plädoyer: Mobbingfälle am Bundesstrafgericht, Intrigen und politische Grabenkämpfe am Bundesverwaltungsgericht: Immer wieder sorgen Skandale an den Gerichten für Schlagzeilen. Fehlt es an griffiger Aufsicht über die Richter?
Lorenz Langer: Einige Vorfälle wurden in den Medien aufgebauscht. Das hat auch mit dem Nimbus zu tun, den sich gewisse Richter geben: Sie pflegen ein Image der Unfehlbarkeit, das sie manchmal einholt. Und dann ist da der Zeitgeist: Wird irgendwo ein vermeintliches Problem sichtbar, wird gleich eine neue Regel gefordert.
Martin Kayser: Auch ich würde nicht anhand von Einzelfällen das ganze System umpflügen. Das kommt oft nicht gut, weil dann hinter den Änderungen meistens kein Konzept steht.
Langer: Zudem stellt sich die Frage, ob allfällige neue Lösungen Sache der Justiz oder der Politik wären. Lange vertrat die Richterschaft den Standpunkt, dass sich die Politik aus solchen Fragen heraushalten soll. 2020 führte die Verwaltungskommission des Bundesgerichts die Untersuchung wegen der Vorkommnisse am Bundesstrafgericht in Bellinzona und geriet selbst in die Kritik. Seither scheint man den Ball doch wieder der Politik zuspielen zu wollen.
plädoyer: Heute wählt das Bundesparlament die Mitglieder der Bundesgerichte und hat die Oberaufsicht. Das Bundesgericht nimmt gegenüber den erstinstanzlichen Gerichten des Bundes eine unmittelbarere Aufsicht wahr. Hat sich dieses doppelspurige System bewährt?
Langer: Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Instanz das letzte Wort hat. Das ist in der Schweiz das Parlament. Es nimmt die Oberaufsicht relativ verantwortungsbewusst wahr. Auch an Gerichten menschelt es, am Bundesstrafgericht war das vielleicht etwas zu sehr der Fall. Aber das System der Aufsicht und Kontrolle funktioniert im Grossen und Ganzen. Klar, jedes Modell ist anfällig für Missbräuche. Die parlamentarische Aufsicht passt aber für die eher bodenständige Schweizer Justiz – wir kennen keine Richterfürsten wie etwa die USA am Supreme Court.
Kayser: Ich sehe Raum für Vereinfachungen. Es gibt mehrere Stellen, welche die Aufsicht und Kontrolle über die Gerichte wahrnehmen sollen: Die Verwaltungskommission des Bundesgerichts hat die administrative Aufsicht, die Geschäftsprüfungskommission die Oberaufsicht. Involviert sind auch die Gerichtskommission, die Finanzkommission und die Finanzkontrolle. Wegen dieser Zersplitterung können sich zwei Gremien gleichzeitig zuständig fühlen – oder aber niemand fühlt sich bemüssigt, einzugreifen. Ich würde die Zuständigkeiten bei der Geschäftsprüfungskommission bündeln.
Ich frage mich, ob die Verwaltungskommission des Bundesgerichts wirklich den Nutzen bringt, den sie sich mitunter selbst attestiert: der Geschäftsprüfungskommission die Grundlagen zu liefern, damit diese ihre Aufsicht ausüben kann. Die primäre Aufgabe der Verwaltungskommission wäre doch, das Bundesgericht zu führen, damit es sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren kann: die Behandlung von Rechtsmitteln.
plädoyer: Wäre es sinnvoll, für die Aufsicht über die Justiz eine andere Behörde zu schaffen – ein Justizgericht zum Beispiel?
Kayser: Darüber sollte man zumindest nachdenken. Einige Kantone wie der Aargau kennen ein solches System. Dort gibt es eine Kommission für die Aufsicht über die Gerichte und die Möglichkeit, deren Entscheide vor einem Justizgericht anzufechten. Auf Bundesebene wurde ein solches Modell in Erwägung gezogen. Doch solche grossen Würfe sind stets im Frühstadium gescheitert.
