklarierte Einkommen der Sans-Papiers an das Amt kommunizieren und wenn sich zweitens eine Person findet, die bereit ist, für die Auszahlung der Verbilligung ihr Konto zur Verfügung zu stellen.
In den meisten anderen Kantonen wird der Anspruch auf Prämienverbilligung aufgrund der Steuererklärung durch das Steueramt der Gemeinde ermittelt. Für Sans-Papiers, die in der Regel keine Steuern zahlen, muss daher eine Sonderlösung gefunden werden. Im Kanton Zürich haben nur die Städte Winterthur und Zürich in eine Ausnahmeregelung eingewilligt. «Alle anderen Gemeinden, bei denen wir interveniert haben, weigern sich, den Anspruch auf Prämienverbilligungen umzusetzen», sagt Bea Schwager, die Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (Spaz). Die Anlaufstelle in Basel kann dank einer Unterstützung durch die Christoph-Merian-Stiftung eine zusätzliche Person einstellen. Eine ihrer wichtigen Aufgaben wird darin bestehen, den Anspruch auf Prämienverbilligungen auch in den Gemeinden der Kantone Basel-Landschaft und Solothurn durchzusetzen.
Westschweizer Städte unkompliziert
In der Romandie ist die Situation unübersichtlich. In den Städten lässt sich der Anspruch gut durchsetzen. Es gibt auch kleinere Gemeinden, in denen kooperative Personen eine Durchsetzung ermöglichen. Vor allem die grösseren Agglomerationsgemeinden weigern sich hingegen. Der Antrag erfolgt in den Gemeinden das Kantons Waadt mit einem Formular, auf dem die Sans-Papiers ihr Monatsbudget darlegen und ihre Einkünfte glaubhaft belegen müssen.
Zusammenarbeit mit Schulen und Arbeitgebern
Manche können die dafür nötigen Abrechnungen vorlegen. Wo sie fehlen, müsse die Anlaufstelle einspringen und bestätigen, dass sich die Einkünfte der Person im angegebenen Rahmen bewegen, sagt Philippe Sauvin vom Collectif sans-papiers de la Côte. Im Kanton St. Gallen stelle sich das Problem nicht, dass Sans-Papiers Prämienverbilligungen beantragten, sagt Chantal Maurer, Leiterin der Abteilung Ausländer im kantonalen Migrationsamt.
Durch ihre Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit sammeln die Anlaufstellen ein enormes Detailwissen über die Situation der Sans-Papiers und die Praxis der einzelnen Behörden. Dieses Wissen nutzen sie, um Behörden, Schulen, Versicherungen und Arbeitgeber zu informieren und dafür zu sensibilisieren, wie sie auf Sans-Papiers reagieren müssen. Ein wesentliches Risiko im Umgang mit Behörden oder Versicherungen besteht für Sans-Papiers darin, dass ihre Daten weitergereicht werden. Häufig geschieht dies, weil die zuständigen Beamten oder Sachbearbeiter die Konsequenzen nicht kennen, die etwa ein Anruf auf dem Einwohneramt haben kann. Selten handeln sie aus Amtseifer.
Berufslehren für junge Sans-Papiers als Erfolg
Auch betreiben die Anlaufstellen Lobbying, doch mit viel Vorsicht. Sans-Papiers sind eine Interessensgruppe, auf deren Anliegen sich ein verstärktes öffentliches Bewusstsein nicht positiv auswirkt. Die vorläufige Bereitschaft des Bundes, jugendliche Sans-Papiers, die in der Schweiz zur Schule gegangen sind, zur Berufslehre zuzulassen, geht auf eine koordinierte Lobbyinganstrengung der Anlaufstellen zurück. Doch der vorläufige Erfolg hat in vielen Kantonen eine politische Gegenbewegung ausgelöst. Sie entlädt sich in zahlreichen Vorstössen, die die Rechtsstellung von Sans-Papiers verschlechtern wollen. Gefordert wird auch die Abschaffung des Grundrechts auf Primarschulbildung für Sans-Papiers-Kinder.
