Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält in der letzten Maiwoche in Genf ihre Jahrestagung ab. Die Mitgliedsstaaten sollen dann über einen neuen Pandemievertrag und neue internationale Gesundheitsvorschriften entscheiden.
Einen Pandemievertrag gab es bisher nicht. Der neue Vertrag regelt die Grundsätze, wie die WHO und die Staaten ansteckende Krankheiten künftig bekämpfen. Die Staaten verpflichten sich etwa, das Gesundheitswesen für neue Krisen vorzubereiten und sich gegenseitig zu helfen.
Internationale Gesundheitsvorschriften (IGV) gibt es hingegen seit 1971. Sie regeln die Rechte und Pflichten der Staaten im Detail. Die aktuelle Version gilt seit 2007. Die bestehenden Vorschriften verpflichten die Staaten, die notwendigen Kapazitäten zur Krankheitserkennung zu schaffen, Verbreitungen zu melden und sich mit der WHO abzusprechen.
Der neue Artikel 12 IGV ermächtigt den WHO-Chef nicht mehr nur, eine internationale Notlage auszurufen, sondern auch regionale und potenzielle Notlagen. Entwickelte Staaten sind laut Artikel 12 IGV in einer Notlage neu verpflichtet, Entwicklungsstaaten mit Geld und Wissen zu unterstützen. Bisher darf der WHO-Chef den Staaten in einer Notlage Gesundheitsmassnahmen nur «empfehlen». Im vorgesehenen Artikel 13a IGV «verpflichten sich» die Staaten neu, «die Empfehlungen der WHO» zu «befolgen». Die IGV nennen als mögliche Empfehlungen unter anderem das Verlangen von Impfungen, Quarantänen und Reiseverboten.
Müssen Staaten eine «verbindliche Empfehlung» befolgen oder nicht? Ein Sprecher des Bundesamts für Gesundheit antwortet ausweichend: «Die Schweiz wird in jedem Fall auch in Zukunft souverän über die eigene Gesundheitspolitik entscheiden.»
Umstrittene Auswirkungen auf Meinungsfreiheit
Der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser sagt: «Meines Erachtens sind die Massnahmen verbindlich – ungeachtet der Bezeichnung als Empfehlung.» Die Schweiz müsste die Vorgaben nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit umsetzen. Die Berner Professorin für Gesundheitsrecht, Franziska Sprecher, teilt diese Ansicht. Doch bei der Krankheitsbekämpfung müssten auch Grundrechte und Wirtschaftsinteressen berücksichtigt werden. «Die WHO ist eine gesundheitliche Fachbehörde, ich zweifle, ob sie die richtige Instanz ist, um alle Interessen hinreichend zu berücksichtigen.»
Der ehemalige Zürcher Staatsanwalt Jürg Vollenweider engagiert sich im Netzwerk Dialog Globale Gesundheit. Er hat die neuen Verträge akribisch studiert und warnt: «Die Schweiz gibt einen Teil der Souveränität ab, wenn die Verträge in Kraft treten.» Er kritisiert zwei weitere Änderungen. In Artikel 3 IGV streiche die WHO die Klausel, wonach der Erlass «unter uneingeschränkter Achtung der Würde des Menschen, der Menschenrechte und Grundfreiheiten» erfolge. Und die neuen Verträge würden die Staaten verpflichten, Falschinformationen zu bekämpfen: «Man will keine wissenschaftliche Meinungsvielfalt.»
Stéphanie Dagron, Professorin für Völker- und Gesundheitsrecht an der Universität Genf, entgegnet: «Die Verträge verpflichten die Staaten nicht, Meinungsäusserungen zu verbieten.» Doch die einzelnen Länder sollten planen, um in einer Krise angemessen und effektiv informieren zu können. Eine Gefährdung der Souveränität sieht sie nicht: «Die Staaten sind souverän, sie können den Pandemievertrag und die Gesundheitsvorschriften selber gestalten und sie dann annehmen oder ablehnen.» Es sei wahrscheinlich, dass die Regeln noch geändert würden. Zudem hätte die WHO keine Sanktionsmöglichkeit, wenn sich Staaten nicht an die Vorgaben halten.
Die Schweiz ist offenbar mit dem WHO-Vorschlag für die neuen IGV nicht einverstanden. Das BAG schreibt auf seiner Internetseite, es sei von zentraler Bedeutung, «dass Reichweite und Geltungsbereich der Vorschriften unverändert bleiben». Zudem müsse der Verweis auf die Grundfreiheiten in den Vorschriften beibehalten werden.