Langer: Der Europarat propagiert schon länger sogenannte Justizräte als Standard. 2001 wurden Italien, Ungarn und die Türkei als Staaten genannt, welche diesen Standard vorbildlich umsetzen.Zumindest über die letzten beiden Länder würde das heute niemand mehr sagen. Das zeigt, dass ein historisch gewachsenes Modell wie das schweizerische gegenüber formalistischen Lösungen vorzuziehen ist. Solange ein bestehendes Gebäude noch einigermassen stabil ist und die Balken noch tragen, wäre ich vorsichtig, etwas Systemfremdes einzuführen.
plädoyer: Eine disziplinarische Aufsicht über Bundesrichter fehlt in der Schweiz. Einzig die Nichtwiederwahl oder ein Amtsenthebungsverfahren sind möglich, um Bundesrichter zu disziplinieren. Braucht es mildere Sanktionsmittel und ein eigentliches Disziplinarrecht?
Kayser: Davon würde ich abraten. Es bräuchte dann klar definierte Disziplinartatbestände. Das rechtliche Gehör der Betroffenen müsste gewahrt werden. Es müsste ein Rechtsweg geschaffen werden, zum Beispiel an ein Justizgericht. Solange man all das nicht systematisch angeht, ist die Diskussion über mögliche Disziplinarmassnahmen müssig.
Langer: In Deutschland gibt es ein Disziplinargericht und einen ausdifferenzierten Rechtsweg für die betroffenen Richter. Diese haben, anders als in der Schweiz, den Beamtenstatus. Der Bundesrat wollte die Richter der erstinstanzlichen Bundesgerichte einst ebenfalls dem Bundespersonalrecht unterstellen, sie also wie Bundesbeamte behandeln. Er verzichtete aber darauf, weil das nicht dem schweizerischen Rechtsverständnis entsprochen hätte.
Hier soll die Gemeinschaft, vertreten durch das Bundesparlament, periodisch bestimmen, wer über die Mitbürger zu Gericht sitzen soll. In Deutschland wurden Richter historisch von den Landesfürsten eingesetzt, nicht von den Rechtsunterworfenen. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die Möglichkeit der Nichtwiederwahl in der Schweiz mag als Keule missbraucht werden – man kann das Mittel aber auch diszipliniert einsetzen. In der Regel wird es so gehandhabt.
Kayser: Es wäre tatsächlich problematisch, das deutsche «Beamtenherz» quasi in die Schweiz zu transplantieren. Eine Transplantation kann ja auch schiefgehen, ein fremdes Organ ein Fremdkörper bleiben. Anders sehe ich die Sache mit der Nichtwiederwahl: In den Kantonen kann das ein nützliches Damoklesschwert sein, zum Beispiel, um einem fachlich ungenügenden Richter einen Fingerzeig zu geben, sich zu verbessern. Auf Bundesebene wird die Möglichkeit der Nichtwiederwahl dagegen nicht sachgerecht eingesetzt.
Ein Beispiel: Ein Bundesrichter war an einem heiklen Urteil beteiligt und wich von der Parteilinie ab – also wählen ihn einige Parlamentarier nicht wieder, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Aber wer garantiert, dass es auch in künftigen Fällen bei einer knappen Wiederwahl bleibt? Prekäre Wahlresultate können amtierende Richter dem Anschein aussetzen, dass sie in politisch umstrittenen Fällen auf ihre Wiederwahl schielen. Das könnte zu einer Verurteilung wegen einer Verletzung des Anspruchs auf ein unabhängiges und unbefangenes Gericht gemäss Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention führen.
plädoyer: Heute ist die Wahl durch das Bundesparlament faktisch Parteipolitik. Sollte das Parlament nicht auch eine Qualitätskontrolle ausüben?
Langer: Das führt zur Frage, was denn ein guter Richter ist. Das lässt sich kaum quantifizieren. Ich habe etwas Mühe, ein Allheilmittel in Assessments und Evaluationen zu sehen, wie man sie zum Beispiel an Universitäten durchführt. Die Kontrolle fachlicher und menschlicher Qualitäten ist wichtig – schon auf Ebene der Parteien. Auch die Gerichtskommission hat diesbezüglich ihr Auswahlverfahren stark verbessert. Die Verantwortung dafür liegt aber letztlich beim Parlament als Wahlorgan.
