Computeradressen dürfen auch bei leichter Kriminalität ausgewertet werden
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bezeichnete bisher die anlasslose Speicherung der Internetverkehrsdaten der gesamten Bevölkerung als unverhältnismässig. Im Jahr 2020 liess er dann zur Bekämpfung schwerer Kriminalität eine Auswertung von IP-Adressen zu, die bei der Verbindung eines Computers mit dem Internet vergeben werden. Als Beispiel wurde damals die Kinderpornografie angeführt. Mit einem neuen Entscheid erfolgt die Absegnung der Auswertung der IP-Adressen generell für alle Strafuntersuchungen. Dazu zählen insbesondere auch Verfahren um Urheberrechte auf Tauschbörsen für Film- oder Musikdateien.
Das Urteil geht zurück auf ein Vorabentscheidgesuch des französischen Conseil d’État, der als oberstes Verwaltungsgericht und Beratungsorgan der Regierung tätig ist. La Quadrature du Net und drei weitere Organisationen zum Schutz der Rechte von Internetnutzern verlangten von dieser Instanz, ein Dekret über die Sammlung von Internetnutzerdaten zu untersagen. Es erlaubt die Speicherung und Auswertung von IP-Adressen mit dem Ziel, bei vermuteten Urheberrechtsverletzungen ein Verfahren gegen die identifizierten Personen einzuleiten. Die französische Behörde Hadopi darf demnach bei den Telekommunikationsbetreibern automatisiert abfragen, wem eine IP-Adresse gehört. Nach zwei Verwarnungen kann sie ein Strafverfahren veranlassen.
Das Plenum des Gerichtshofs entschied, dass die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von IP-Adressen zulässig sei, wenn die IP-Adressen «wirksam strikt getrennt» von den Identitätsdaten gespeichert würden. Nicht zu beanstanden sei auch ein Zugang für eine nationale Behörde zu den Identitätsdaten, die zur jeweiligen IP-Adresse gehören. Die Behörde dürfe die Informationen für Massnahmen gegen Urheberrechtsverletzungen und andere Straftaten nutzen. Darüber hinaus darf aber die besuchte Internetseite nicht nachverfolgt und der Inhalt der genutzten Dateien nicht offengelegt werden.
Dient der Zugang allein der Identifizierung von Internetnutzern, ist gemäss EuGH kein Beschluss eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle nötig, «sofern der mit dem Zugang verbundene Grundrechtseingriff nicht als schwerwiegend eingestuft werden kann». Eine solche Genehmigung sei aber nötig, falls es durch die Verknüpfung der im Lauf der verschiedenen Stufen dieses Verfahrens gesammelten Daten möglich werde, genaue Schlüsse auf das Privatleben einer Person zu ziehen.
EuGH-Urteil C-470/21 vom 30.4.2024, La Quadrature du Net et al. ECLI:EU:C:2024:370
Wer nach Flugannullierung einen Gutschein akzeptiert, verzichtet auf Geldbetrag
Akzeptiert ein Fluggast nach der Annullation eines Flugs durch die Fluggesellschaft die ihm zustehende Entschädigung in Form eines Gutscheins, kann auf seine handschriftliche oder digitale Unterschrift verzichtet werden. Es reicht aus, wenn er auf der Internetseite der Fluggesellschaft ein entsprechendes Formular ausfüllt. Damit verzichtet der Fluggast darauf, die Entschädigung als Geldbetrag zu beanspruchen, der ihm überwiesen wird. In diesem Sinn legte der EuGH die Luftverkehr-Verordnung (EG) 261/2004 in einem Vorabentscheidverfahren aus. Konkret ging es um einen Flug der TAP Air Portugal vom 1. Juli 2020 aus Brasilien über Lissabon nach Frankfurt am Main. Die TAP annullierte den Flug.
Der Passagier konnte zwischen einer sofortigen Erstattung in Form eines Reisegutscheins und einer gewöhnlichen Erstattung mit Überweisung des entsprechenden Geldbetrags wählen. Für den Gutschein brauchte er nur ein Formular auf der Internetseite der TAP auszufüllen, was er tat. Er erhielt einen Gutschein über 1737 Euro zugemailt. Für den Geldbetrag hätte er sich an den Kundendienst der TAP wenden müssen.
Am 30. Juli trat der Passagier seine Ansprüche an Cobult ab, ein auf die Einforderung von Annullationsentschädigungen spezialisiertes Unternehmen. Es klagte vor Gericht, nachdem die TAP nicht zahlte. In zweiter Instanz ersuchte das Landgericht Frankfurt am Main den EuGH um Auslegung von Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung 261/2004. Darin heisst es in der deutschen Fassung, die Ausgleichszahlungen «erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen». Die französische, italienische, englische, spanische und sieben weitere Fassungen hingegen verlangen als Voraussetzung «ein vom Passagier unterschriebenes Einverständnis».
Die Dritte Kammer des EuGH kam zum Schluss, eine tatsächliche Unterschrift – handschriftlich oder digital – sei nicht nötig, sofern dem Passagier auf der Internetseite der Fluggesellschaft klare und umfassende Informationen über die verschiedenen Erstattungsmodalitäten zur Verfügung stehen und sie in einer Sprache abgefasst sind, die der Fluggast versteht. Würde eine Unterschrift verlangt, könnte sich die Erstattung für den Fluggast verzögern.
EuGH-Urteil C-76/23 vom 21.3.2024, Cobult c. TAP Air Portugal ECLI:EU:C:2024:253
Staatsanwälte können Handydaten von anderen Staaten einfordern
In einem Mitgliedstaat vorhandene Ermittlungsergebnisse können von einem anderen EU-Staat von einem Staatsanwalt angefordert werden, ein richterlicher Beschluss ist nicht erforderlich. Es muss allerdings gewährleistet sein, dass später eine gerichtliche Überprüfung der übermittelten Beweismittel möglich ist, damit die Grundrechte der Betroffenen gewahrt bleiben. Zu diesem Schluss kommt die Grosse Kammer des EuGH in einem Vorabentscheidverfahren zur Europäischen Ermittlungsanordnung, die einem Gesuch um Rechtshilfe auf EU-Ebene entspricht.
Hintergrund des Entscheids sind Ermittlungen der französischen Polizei. Ihr war es 2020 in einer richterlich genehmigten Aktion in Zusammenarbeit mit niederländischen Experten gelungen, bei 32 477 von 66 134 Nutzern in 122 Ländern die Verschlüsselung der vermeintlich abhörsicheren Encrochat-Handys zu knacken. Solche Handys sind angeblich in Kreisen der organisierten Kriminalität verbreitet. Die französischen Behörden stellten die entschlüsselten Daten nach Ländern geordnet zur Verfügung.
Um den Vorabentscheid ersuchte das Landgericht Berlin. Anders als der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der die Nutzung der französischen Daten bereits für zulässig erklärt hat, vermutete es einen Grundrechtsverstoss. Es fragte sich, ob nicht ein Richter die Europäische Ermittlungsanordnung genehmigen müsste, mit der von den französischen Behörden die Encrochat-Nachrichtenverläufe für die deutschen Strafuntersuchungen wegen bandenmässigen Betäubungsmittelhandels und Bildung einer kriminellen Vereinigung angefordert wurden. Mit seinem Urteil bestätigt der EuGH nun die Einschätzung des Bundesgerichtshofs.
EuGH-Urteil C‑670/22 vom 30.4.2024, M.N. (Encrochat) ECLI:EU:C:2024:372