Zivilprozessrecht
Klagebewilligung gilt nicht für den Widerkläger
Ein Widerkläger kann nicht gestützt auf die Klagebewilligung des Klägers an das Gericht gelangen. Die Klagebewilligung wird hinfällig, wenn der Hauptkläger die Frist zur Einreichung der Klage ungenutzt verstreichen lässt.
Sachverhalt:
Eine Mieterin aus dem Kanton Luzern klagte gegen den Hauseigentümer. Dieser erhob Widerklage. Eine Einigung kam nicht zustande und die Schlichtungsbehörde erteilte der Mieterin die Klagebewilligung. Diese gelangte nicht vor Gericht. Der Eigentümer erhob hingegen Klage beim Bezirksgericht und forderte einen Betrag von über 20 000 Franken. Die Mieterin wehrte sich vor dem zuständigen Bezirksgericht, eine Widerklage könne nicht selbständig ans Gericht gezogen werden. Das Bezirksgericht und das Kantonsgericht Luzern traten trotzdem auf die Klage ein. Erst das Bundesgericht kippte den Entscheid.
Aus den Erwägungen:
2. Umstritten ist, ob die Widerklägerin gestützt auf die der Hauptklägerin ausgestellte Klagebewilligung unabhängig von der Hauptklägerin ans Gericht gelangen kann oder ob die Klagebewilligung hinfällig wird, wenn die Hauptklägerin die Frist zur Klageeinreichung unbenutzt verstreichen lässt. Das Bundesgericht hat diese Frage bis anhin offen gelassen (Urteil 4A_499/2013 vom 4. Februar 2014, E. 2.3).
2.1 In der Literatur wird die Frage unterschiedlich beantwortet.
2.1.1 Einige Autoren gehen davon aus, die Schlichtungsbehörde müsse auch dem Widerkläger eine Klagebewilligung ausstellen bzw. dieser müsse auch dann (gestützt auf die dem Hauptkläger ausgestellte Klagebewilligung) an das Gericht gelangen können, wenn der Hauptkläger die Frist für die Klageeinleitung unbenutzt verstreichen lasse.
2.1.2 Ein anderer Teil ist der Auffassung, dem Widerkläger werde keine separate Klagebewilligung ausgestellt, weil seine Klage abhängig sei von jener des Hauptklägers. Erhebe der Hauptkläger keine Klage beim Gericht, entfalle auch die Rechtshängigkeit der bereits im Schlichtungsverfahren erhobenen Widerklage. Es stehe dem Beklagten jedoch frei, anstelle einer Widerklage eine eigenständige Klage anzuheben, indem er zuvor schriftlich oder anlässlich der Schlichtungsverhandlung mündlich (Art. 202 Abs. 1 ZPO) ein Schlichtungsgesuch stelle.
2.1.3 Gespalten ist auch die kantonale Praxis. Während das Obergericht des Kantons Zürich der zweiterwähnten Auffassung folgte (Urteil vom 7. Juli 2017 [PD170005]), entschied das Kantonsgericht Waadt wie die Vorinstanz im Sinne der ersterwähnten Lehrmeinungen (Urteil vom 17. Oktober 2018 [2018/587], in: JdT 2019 III 76 ff.).
2.2 Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen (grammatikalische Auslegung). Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 146 III 217, E. 5; 145 III 324, E. 6.6 mit Hinweisen).
2.2.1 Der Wortlaut spricht für die zweitgenannte Auffassung. Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO nennt den Widerkläger nicht als Adressaten der Klagebewilligung, sondern die «klagende Partei» bzw. – deutlicher noch in der französischen und italienischen Fassung – den «demandeur» bzw. den «attore». Auch in der Botschaft ist nur davon die Rede, dass der «klagenden Partei» die Klagebewilligung erteilt werde, welche die klagende Partei ermächtige, nun an das urteilende Gericht zu gelangen.
Entgegen der Vorinstanz kann nicht gesagt werden, die Formulierung «klagende Partei» umfasse auch die Widerklägerin, weil es sich auch bei dieser um eine klagende Partei handle. Die zwingend vorgeschriebene Erwähnung der Widerklage in der Klagebewilligung besagt nichts Gegenteiliges. Das Gesetz geht davon aus, dass die Klagebewilligung im Grundsatz anlässlich der Schlichtungsverhandlung oder kurz danach ausgestellt wird. Jedenfalls in diesem Zeitpunkt existiert sowohl eine «klagende Partei» wie auch eine «widerklagende Partei», und es ist nicht ersichtlich, wie diese sich unterscheidenden Parteien unter den gleichen Begriff subsumiert werden können.