Kayser: Ein guter Richter ist für mich einer, der bereit ist, gemeinsam mit anderen klüger zu werden. Der imstande ist, in einer Beratung seine vorgefasste Meinung auch mal zu revidieren und einem Kollegen recht zu geben. Das ist eine Qualität, die das Parlament bei der Wahl unmöglich beurteilen kann, nur schon wegen des Beratungsgeheimnisses. Ich habe deshalb grosse Zweifel, ob die Wiederwahl durch das Parlament effektiv zur Qualitätskontrolle taugt – wahrscheinlich höchstens bei Qualitätsdefiziten von krassem Ausmass.
Ich befürworte aber, dass man vor der ersten Wahl mehr Energie in die Prüfung der fachlichen wie der ausserfachlichen Eigenschaften investiert. Man könnte etwa eine für die Kandidaten unbequeme Urteilsberatung simulieren und so zumindest Anhaltspunkte darüber gewinnen, ob ein bestimmter Kandidat zum konstruktiven Austausch fähig ist.
plädoyer: In fachlicher Hinsicht scheint das heutige System verbesserungswürdig: Bei den Bundesrichterwahlen werden regelmässig Richter gewählt, die dann Abteilungen zugeteilt werden, die ihnen fachlich fremd sind. Ein neu gewählter Zivilrechtler wird zum Beispiel in die strafrechtliche Abteilung eingeteilt oder ein Staatsrechtler in die zivilrechtliche.
Kayser: Da sehe ich effektiv ein Problem. Aktuell ist der Ablauf so, dass erst gewählt wird und in der Folge die gerichtsinternen Rochaden einsetzen – der zuletzt Gewählte bekommt den letzten freien Platz. Es würde mehr Sinn ergeben, wenn das Bundesgericht schon vor einer Ausschreibung durch die wahlvorbereitende Gerichtskommission die internen Zuteilungen vornehmen würde und die Kommission dann wüsste, in welchem Fachgebiet ein neuer Richter gebraucht wird.
Langer: Es mag tatsächlich Fälle geben, wo Richter am falschen Platz sitzen und das zu Problemen führt. Andererseits kann es auch eine Chance sein, dass nicht immer haarscharf getrennt wird. Das verhindert die Bildung von Echokammern. Kommt hinzu, dass Juristen in der Regel Generalisten sind. Neu gewählte Bundesrichter waren an den Vorinstanzen oft in verschiedenen Rechtsgebieten tätig.
Kayser: Das mag mitunter so sein, ist aber nicht immer der Fall. Ich jedenfalls würde mich im Bereich des Übernahmeverschuldens bewegen, wenn man mich im zivilrechtlichen Bereich einsetzen würde. Das letzte Mal mit Zivilrecht zu tun hatte ich im Rahmen der Anwaltsprüfung.
plädoyer: Wenn es um Anforderungen für Mitglieder von Gerichten geht, hört man oft den Einwand, die «Unabhängigkeit der Justiz» werde gefährdet. Wie stichhaltig ist dieses Argument?
Kayser: Die richterliche Unabhängigkeit schützt einen Richter davor, dass sich Kollegen oder Aussenstehende in seine Arbeit einmischen und ihm inhaltliche Weisungen erteilen. Wenn aber zum Beispiel ein Abteilungspräsident von einem Richter fordert, dass er in Verhandlungen eine Krawatte tragen soll, dann kann sich der Betroffene nicht auf die richterliche Unabhängigkeit berufen. Diskutieren sollte man allenfalls bestimmte Graubereiche: Theoretisch könnte es zum Beispiel sein, dass ein Abteilungspräsident einen Richter drangsalieren will und ihn deshalb in ein abgelegenes Büro ohne Fenster verbannt. In der Schweiz sind mir derartige Fälle allerdings nicht bekannt.
