Nulltarif-Optionen von Internetprovidern verstossen gegen Unionsrecht
Es verstösst gegen die EU-Verordnung über den Zugang zum offenen Internet, wenn ein Provider Datenverkehr zu gewissen Plattformen zum Nulltarif anbietet. Damit verbundene Bedingungen wie Beschränkungen der Bandbreite oder Einschränkungen bei Tethering oder Roaming sind ebenfalls nicht zulässig.
Bei einer sogenannten Nulltarif-Option vergünstigen Telecomfirmen den Internetdatenverkehr einzelner Kunden oder bieten ihn kostenlos an. Der entsprechende Datenverkehr wird nicht auf das im Basistarif verfügbare Datenvolumen angerechnet. Solche Optionen steigern die Attraktivität des Angebots der Internetzugangsdienste. Teilweise werden diese Angebote jedoch mit Beschränkungen verbunden. Bei Vodafone Deutschland gelten die angebotenen Nulltarif-Optionen etwa für Video, Musik, Chats oder gewisse Internetplattformen nur im Inland. Darüber hinaus rechnet Vodafone den Datenverbrauch bei einer Nutzung über Hotspot (Tethering) auf das im Basistarif enthaltene Datenvolumen an. Telekom Deutschland rechnet mit der buchbaren Nulltarif-Option die Daten für das Audio- und Videostreaming gewisser Telekom-Partner nicht auf das Datenvolumen im Basistarif an. Wer die Option aktiviert, muss aber eine generelle Bandbreitenlimitierung für Videostreaming hinnehmen.
Die deutsche Bundesnetzagentur und der Bundesverband der Verbraucherzentralen gingen gegen diese Angebote von Vodafone und Telekom Deutschland vor. Die zwei damit befassten Gerichte in Köln und Düsseldorf wollten in der Folge vom EuGH wissen, ob solche bei der Wahl einer Nulltarif-Option hinzunehmenden Einschränkungen mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
Der EuGH weist in seinen Urteilen darauf hin, dass auf der Grundlage kommerzieller Erwägungen eine Unterscheidung innerhalb des Internetverkehrs vorgenommen wird, indem der Datenverkehr zu bestimmten Partneranwendungen nicht dem Basistarif angerechnet wird. Eine solche Geschäftspraxis verstosse gegen die allgemeine, in der Verordnung 2015/2120 über den Zugang zum offenen Internet aufgestellte Pflicht, den Internetverkehr ohne Diskriminierung oder Störung gleich zu behandeln. Auch die Einschränkungen von Tethering, Roaming oder der Bandbreite in den Angeboten von Vodafone und Telekom Deutschland verstossen gegen das Unionsrecht, da sie an die unzulässige Nulltarif-Option gekoppelt sind.
Urteile vom 2.9.2021 C-854/19, Vodafone c. Bundesnetzagentur, EU:C:2021:675, C-5/20 Bundesnetzagentur, Bundesverband der Verbraucherzentralen c. Vodafone EU:C:2021:676, C-34/20, Telekom Deutschland c. Bundesnetzagentur, EU:C:2021:677
Ungleichbehandlung beim Aufenthaltsrecht infolge häuslicher Gewalt zulässig
Der algerische Staatsangehörige X zog 2012 zu seiner französischen Ehefrau nach Belgien, wo ihm eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige einer EU-Bürgerin ausgestellt wurde. Im Jahr 2015 war er gezwungen, die eheliche Wohnung zu verlassen. Grund waren Gewalthandlungen im häuslichen Bereich, denen er von Seiten seiner Ehefrau ausgesetzt war. Die Ehefrau zog einige Monate später nach Frankreich. X beantragte drei Jahre nach diesem Wegzug die Scheidung, welche 2018 ausgesprochen wurde. In der Zwischenzeit beendete Belgien das Aufenthaltsrecht von X, weil er keine genügenden Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nachweisen könne. Nach der belgischen Bestimmung zur Umsetzung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 (Unionsbürgerrichtlinie) ist das weitere Aufenthaltsrechts einer drittstaatsangehörigen Person, die Opfer von häuslicher Gewalt in der Ehe wurde, im Fall der Scheidung oder der Beendigung der gemeinsamen Niederlassung unter anderem von genügenden finanziellen Mitteln abhängig.
X erhob gegen die Beendigung des Aufenthaltsrechts Klage beim belgischen Conseil du contentieux des étrangers. Die belgische Bestimmung, mit der das Recht auf Familienzusammenführung umgesetzt werde, mache bei einem Ehegatten einer rechtmässig in Belgien wohnhaften drittstaatsangehörigen Person die Aufrechterhaltung des Aufenthalts nur vom Nachweis des Vorliegens häuslicher Gewalt abhängig. Das belgische Gericht beurteilte die Rechtsgrundlage für den Entscheid gegen X als weniger günstig und ersuchte den EuGH, über die Gültigkeit von Art. 13 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie im Lichte der Gleichbehandlung in Art. 20 Grundrechtecharta zu entscheiden.
Die Grosse Kammer stellte vorab fest, dass es im Interesse der Rechtssicherheit ist, wenn ein Scheidungsverfahren für die Zwecke der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts auch nach dem Wegzug des gewalttätigen Ehegatten eingeleitet werden kann. Für die Einleitung müsse eine angemessene Frist nach dem Wegzug des betreffenden Ehegatten zur Verfügung stehen. Die betroffene drittstaatsangehörige Person müsse Zeit haben, um zwischen den beiden Möglichkeiten zu wählen, die die Unionsbürgerrichtlinie im Hinblick auf die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsrechts bietet: Entweder ein gerichtliches Scheidungsverfahren zur Erlangung des Aufenthaltsrechts nach Art. 13 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie oder die Niederlassung im Mitgliedstaat, in dem der Ehegatte mit der Unionsbürgerschaft neu wohnt, um das abgeleitete Aufenthaltsrecht beizubehalten.
Bezüglich der Gültigkeit von Art. 13 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie gelangte die Grosse Kammer zum Ergebnis, dass die Bestimmung zu keiner Diskriminierung führt. Die Bestimmung teile zwar mit Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 das Ziel, den Schutz von Familienangehörigen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu gewährleisten. Jedoch gehören die beiden Bestimmungen zu unterschiedlichen Regelungsbereichen, deren Grundsätze, Gegenstände und Ziele ebenfalls unterschiedlich seien. Die Berechtigten der Unionsbürgerrichtlinie würden einen anderen Status und Rechte anderer Art geniessen als die Berechtigten von Richtlinie 2003/86. Schliesslich sei das Ermessen, das den Mitgliedstaaten bei der Anwendung der in den Richtlinien festgelegten Bedingungen zuerkannt wird, nicht gleich. Aufgrund dieser eher formalistisch anmutenden Argumentation sollen sich gemäss Auslegung der Grossen Kammer drittstaatsangehörige Personen, die mit einem Unionsbürger verheiratet und häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, nicht in einer vergleichbaren Situation befinden wie drittstaatsangehörige Personen, die mit einer anderen drittstaatsangehörigen Person verheiratet und häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Für die Anwendung der in Art. 20 Grundrechtecharta garantierten Gleichbehandlung müsste eine vergleichbare Situation vorliegen.
Urteil C‑930/19 der Grossen Kammer) vom 2.9.2021, X c. Belgien, EU:C:2021:657