2.2.3 Vor allem wird geltend gemacht, es sei nicht logisch, dass die Widerklage gemäss Art. 62 Abs. 1 ZPO zwar rechtshängig werde, dann aber ohne Einreichung der Hauptklage nicht fortgeführt werden könne. Ein solches Verständnis hätte für den Widerkläger nur Nachteile, könne er doch während der dreimonatigen Frist zufolge der Sperrwirkung der Rechtshängigkeit seiner Widerklage seine Ansprüche nicht sonstwie einklagen, was bei Ablauf peremptorischer Fristen in diesem Zeitraum zu einem Rechtsverlust führen könne. Da der Widerkläger ja nicht gezwungen sei, seine Widerklage bereits im Schlichtungsverfahren einzubringen, gehe es bei der Erwähnung der Widerklage eben darum, ihm die selbständige Fortführung des Prozesses zu ermöglichen. Dies überzeugt deshalb nicht, weil der Widerkläger seine Widerklage bei gescheiterter Schlichtung zurückziehen kann, ohne die Folgen von Art. 65 ZPO befürchten zu müssen, und sie später – wenn der Kläger seine Klage prosequiert hat – im Rahmen der Klageantwort einreichen kann. Es steht ihm auch offen, von Anfang an ein eigenes Schlichtungsverfahren einzuleiten.
Somit ist das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und auf die Widerklage nicht einzutreten.
Bundesgericht, Urteil 4A_437/2021 vom 25.3.2022
Schuldbetreibung
Rechtsöffnung: Abweisung benötigt glaubhaften Einwand
Die blosse Behauptung des nicht gehörig erfüllten Vertrags genügt entgegen der sogenannten Basler Rechtsöffnungspraxis zur Entkräftung der Schuldanerkennung gemäss Artikel 82 SchKG nicht.
Sachverhalt:
Ein Schuldner aus dem Kanton St. Gallen behauptet im Rechtsöffnungsverfahren, der Gläubiger habe die vertragliche Gegenleistung nicht erbracht. Daher zahle er das Entgelt nicht. Dem Kantonsgericht St. Gallen reicht eine blosse Behauptung, die Gegenleistung sei nicht erbracht worden, jedoch nicht. Der Schuldner müsste zumindest glaubhaft machen, dass der Gläubiger, seine Vertragspflicht nicht erbracht hat.
Aus den Erwägungen:
b) Die Basler Rechtsöffnungspraxis zur Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung für in wesentlich zweiseitigen, synallagmatischen Verträgen enthaltene Schuldanerkennungen, auf welche die Vorrichterin ihren Entscheid massgeblich stützt, besagt, dass provisorische Rechtsöffnung erteilt werden kann, wenn der Schuldner vorleistungspflichtig ist, wenn er nicht behauptet, die Gegenleistung sei nicht oder nicht ordnungsgemäss erbracht worden, oder wenn er dies zwar behauptet, seine Behauptung aber offensichtlich haltlos ist oder aber vom Gläubiger sofort liquide entkräftet wird.
Sie ist zwar weit verbreitet, allerdings nicht unumstritten: Der Umstand, dass der nicht vorleistungspflichtige Schuldner die Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung für die von ihm an sich anerkannte Schuld allein mit der blossen Behauptung der vom Gläubiger nicht gehörig erbrachten Gegenleistung verhindern kann, steht nämlich in einem gewissen Widerspruch zu Art. 82 Abs. 2 SchKG, wonach der Richter die provisorische Rechtsöffnung erteilt, sofern der Betriebene nicht Einwendungen, welche die Schuldanerkennung entkräften, sofort glaubhaft macht, wobei für diese Glaubhaftmachung eine mehr oder weniger glaubwürdige Behauptung nicht genügt, sondern im Sinne überwiegender Wahrscheinlichkeit in tatsächlicher Hinsicht mehr für als gegen die Begründetheit der Einwendung sprechen muss. Das Bundesgericht hat sich, soweit ersichtlich, bislang lediglich punktuell und mit einer gewissen Zurückhaltung geäussert, wobei sich seine Rechtsprechung in dem Sinne zusammenfassen lässt, dass es für die Einrede der Nichterfüllung mit der Begründung, diese betreffe die Qualität der Vereinbarung als Schuldanerkennung i.S.v. Art. 82 Abs. 1 SchKG und falle nicht unter den Begriff der Einwendungen i.S.v. Art. 82 Abs. 2 SchKG, die blosse Behauptung im Sinne der Basler Rechtsöffnungspraxis genügen lässt, während es in Bezug auf die Einrede der (qualitativ oder quantitativ) nicht gehörigen Erfüllung Glaubhaftmachung i.S.v. Art. 82 Abs. 2 SchKG zu verlangen scheint.
Man kann sich fragen, ob die Unterscheidung zwischen den Fällen der Nicht- und denjenigen der nicht gehörigen Erfüllung sachgerecht ist, ist doch, vorbehaltlich spezieller Regelungen wie namentlich der kauf- oder werkvertraglichen Gewährleistungsvorschriften die Grundlage für das Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners in Art. 82 OR zu erblicken, der diese Unterscheidung gerade nicht trifft, was dafür sprechen könnte, in jedem Fall Glaubhaftmachung zu verlangen.
