Wehrdienstverweigerung und Flüchtlingseigenschaft
Der Europäische Gerichtshof entschied, dass die Verweigerung des Militärdienstes in Syrien einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.
Ein syrischer Wehrpflichtiger war aus seinem Land geflohen, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Er wäre aus diesem Grund bei der Rückkehr nach Syrien der Strafverfolgung oder einer Bestrafung ausgesetzt. Der Flüchtling klagte vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen einen Entscheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Damit wurde ihm zwar subsidiärer Schutz gewährt, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft blieb ihm jedoch verwehrt. Nach Ansicht des Bundesamts habe der Betroffene keine Verfolgung erlitten, die ihn zur Ausreise gedrängt hätte. Es fehle an einer Verknüpfung zwischen der befürchteten Verfolgung und einem der fünf Verfolgungsgründe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen: Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Das Verwaltungsgericht Hannover ersuchte den EuGH um Auslegung der EU-Richtlinie über den internationalen Schutz.
Der EuGH wiederholte, dass zwingend eine Verknüpfung zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes und zumindest einem der fünf Verfolgungsgründe bestehen muss. Die Verweigerung des Militärdienstes könne nämlich auch andere als die genannten Verfolgungsgründe haben. Beispielsweise kann die Verweigerung auch durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, welche der Militärdienst im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt. Jedoch befand der EuGH, dass die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugung ist oder ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat. Diese Verknüpfung müsse nicht der Betroffene selbst beweisen. Es sei Sache der zuständigen Behörden in den EU-Mitgliedstaaten, die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade bei einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und in Ermangelung einer legalen Möglichkeit, sich den militärischen Pflichten zu entziehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den lokalen Behörden unabhängig von den persönlichen Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird. Nach der EU-Richtlinie ist bei der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob eine betroffene Person tatsächlich Verfolgungsmerkmale aufweist, sofern dieser Person die Merkmale von den Verfolgenden zugeschrieben werden.
So kam der EuGH zum Schluss, es bestünde eine starke Vermutung, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den Bedingungen der vorgelegten Rechtssache mit einem der fünf Gründe in Zusammenhang steht, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen.
Urteil des Gerichtshofs vom 19.11.2020, EZ gegen Bundesrepublik Deutschland, C-238/19, EU:C:2020:945
Taxi-App ist ein Dienst der Informationsgesellschaft
Der Europäische Gerichtshof befand, dass eine rumänische Smartphone-App, die Taxikunden und Taxifahrer in Kontakt bringt, einen Dienst der Informationsgesellschaft darstellt, sofern sie nicht integraler Bestandteil einer hauptsächlich aus einer Verkehrsdienstleistung bestehenden Gesamtdienstleistung ist.
Die Gesellschaft Star Taxi App mit Sitz in Bukarest betreibt eine Smartphone-Applikation, die eine direkte Verbindung zwischen Taxikunde und Taxifahrer herstellt. Die App zeigt den Kunden eine Liste von verfügbaren Taxis an. Dabei übermittelt die App weder die Aufträge an die Taxifahrer, noch legt sie einen Fahrpreis fest, der am Ende der Fahrt direkt entrichtet wird. Am 19. Dezember 2017 erliess der Rat der Stadt Bukarest einen Beschluss, womit die Pflicht für sogenannte Taxi-Dispatchingdienste, eine Zulassung einzuholen, auf den Betrieb von IT-Anwendungen wie die Star Taxi App ausgeweitet wurde. Wegen Verstössen gegen diese Regelung wurde gegen Star Taxi App eine Geldbusse verhängt. Letztere war jedoch der Ansicht, dass ihre Dienstleistung einen Dienst der Informationsgesellschaft darstelle, für den der Grundsatz der Zulassungsfreiheit gelte, welcher in der EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr vorgesehen ist. Deswegen erhob sie beim Landgericht Bukarest Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Stadt Bukarest. In diesem Zusammenhang gelangte das Landgericht Bukarest an den EuGH und bat um eine Auslegung der EU-Richtlinie.
Der EuGH bestätigte, dass die von Star Taxi App angebotene Dienstleistung die Merkmale der Definition eines Diensts der Informationsgesellschaft im Sinne der Definition in der EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr erfüllt. Die Dienstleistung werde gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfangenden erbracht. Der EuGH führte weiter aus, dass die Merkmale der Definition erfüllt werden können, unter gewissen Umständen aber trotzdem kein Dienst der Informationsgesellschaft vorliegt. Dies wäre der Fall, wenn ein Vermittlungsdienst offensichtlich integraler Bestandteil einer Gesamtdienstleistung ist, die hauptsächlich aus einer rechtlich anders einzustufenden Dienstleistung besteht. Gemäss EuGH gilt dies jedoch nicht für die Star Taxi App, weil die Dienstleistung auf einem bereits bestehenden und organisierten Taxiverkehrsdienst aufbaut. Zudem wählt die Gesellschaft Star Taxi App die Taxifahrenden nicht aus und legt den Fahrpreis weder fest, noch erhebt sie ihn. Sie kontrolliert weder die Qualität der Fahrzeuge noch das Verhalten der Fahrenden. Folglich kann ihre Dienstleistung nicht als integraler Bestandteil einer Gesamtdienstleistung angesehen werden, die hauptsächlich aus einer Verkehrsdienstleistung besteht.
Zusätzlich befand der EuGH, dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie grundsätzlich erlaubt, die Aufnahme einer Dienstleistungstätigkeit einer Zulassungsregel zu unterwerfen. Folgende Voraussetzungen müssen dabei erfüllt sein: Die Regelung darf nicht diskriminierend wirken, sie muss durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, und das angestrebte Ziel darf nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können. Entsprechend entschied der EuGH, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die Zulassungsregelung für Taxi-Dispatchingdienste durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt wird. Dies muss das Landgericht Bukarest in der Sache Star Taxi App nun noch machen.
Urteil des Gerichtshofs vom 3.12.2020, Star Taxi App, C-62/19, EU:C:2020:692