In den zehn Jahren, in denen Sans-Papiers ins Bewusstsein der eidgenössischen Politik gerückt sind, hat sich ihre rechtliche Situation nicht verbessert - im Gegenteil. Das jüngste Beispiel einer Verschärfung ist die sogenannte Lex Toni Brunner. Sie verbietet es ausländischen Personen, in der Schweiz zu heiraten, sofern sie ihren rechtmässigen Aufenthalt nicht nachweisen können. Ausserdem verpflichtet sie die Zivilstandsbehörden, die betreffenden Personen den Migrationsbehörden zu melden. Die Umsetzung dieser Verschärfung verläuft von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Ausnahmen sind unumgänglich - etwa bei heiratswilligen Personen, die ins Ausland reisen müssten, um von dort aus eine Einreisebewilligung zu beantragen, die durch die Heirat aber einen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung erhalten würden.
Verschiedene Ausnahmen vom Heiratsverbot
Einen ersten Erfolg hat in dieser Angelegenheit die Sans-Papiers-Anlaufstelle Bern erzielt. Auf ihre Vermittlung hin kam der Entscheid 100.2011.200U des bernischen Verwaltungsgerichtes vom 23. Juni 2011 zustande. Er verpflichtet die Migrationsbehörden dazu, die privaten Interessen der Brautleute an der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsbewilligung zwecks Heirat gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Ausreise abzuwägen. Dem persönlichen Interesse ist dort der Vorzug zu geben, wo die Zulassungsvoraussetzungen nach der Heirat voraussichtlich erfüllt sind. Im Berner Zivilstandswesen wird der Entscheid so umgesetzt, dass neu auch die Anmeldebestätigung bei der Fremdenkontrolle «zwecks Vorbereitung der Eheschliessung» von den Zivilstandsämtern als Nachweis des rechtmässigen Aufenthaltes akzeptiert wird, wie Franziska Bürki, Leiterin des Zivilstands- und Bürgerrechtsdienstes, bestätigt.
Rüffel für übereifrige Zürcher Beamten
Andernorts ist die Situation noch unklar. Zwar ist es bisher in allen grösseren Kantonen, auch im Kanton Zürich und im Kanton St. Gallen, schon zu Ausnahmen von der Lex Toni Brunner gekommen - entweder durch Verlängerung der Ausreisefrist oder durch eine Ad-hoc-Bewilligung. Doch die Umsetzungsprobleme sind zahlreich. Oft stimmen die Fristen nicht überein, die zwei verschiedene Ämter dem Brautpaar setzen.
Die Migrationsämter möchten eine Ad-hoc-Bewilligung nur erteilen, wenn die Heirat unmittelbar bevorsteht. Und die Zivilstandsämter wollen einen Heiratstermin nur in Aussicht stellen, wenn der Nachweis des rechtmässigen Aufenthaltes erbracht ist.
Bea Schwager, die Leiterin der Spaz, weist darauf hin, dass die Verweigerung einer solchen Bewilligung oft ein Schicksalsschlag ist. Nicht selten ist der Versuch, eine Ehe zu schliessen, mit Ausschaffungshaft verbunden, oft werden junge Familien monatelang getrennt und unter Umständen auch sozialhilfeabhängig, was die Chancen auf eine Familienzusammenführung wieder verschlechtert. «Die kennen kein Pardon», fasst Bea Schwager zusammen, wie das Zürcher Migrationsamt ihrer Erfahrung nach die Lex Toni Brunner umsetzt. Nicht das Migrationsamt, sondern ein Zivilstandsamt im Kanton Zürich ist mit einer Verfügung vom 9. September durch die Aufsichtsbehörde nun gemassregelt worden, weil es die Heirat eines Sans-Papiers mit einer Schweizerin kategorisch verweigert hatte. Fehle es an einem Aufenthaltsstatus, so stelle die Lex Toni Brunner eine gesetzliche Vermutung auf, dass es sich um eine Scheinehe handle, interpretierte die Aufsichtsbehörde die neue Gesetzesverschärfung. Doch müsse dem Brautpaar die Möglichkeit eingeräumt werden zu beweisen, dass es tatsächlich eine Lebensgemeinschaft begründen wolle. Im vorliegenden Fall etwa sei nicht abgeklärt worden, ob - und von wem - die Frau tatsächlich schwanger sei, wie sie geltend gemacht hatte.