Will man dies mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGE 145 III 20, E. 4.3.2) nicht tun, dann erscheint jedenfalls in Bezug auf die nicht gehörige Erfüllung angezeigt, nicht einfach eine blosse Behauptung genügen zu lassen, sondern das Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners von der Glaubhaftmachung der nicht gehörigen Erfüllung abhängig zu machen und so dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Gläubiger an sich über eine Schuldanerkennung verfügt und das Rechtsöffnungsverfahren nicht dazu dient, über materiellrechtliche Fragen zu entscheiden.
Danach muss, wer bei einem zweiseitigen Vertrag den andern zur Erfüllung anhalten will, entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach Inhalt oder Natur des Vertrages erst später zu erfüllen hat (zur Gleichsetzung der Erfüllung bzw. des Erfüllungsangebots mit der gehörigen Erfüllung bzw. dem Angebot zur ordnungsgemässen Erfüllung vgl. BSK OR I Schroeter, 7. Aufl., Art. 82 N 43).
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid BES.2021.26 vom 4.1.2022
Strafprozessrecht
Obergericht Schaffhausen senkt Entschädigungen
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen schafft bei der Bemessung der Parteientschädigung die sogenannte Seitenpauschale ab. Zudem kürzt das Gericht die Ansätze für Kopien, da der Schaffhauser Tarif im interkantonalen Vergleich hoch sei.
Sachverhalt:
Das Kantonsgericht Schaffhausen sprach einen Beschuldigten frei und entschädigte ihn für die Verteidigung pauschal mit 10 000 Franken statt den geforderten 27 188.85 Franken. Dagegen erhob der Freigesprochene erfolgreich Berufung vor Obergericht. Das Kantonsgericht sprach ihm darauf 12 848.35 Franken gut. Der Beschuldigte ging ein zweites Mal vor Obergericht und beantragte eine Parteientschädigung von Fr. 21 876.95. Neben dem nur teilweise berücksichtigten Zeitaufwand rügte er insbesondere die durch das Kantonsgericht vorgenommene Kürzung der geltend gemachten Seitenpauschale von 15 auf 10 Franken sowie der Kopierkosten von 2 auf 1 Franken pro Seite. Das Obergericht hiess die Berufung teilweise gut und sprach ihm letzten Endes eine Parteientschädigung von 18 088.05 Franken zu.
Aus den Erwägungen:
3.4 Der Entscheid über die Höhe der Parteientschädigung muss grundsätzlich nicht begründet werden. Eine Ausnahme besteht namentlich dann, wenn das Gericht die Parteientschädigung abweichend von der Honorarnote der anwaltlichen Vertretung auf einen bestimmten, nicht der üblichen praxisgemäss gewährten Entschädigung entsprechenden Betrag festsetzt. In einem solchen Fall kann nicht mehr davon gesprochen werden, der Anwalt vermöge die Überlegungen, die das Gericht zu einem solchen Entschädigungsentscheid führten, auch ohne Begründung zu erkennen. Diesfalls hat das Gericht insbesondere nachvollziehbar darzulegen, aus welchen Gründen es nicht auf die Honorarnote abstellt.
6.1.2 Der Beschuldigte hält zu Recht fest, dass die Gerichte im Kanton Schaffhausen bislang die Vergütung einer sogenannten Seitenpauschale von 10 bis 15 Franken als Abgeltung für den Aufwand von Sekretariatspersonal akzeptiert haben, sofern diese aus der Honorarvereinbarung hervorgeht. Dabei handelt es sich soweit ersichtlich um eine schweizweit einmalige Praxis, zumal andernorts der Aufwand von Sekretariatspersonal als bereits im Stundenansatz inbegriffen gilt. Mit der Seitenpauschale sollte ursprünglich der aus dem Diktieren von Rechtsschriften und Korrespondenz entstehende Aufwand von Sekretariatspersonal abgegolten werden. Nachdem das Schreiben nach Diktat kaum mehr praktiziert wird, erscheint die Berücksichtigung einer Seitenpauschale nicht mehr zeitgemäss. Bei den aktuellen Ausfertigungstechniken schriftlicher Eingaben und von Korrespondenz stellt die Anzahl Seiten denn auch kaum mehr ein taugliches Kriterium für den anfallenden Sekretariatsaufwand dar, zumal die Spesen für das reine Ausdrucken in der Regel zusätzlich in Rechnung gestellt werden. Fehlt es nach dem Gesagten an tatsächlich anfallenden konkreten Auslagen, die durch die Vergütung einer Seitenpauschale zu entschädigen wären, besteht keine Grundlage mehr für die Berücksichtigung einer Seitenpauschale. Diese stellt vielmehr einzig eine faktische – versteckte – Erhöhung des Stundenansatzes dar. Vor diesem Hintergrund kann an der bisherigen Praxis des Obergerichts, im Rahmen der Parteientschädigung bei den Barauslagen auch eine vereinbarte Seitenpauschale zu berücksichtigen, nicht festgehalten werden.