Langer: Bei solchen Diskussionen finde ich die Kriterien des Europarats zur richterlichen Unabhängigkeit aufschlussreich. Er stellt unter anderem auf das Budget ab. Darunter fällt auch die Frage, wie viel Geld die Gerichte für ihre Gebäude und Räumlichkeiten zur Verfügung haben. Das illustriert das Thema gut: Einerseits haben Richter nicht den Anspruch, in einem Palast zu arbeiten. Andererseits kann eine Regierung die Justiz durchaus gefügig machen, wenn sie ihr nicht ausreichend Geld zur Verfügung stellt, um zum Beispiel Gebäude instand zu halten.
Denn die Gerichte sind dann als Arbeitgeber unter Umständen unattraktiv und werden irgendwann Mühe bekunden, geeignetes Personal zu finden. In der Schweiz ist es mitunter aber schon so, dass die richterliche Unabhängigkeit zu extensiv ausgelegt wird. Richter neigen dazu, zu sagen, dass sie ihren Beruf prinzipiell nicht richtig ausüben können, sobald ihnen jemand nur ansatzweise Vorgaben macht. Das geht nicht, das können andere Berufsgruppen wie beispielsweise Ärzte ja auch nicht machen.
plädoyer: Braucht es gerichtsintern disziplinarische Regeln im Sinne von Weisungen an Mitarbeiter, wie man sie in der übrigen Arbeitswelt auch kennt?
Kayser: Damit hätte ich keine Probleme. Ich frage mich aber, was das bringen soll. Es gibt unter Richtern viele ungeschriebene Regeln, einen stillen Konsens. Dazu eine Anekdote: Ich trat einmal nach einer Urteilsberatung auf den Gang und machte eine flapsige Bemerkung im Sinne von «manchmal muss man akzeptieren, mit 2 zu 1 runtergefräst zu werden». So wollte ich meinem Unmut Luft machen, dass die Mehrheit nicht auf mich gehört hatte.
Der Abteilungspräsident nahm mich zur Seite und machte mir klar, dass ich damit das Beratungsgeheimnis verletzt hatte. Es ist nirgends geregelt, dass er das darf und dass ich auf ihn hören muss. Aber die Ermahnung fuhr mir durch Mark und Bein. Der Abteilungspräsident nutzte seine natürliche Autorität. So läuft das an vielen Gerichten. Das Zürcher Verwaltungsgericht zum Beispiel organisiert sich seit Jahrzehnten vor allem mittels ungeschriebener Regeln.
Langer: Was man beim Ruf nach gerichtsinternen Regeln nicht vergessen darf: Man hat es an den Gerichten mit diskussionsfreudigen Juristen zu tun. Wenn etwa in einem Erlass geregelt ist, dass man in «angemessener Kleidung» an Verhandlungen zu erscheinen hat, würde sofort ein Streit darüber losbrechen, was denn «angemessene Kleidung» ist. Es gibt auch Länder, die in ihren Gesetzen detailliert regeln, dass Richter eine Robe mit Hermelin tragen müssen. Das kann ja auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Lorenz Langer, 48, ist Assistenzprofessor für Völkerrecht und Staatsrecht an der Universität Zürich. Zu seinen Schwerpunkten gehören europäische Demokratiefragen.
Martin Kayser, 53, ist selbständiger Rechtsanwalt und Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Bis Ende 2023 war er Richter am Bundesverwaltungsgericht.
Geteilte Aufsicht über die Gerichte des Bundes
Das Bundesgericht in Lausanne ist das höchste Gericht der Schweiz. Das Bundesstrafgericht in Bellinzona, das Bundesverwaltungsgericht und das Bundespatentgericht in St. Gallen sind die erstinstanzlichen Gerichte des Bundes.
Sämtliche Mitglieder der Gerichte des Bundes werden von der Bundesversammlung gewählt. Sie übt auch die Oberaufsicht über diese Gerichte aus. Die Aufsichtstätigkeit ist auf mehrere Gremien verteilt, hauptsächlich aber auf die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments. Über die erstinstanzlichen Gerichte des Bundes übt die Verwaltungskommission des Bundesgerichts weiter die administrative Aufsicht aus.
Kompetenzdiskussionen entstanden, nachdem die Verwaltungskommission im Frühjahr 2020 Mobbingfälle am Bundesstrafgericht in Bellinzona untersuchte und Empfehlungen aussprach, darunter die Entlassung der Generalsekretärin des Gerichts.