In demselben Fall hat inzwischen auch die Sicherheitsdirektion einen Rekurs gegen das Migrationsamt gutgeheissen. Sie hielt fest, dass unter Umständen ein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zwecks Heirat bestehe (weshalb der Grundsatz der Ausschliesslichkeit des Asylverfahrens [Art. 14 Abs. 1 AsylG] in dieser Konstellation nicht zum Tragen kommt). Wenn ein Brautpaar bereits ein Jahr zusammenlebe und ein gemeinsames Kind erwarte, könne es sich auch ohne Heirat bereits auf den Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK) berufen.
Härtefallgesuch kaum je empfehlenswert
Ein besonderer Aspekt der Lex Toni Brunner besteht darin, dass sie abgewiesene Asylsuchende schlechterstellt als Sans-Papiers, die nie um eine Aufenthaltsbewilligung ersucht haben. Die Bereitschaft der kantonalen Behörden, einen Wegweisungsentscheid des Bundes durch eine Ad-hoc-Bewilligung aufzuheben, ist noch geringer als die Chancen für eine Ausnahmeregel für Sans-Papiers. Wo keine Heirat ansteht, ist eine Regularisierung von Sans-Papiers so gut wie aussichtslos.
Zwar können auch Personen, die nie ein Asylverfahren durchlaufen haben, ein Härtefallgesuch stellen. Doch der Preis, sich dem Zugriff der Behörden auszusetzen, das gesamte soziale Umfeld und die Arbeitgeber aufzudecken, steht einer kleinen und unberechenbaren Chance auf Regularisierung gegenüber. «Nachdem wir 2004 dreissig gut begründete Härtefallgesuche eingereicht haben, die allesamt abgelehnt worden sind, empfehlen wir niemandem mehr, ein Härtefallgesuch einzureichen», sagt Philippe Sauvin aus dem Kanton Waadt, dem Kanton mit der liberalsten Härtefallpraxis.
Anonyme Einreichung eines Gesuchs möglich
Selbst eine sehr lange Aufenthaltsdauer vermittelt noch keine Chance auf Regularisierung, berichten die Anlaufstellen übereinstimmend. Sie erachten daher Härtefallgesuche nur dann als sinnvoll, wenn der Gesuchsteller ohnehin schon aufgeflogen ist. In einigen Kantonen, etwa im Kanton Basel-Stadt und im Kanton Luzern, ist es möglich, Härtefallgesuche anonym zu stellen, was das Risiko von ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen im wahrscheinlichen Falle einer Ablehnung reduziert. Im Fall des Kantons Basel-Stadt werden die anonymen Gesuche sogar dem Bundesamt für Migration (BFM) vorgelegt, das ebenfalls eine unverbindliche Prognose abgibt. Der Kanton Luzern legt dem BFM nur einzelne Fälle vor, «um nicht falsche Hoffnungen zu machen», wie Abteilungsleiter Walter Haas sagt. Im Kanton Bern gibt es verschiedene Praktiken, da neben dem Kanton auch die Städte Bern, Biel und Thun eigene Migrationsbehörden haben. In der Hauptstadt und beim Migrationsdienst des Kantons besteht die Möglichkeit, Härtefallgesuche anonym einzureichen, worauf die Behörden eine unverbindliche Prognose abgeben.
Anonymisierung kann Chancen weiter vermindern
«Wenn ihre Einschätzung positiv ist, dann können wir es wagen, ein Gesuch mit Offenlegung aller Personendaten einzureichen. Das ist sehr selten der Fall», sagt Marianne Kilchenmann von der Anlaufstelle Bern. Das Migrationsamt des Kantons Zürich steht anonymen Härtefallgesuchen skeptisch gegenüber, unter anderem, weil sie für Sans-Papiers eine trügerische Sicherheit bedeuten würden. Angaben zu Umfeld, Arbeit, Wohnsituation liessen meist Rückschlüsse auf die Person zu. «Ohne solche Angaben können Gesuche jedoch kaum beurteilt werden. Eine derart hochgradige Anonymisierung, welche diese Risiken beseitigen würde, würde ein verfälschtes Bild des individuellen Gesuchs abgeben», sagt Jan Leitz vom Rechtsdienst des Zürcher Migrationsamtes.
Die Überführung in den regulären Aufenthalt mag zwar ein Ziel der Anlaufstellen für Sans-Papiers sein. Doch im Alltag sind Regularisierungen eine sehr seltene Genugtuung. In den allermeisten Fällen müssen die Anlaufstellen sich darauf beschränken, Rechte durchzusetzen, die auch in der Irregularität gelten.