6.3.1 Der vom Kantonsgericht berücksichtigte Ansatz von 1 Franken pro kopierter bzw. ausgedruckter Seite entspricht der bisherigen Praxis des Obergerichts. Der Beschuldigte führt nicht aus, inwiefern ihm tatsächlich höhere Kosten als 1 Franken pro Seite angefallen sein sollten. Auch ist nicht ersichtlich, weshalb bei einem frei gewählten Verteidiger höhere Kosten für das Anfertigen von Kopien entstehen sollten als bei einem amtlichen Verteidigungsmandat.
6.3.2 Zu prüfen bleibt, ob an der bisherigen obergerichtlichen Praxis festzuhalten ist. Die Geschwindigkeit der Kopiergeräte hat mit den technischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen und die Gestehungskosten, welche für eine Kopie anfallen, sind deutlich gesunken. Dies zeigt sich auch dadurch, dass der Ansatz von 1 Franken ein Vielfaches des Tarifs beträgt, den – gewinnorientierte – Kopiercenter verlangen. Hinzu kommt, dass der pauschale Ansatz von 1 Franken pro kopierter oder ausgedruckter Seite im interkantonalen Vergleich hoch erscheint (St. Gallen: 30 Rappen pro Seite und 0 Franken für Kopien eigener Eingaben bzw. Pauschale von 4 Prozent für alle Barauslagen [Art. 28 f. der Honorarordnung vom 22. April 1994, sGS 963.75]; Appenzell Innerrhoden: 30 Rappen pro Seite und 0 Franken für Kopien eigener Eingaben [Art. 28 der Verordnung über die Honorare der Anwälte, GS 177.410]; Bern: 40 Rappen pro Seite bei amtlicher Verteidigung [Kreisschreiben Nr. 15 des Obergerichts Bern über die Entschädigung der amtlich bestellten Anwältinnen und Anwälte und Nachforderungsrecht, Ziff. 3.3]; Thurgau: 50 Rappen pro Seite bis 99 Kopien, 20 Rappen ab 100 Seiten sowie 10 Rappen ab 1000 Seiten [RBOG 2011 Nr. 34]; Aargau: 50 Rappen pro Seite [§ 13 Abs. 3 des Dekrets über die Entschädigung der Anwälte vom 10. November 1997, SAR 291.150]; Solothurn: 50 Rappen pro Seite [§ 158 Abs. 5 sowie § 160 Abs. 5 des Gebührentarifs vom 8. März 2016, BGS 615.11]; Zürich: 50 Rappen pro Seite [vgl. etwa OGer ZH SU170039 vom 24. April 2018, E. VI/2.4]; Appenzell Ausserrhoden: 70 Rappen pro Seite und 0 Franken für Kopien eigener Eingaben [Art. 22 der Verordnung über den Anwaltstarif vom 14. März 1995, bGS 145.53]; Baselland: Fr. 1.50 pro Seite bzw. 50 Rappen pro Seite bei Massenkopien [§ 15 der Tarifordnung für die Anwältinnen und Anwälte vom 17. November 2003, SGS 178.112]; Basel-Stadt: Pauschale von maximal 3 Prozent für ordentliche Auslagen [§ 23 Abs. 1 des Reglements über das Honorar und die Entschädigung der berufsmässigen Vertretung im Gerichtsverfahren vom 16. Juni 2020, SG 291.400]; Freiburg: Pauschale von 5 Prozent für Kopien, Portos und Telefonate [Art. 58 Abs. 2 und Art. 68 Abs. 2 des Justizreglements vom 30. November 2010, SGF 130.11]; davor 40 Rappen pro Seite [vgl. etwa KG FR 501 2014 169 vom 22. Juni 2015, E. 3b]).
Barauslagen bezwecken einzig, tatsächlich angefallene Kosten abzudecken. Sie dürfen nicht dazu dienen, zulasten der Klienten oder des Staats zusätzliche Gewinne zu erzielen, auch wenn gewisse Pauschalierungen zulässig sind. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als notwendig, die obergerichtliche Praxis zur Entschädigung von Kosten für Kopien zu überdenken und zeitgemäss auszugestalten. Angemessen erscheint heutzutage die Anwendung eines Ansatzes von höchstens 30 Rappen pro kopierter Seite. Keine separate Entschädigung ist in der Regel für das reine Ausdrucken eigener Eingaben sowie Korrespondenz (samt Beilagen) zuzusprechen, dies gilt mit dem Stundenhonorar als abgegolten.
Obergericht Schaffhausen, Entscheid OGE 50/2021/19 vom 22.3.2022.
Anwaltsgesetz
Keine Vertretung durch Sekretärin an Einvernahme
Ein Verteidiger muss an Einvernahmen persönlich teilnehmen. Sonst übt er den Anwaltsberuf nicht mit der gebotenen Sorgfalt aus.
Sachverhalt:
Der disziplinarbeklagte Anwalt hat sich bei der zweiten polizeilichen Einvernahme des Opfers in einem Strafverfahren, in dem er als notwendiger Verteidiger der beschuldigten Person eingesetzt worden ist, durch seine juristisch nicht ausgebildete Sekretärin vertreten lassen. Dadurch hat er die Berufsregeln verletzt.
Aus den Erwägungen:
5. In der Berufspflicht des Art. 12 lit. g BGFA, amtliche Verteidigungen und im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege Rechtsvertretungen zu übernehmen, ist die Pflicht mitenthalten, solche Mandate nach bestem Wissen und Gewissen zu führen. Der Anwalt hat diese Aufträge daher trotz allenfalls geringerer Honorierung mit der gleichen Sorgfalt zu behandeln wie andere Aufträge. Er darf die Interessen dieser Klienten nicht wissentlich geringer wahren als die Interessen der voll zahlenden Klienten.
10. Die Substitution ist jedoch auch für Teile des Auftrages ohnehin nur dann zulässig, wenn der Substitut ausreichend qualifiziert ist und über den notwendigen Befähigungsausweis verfügt (vgl. BSK OR I- Oser/Weber, Art. 398 N 5).
11. So ist eine Substitution zwar grundsätzlich zulässig, bei amtlich bestellten Anwältinnen und Anwälten bedarf sie jedoch der Zustimmung des Gerichts oder der verfahrensleitenden Behörde (Art. 8 Abs. 2 KAG).
14. Verletzung von Art. 12 lit. g BGFA im vorliegenden Fall: In seiner Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft sowie in den Stellungnahmen an die Anwaltsaufsichtsbehörde des Kantons Bern macht der Disziplinarbeklagte geltend, die Vertretung durch seine Mitarbeiterin sei mit der beschuldigten Person abgesprochen und der Kantonspolizei als einvernehmende Behörde telefonisch sowie per E-Mail mitgeteilt worden. Die Kanzleimitarbeiterin des Disziplinarbeklagten sei denn auch auf der Vertretungsvollmacht aufgeführt und somit von der beschuldigten Person bevollmächtigt gewesen. In der Stellungnahme vom 14. April 2021 weist der Disziplinarbeklagte darauf hin, dass er die Verfahrensleitung telefonisch zu erreichen versucht habe, um eine Zustimmung nach Art. 8 Abs. 2 KAG zu erhalten. Er sei dabei aber nur mit dem Sekretariat verbunden worden und der erbetene Rückruf sei ausgeblieben. Weitere Bemühungen zur Einholung einer Zustimmung durch die Staatsanwaltschaft als verfahrensleitende Behörde hat der Disziplinarbeklagte nicht unternommen.
16. Der Disziplinarbeklagte anerkennt, dass es für die Ermächtigung zur Parteivertretung an Praktikantinnen und Praktikanten einer Zustimmung der verfahrensleitenden Behörde bedarf (Art. 8 Abs. 2 KAG). Wie der Disziplinarbeklagte aber selbst vorbringt, wurde eine solche Genehmigung nie erteilt. Sie hätte indes ohnehin nicht erteilt werden können: Bei Praktikanten handelt es sich um Juristinnen und Juristen mit abgeschlossenem Studium, welche die für die Anwaltsprüfung verlangte praktische Ausbildung vermittelt bekommen (Art. 8 Abs. 1 KAG). Die Kanzleimitarbeiterin hätte deshalb ohnehin nicht nach der Bestimmung von Art. 8 Abs. 2 KAG zur Parteivertretung ermächtigt werden können.
19. Aus dem Gesagten folgt, dass der Disziplinarbeklagte eine Berufsregelverletzung begangen hat, indem er eine nicht bevollmächtigungsfähige Person eingesetzt hat, eine Handlung vorzunehmen, zu der er persönlich verpflichtet gewesen wäre. Durch sein Unterlassen hat er die Berufspflicht des Art. 12 lit. g BGFA verletzt.
23. Verletzung von Art. 12 lit. a BFGA im vorliegenden Fall: Der Disziplinarbeklagte argumentiert in seinen Stellungnahmen nebst dem Umstand, dass seine Mitarbeiterin bevollmächtigt gewesen sei, wiederholt damit, dass es bei der Einvernahme des Opfers um die Ermittlung des Sachverhalts gegangen sei. Dabei sei zu bedenken, dass insbesondere bei Sexualdelikten oftmals nicht rechtliche, sondern tatsächliche Fragestellungen strittig seien. Weiter macht der Disziplinarbeklagte geltend, dass durch die Teilnahme seiner Mitarbeiterin an der Einvernahme des Opfers für die Strategiefindung der Verteidigung ein «Mehrwert» geschaffen worden sei.
24. Gerade wenn der Disziplinarbeklagte die Sachverhaltsermittlung bei Sexualdelikten als so zentral betrachtet, kann er sie nicht an eine andere Person delegieren, welche zudem nicht zur Ausführung dieser Tätigkeit befugt ist. Tut er dies dennoch, übt er den Anwaltsberuf nicht mit der gebotenen Sorgfalt aus.
25. Vorliegend ist von einem groben Fehlverhalten auszugehen, weil der Disziplinarbeklagte seine auftragsrechtliche Sorgfaltspflicht in grober Weise verletzt, indem er die Ausführung der beauftragten Tätigkeiten nicht persönlich ausgeführt hat, obwohl dafür eine persönliche Erfüllungspflicht bestand. Er war weder zur Übertragung an seine nicht juristisch ausgebildete Sekretärin ermächtigt, noch war er durch die Umstände dazu genötigt.
26. Aus dem Gesagten folgt, dass der Disziplinarbeklagte durch sein Handeln auch Art. 12 lit. a BGFA verletzt hat.
Obergericht Bern, Entscheid AA 2021 87 vom 19.1.2022
Ausländerrecht
Ausschaffungshaft in normalem Gefängnis nicht zulässig
Administrativhäftlinge müssen in speziell dafür konzipierten Einrichtungen festgehalten werden. Ein Gefängnis für Untersuchungshaft oder Strafvollzug kommt dafür nicht in Frage.
Sachverhalt:
Das Staatssekretariat für Migration wies das Asylgesuch eines 32-jährigen Iraners ab und forderte ihn auf, die Schweiz zu verlassen. Den gebuchten Rückflug für eine freiwillige Rückkehr in den Iran trat der Mann nicht an. Eine unbegleitete Rückführung scheiterte später unter anderem daran, dass er sich weigerte, den erforderlichen Covid-19-PCR-Test durchführen zu lassen. Daraufhin nahm das Amt für Arbeit und Migration des Kantons Uri den Iraner Ende Januar 2021 in Ausschaffungshaft, welche das Landgerichtspräsidium Uri als Zwangsmassnahmengericht bis längstens zum 26. April 2021 genehmigte. Dagegen wehrte sich der Betroffene vor Obergericht.
Aus den Erwägungen:
4.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Haftregime sei rechtswidrig. Er sei im Untersuchungs- und Strafgefängnis Stans untergebracht. Dieses diene dem Vollzug von Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Eine von aussen klar erkennbare, räumliche Trennung der aus administrativen Gründen festgehaltenen Personen von strafprozessual Inhaftierten fehle.
4.2 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat die Festhaltung von Administrativhäftlingen in speziell hierfür konzipierten Einrichtungen zu erfolgen, deren Haftbedingungen und baulichen Elemente generell unterstreichen, dass die Festhaltung administrativer Natur ist und in keinem Zusammenhang mit einem Strafvollzug oder einer Untersuchungshaft steht. Die Zulässigkeit einer separaten Festhaltung in einem besonderen Trakt eines Regionalgefängnisses kann nur im Bereich weniger Stunden oder Tage liegen (BGE 146 II 214, E. 6.2.2). Es müssen jeweils berechtigte, wesentliche und überwiegende Gründe vorliegen, soll ausnahmsweise die Haft nicht in einer speziellen Hafteinrichtung erfolgen (BGE 146 II 215, E. 6.2.2). Der Grund für die Unterbringung in einer separaten Abteilung eines normalen Gefängnisses und nicht in einer speziellen Einrichtung ist in der Haftverfügung sachgerecht zu begründen, damit der Haftrichter die angegebenen Gründe im Hinblick auf die Zulässigkeit der Haft und der erforderlichen Haftbedingungen überprüfen kann. Die wichtigen Gründe und die konkreten Abklärungen bezüglich der Unterbringung der ausreisepflichtigen Person sind in der Haftverfügung nachvollziehbar darzutun und zu belegen (BGE 146 II 216, E. 8).
4.3 Das Vorgehen der Migrationsbehörden im vorliegenden Fall genügt diesen Anforderungen nicht. Das dem Gericht notorisch bekannte Untersuchungs- und Strafgefängnis Stans ist zweifellos keine spezielle Einrichtung im Sinne der dargelegten Rechtsprechung, woran nichts ändert, dass das Gefängnis separate Zellen für Administrativhäftlinge unterhält. Die administrative Festhaltung in einer Einrichtung wie dem Untersuchungs- und Strafgefängnis Stans könnte somit nur für eine relativ kurze Dauer und bei Vorliegen von besonderen Gründen erfolgen. Diese Gründe wären in der Haftverfügung und dem Haftprüfungsentscheid näher darzulegen respektive zu prüfen. Im konkreten Fall sind solche Gründe weder in der Haftverfügung dargelegt noch im angefochtenen Haftprüfungsentscheid geprüft worden und solche Gründe sind auch nicht ersichtlich. Es ist überdies auszuschliessen, dass der Beschwerdeführer nur für wenige Tage im Untersuchungs- und Strafgefängnis Stans verweilte respektive verweilen sollte. Vielmehr ist offensichtlich angedacht, dass der Beschwerdeführer seine ganze dreimonatige Haftdauer im Gefängnis Stans verbringen soll. Solches sprengt den Rahmen zulässiger administrativer Unterbringung in einem gewöhnlichen Strafgefängnis.
5. Nach dem Gesagten kann die Haft nicht wie angeordnet längstens bis zum 26. April 2021 im Untersuchungs- und Strafgefängnis Stans erfolgen. Indessen führt ein ungenügender Haftvollzug nicht ohne Weiteres zur Haftentlassung, wenn – wie vorliegend – die gesetzlichen Voraussetzungen für die Haft ansonsten erfüllt sind. Vielmehr haben die Vollzugsbehörden umgehend zu prüfen, ob durch eine Verlegung, allenfalls in eine andere ausserkantonale Vollzugseinrichtung, ohne Verzug für Abhilfe gesorgt werden kann. Sollte dies nicht möglich sein, wäre der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen.
Die Zustimmung zur Anordnung der Ausschaffungshaft ist mit der Auflage zu erteilen, dass die Haftbedingungen sofort, spätestens aber innert fünf Tagen ab Zustellung des vorliegenden Urteils, im Sinne der Erwägungen angepasst wrden.
Obergericht Uri, Entscheid OG V 21 10 vom 17.3.2021
Verwaltungsrecht
Spital muss Einsicht in die Patientenakte des Ehegatten geben
Einige Kantone verweigern Ehegatten von Verstorbenen Einsicht in deren Krankenakten mit der Begründung, der Persönlichkeitsschutz der verstorbenen Person gehe vor. Das Verwaltungsgericht St. Gallen wich von dieser Praxis ab. Die Spitalärzte hätten die Witwe nicht ausreichend über die Todes- umstände ihres Mannes informiert.
Sachverhalt:
Ein Mann starb im Kantonsspital St. Gallen. Seine Witwe forderte Einblick ins Patientendossier. Die Ärzte baten das Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen um Entbindung vom Arztgeheimnis. Das Departement verweigerte dies. Der Persönlichkeitsschutz des Verstorbenen gehe dem Interesse der Witwe vor. Das Verwaltungsgericht St. Gallen gab aber der Witwe recht: Die Ärzte hätten die Frau nicht zufriedenstellend über die Todesumstände informiert. Die Angehörige könne eine Fehlbehandlung nicht ausschliessen. Deshalb müsse sie Einblick ins Patientendossier erhalten.
Aus den Erwägungen:
2.3 Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin legt dar, dass er Vertrauensanwalt der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO) sei und die medizinischen Unterlagen benötigt würden, damit diese an die SPO St. Gallen zwecks Vorabklärung weitergeleitet werden könnten.
3.1 Im Rahmen der Interessenabwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass das Berufsgeheimnis an sich ein gewichtiges Rechtsgut ist. Das Interesse an der Ermittlung der materiellen Wahrheit stellt nicht per se ein überwiegendes Interesse dar. Inwieweit und wem Auskunft gegeben werden soll, wird durch die zuständige Behörde bestimmt. Dabei soll eine Befreiung grundsätzlich nur so weit gehen, als es im konkreten Fall, unter Berücksichtigung der Geheimsphäre des Geheimnisherrn, notwendig ist.
Nach der Rechtsprechung kann beispielsweise eine Entbindung des Arztes vom Berufsgeheimnis bewilligt werden, wenn es darum geht, seine eigenen Forderungen gegenüber Patienten durchzusetzen oder umgekehrt Schadenersatzforderungen von Patienten abzuwehren (BGer 2C_15/2015 vom 16. Juni 2016, E. 5.2). Abgelehnt wurde die Entbindung vom Arztgeheimnis im Falle von Erben, die Einsicht in die Krankengeschichte ihrer verstorbenen Eltern nehmen wollten, ohne dass ein unmittelbarer Zusammenhang zu einem hängigen zivilrechtlichen Verfahren bestanden hätte.
3.2 Die noch vor Erlass der angefochtenen Verfügung erfolgten Darlegungen des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin vom 7. Juli 2021 blieben im vorliegenden Verfahren unbestritten. Sie machen es nachvollziehbar, dass für die Angehörigen aufgrund der im Spital erhaltenen ärztlichen Auskünfte die Umstände des Todes von K. sel. nicht zufriedenstellend erklärt waren und sie eingehender betreffend die von ihnen dort formulierten drei Fragestellungen informiert werden wollten. Es lagen mithin Anhaltspunkte vor, aufgrund derer die Angehörigen eine Fehlbehandlung nicht ohne Weiteres ausschliessen konnten. All dies macht – wie auch die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung anerkennt – grundsätzlich ein privates Interesse der Beschwerdeführerin an einer Entbindung der Beschwerdebeteiligten von ihrem Berufsgeheimnis plausibel.
Die (in der Regel bei Gesuchstellern und so auch bei der Beschwerdeführerin nicht gegebene) Fähigkeit, aufgrund der Krankengeschichte das Bestehen eines Behandlungsfehlers selber beurteilen zu können, stellt als solche keine zusätzliche Voraussetzung für die Entbindung der Beschwerdebeteiligten vom Berufsgeheimnis dar. Indes ermöglicht der Beizug einer Patientenorganisation/Begutachtungsstelle durch die gesuchstellende Person, das private Interesse der letzteren an der Entbindung vom Berufsgeheimnis anhand der Meinung einer spezialisierten Fachstelle zu verifizieren.
Ob die gestützt auf eine Berufsgeheimnisentbindung zu erteilenden Informationen tatsächlich für die Klärung des Vorliegens einer allfälligen Fehlbehandlung benötigt werden, kann eine solche Fachstelle in aller Regel besser einschätzen als die gesuchstellende Person. Mit der Vorinstanz ist festzuhalten, dass von der gesuchstellenden Person die Vornahme konkreter Schritte zur Prüfung eines Behandlungsfehlers nachzuweisen sind. Von daher erscheint es gerechtfertigt, die vorgängige Konsultation einer Fachstelle/Begutachtungsstelle im erwähnten Sinn für die Berufsgeheimnisentbindung vorauszusetzen, wie dies die Vorinstanz auch in der angefochtenen Verfügung tat.
Im Weiteren weist die Vorinstanz zu Recht darauf hin, dass die Herausgabe der vollständigen Krankenakten an Angehörige insofern problematisch ist, als die Akten dadurch den vom Berufsgeheimnis geschützten Bereich verlassen. Daher sind die Akten nach Möglichkeit direkt einer begutachtenden Stelle oder dem behandelnden Arzt der gesuchstellenden Person zuzustellen, zumal Letztere – wie erwähnt – oftmals nicht in der Lage sein dürfte, die Akten inhaltlich zu verstehen und zu interpretieren.
3.3 Wie dargelegt war im Zeitpunkt der Gesuchstellung und des Erlasses der angefochtenen Verfügung grundsätzlich zwar vom Bestehen eines plausiblen Interesses der Beschwerdeführerin an einer Bekanntgabe von Informationen aus den Krankenakten ihres verstorbenen Ehemannes bzw. einer entsprechenden Einsichtnahme auszugehen. Jedoch waren in jenem Zeitpunkt der Adressat der medizinischen Akten und konkret beabsichtigte weitere Vorkehren – diese sind für die Interessensprüfung ebenfalls relevant – nicht im Einzelnen bekannt. Der Umstand, dass die Beschwerdebeteiligten dem Gesuch um Entbindung von ihrem Berufsgeheimnis zustimmten, ersetzt das Erfordernis einer zureichenden Begründung für die Entbindung vom Berufsgeheimnis nicht.
Fest steht diesbezüglich, dass der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin erst in der Beschwerdeschrift auf seine Stellung als Vertrauensanwalt der SPO hinwies, obschon ein solcher Hinweis bereits im Schreiben an die Vorinstanz vom 7. Juli 2021 hätte erfolgen können. Aus der Stellungnahme vom 7. Juli 2021 geht auch nicht hervor, dass das Mandat des Rechtsvertreters die Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegenüber den Beschwerdebeteiligten beziehungsweise deren Arbeitgeberin umfasst. So bezieht sich die Vollmacht vom 30. Juni 2021 ausschliesslich auf die Interessenwahrung in Sachen «K. sel., Entbindung Berufsgeheimnis». Allein der Umstand, dass die Beschwerdeführerin als Erbin grundsätzlich legitimiert ist, entsprechende Haftungsansprüche geltend zu machen, belegt noch keine diesbezügliche Auftragserteilung an den Rechtsvertreter und insbesondere nicht konkret getroffene Vorkehren in diese Richtung.
Nachdem zwischenzeitlich – wie auch die Vorinstanz anerkennt – das private Interesse der Beschwerdeführerin an der Entbindung von der Geheimhaltungspflicht in der Beschwerde zureichend dargetan wurde und dieses das Geheimhaltungsinteresse überwiegt, lässt sich die angefochtene Verfügung, welche das Entbindungsgesuch abwies, nicht (mehr) aufrechterhalten.
Die Beschwerde ist somit in dem Sinne gutzuheissen, dass die Beschwerdebeteiligten bezüglich der Spitalbehandlung von K. sel. in der Zeit vom 8. bis 10. Mai 2021 von ihrem Berufsgeheimnis zu entbinden sind und der SPO Patientenorganisation St. Gallen die Einsicht in die Krankenakten zu gewähren ist.
Verwaltungsgericht St. Gallen, Urteil B 2021/172 vom 8.2.2022